Vier Wochen Ballett am Stück John Neumeier präsentiert die Hamburger Ballett-Tage 2023 als Mega-Festival

Hier tanzen Jacopo Bellussi und Emilie Mazon die Titelfiguren „Romeo und Julia“ in der Inszenierung von John Neumeier beim Hamburg. Das Foto stammt von Kiran West.

Lassen wir die Zahlen sprechen: 22 Ballett-Produktionen, 2 Gastspieltruppen, 2 unterschiedliche Galas und 6 Kino-Events sind während der 48. Hamburger Ballett-Tage zu sehen. John Neumeier hat diese Jubiläumsausgabe in seiner 50. Saison akribisch geplant – und lässt vier Wochen lang am Stück zwar nicht die Puppen, aber die Tänzerinnen und Tänzer tanzen! Bei jeder anderen Company würde man sich Sorgen machen müssen, ob die Solisten und das Ensemble so etwas wohl unbeschadet durchhalten. Aber das Hamburg Ballett ist so tanzwütig wie keine andere Truppe – und freut sich auf das abwechslungsreiche Mega-Festival ebenso wie das Publikum. Normalerweise sind es knapp 14 Tage, die die Hamburger Ballett-Tage dauern. Dieses Jahr aber kommt die Superausgabe: So etwas gab es noch nie und wird es wohl auch nie wieder geben. Die Gelegenheiten sind also gewissermaßen einmalig! Den Auftakt macht die dieses Mal öffentliche Hauptprobe zu „Romeo und Julia“ am Freitag, dem 9. Juni 23. Am Sonntag, dem 11. Juni 23, geht es dann mit der Wiederaufnahme von „Romeo und Julia“ richtig los, um am Sonntag, den 9. Juli 23, mit der „Nijinsky-Gala XLVIII“ fulminant zu enden. Ein Höhepunkt für Insider findet jeweils am Mittwoch, 21. Juni 23, und am Donnerstag, 22. Juni 23, in der Kirche St. Michaelis („Michel“) statt: mit der „Matthäus-Passion“ am Ort ihrer Uraufführung.

Aber auch die beiden Gastensembles machen neugierig: Das Tschechische Nationalballett aus Prag reist an, um am 20. Und am 21. Juni 23 in zwei Besetzungen „Endstation Sehnsucht“ von John Neumeier zu tanzen. Das Stuttgarter Ballett interpretiert, ebenfalls in zwei Besetzungen, am 4. Und am 5. Juli 23 „Die Kameliendame“ von Neumeier. Beides sind Kultballette, die die Bühnentanzkunst der letzten fünfzig Jahre als Meilensteine nachhaltig geprägt haben.

Unverwüstlich: "Die Kameliendame" von John Neumeier

Es stimmt alles bis in die Fingerspitzen: Miriam Kacerova und Martí Fernández Paixà in „Die Kameliendame“ beim Stuttgarter Ballett. Foto: Stuttgarter Ballett

Und auch sonst lässt sich das Programm sehr gut anhören und sehen: Am Dienstag, den 13. Juni 23, zeigt die Ballettschule vom Hamburg Ballett wieder „Erste Schritte“ – für alle ein Muss, die wissen wollen, wie es dem Ballettnachwuchs geht.

Weiter geht es mit den legendären Neumeier-Versionen der klassischen Stücke „Der Nussknacker“, „Illusionen – wie Schwanensee“ und „Dornröschen“.

Auf die Tschaikowsky-Trias folgen die melancholisch-munteren „Bernstein Dances“ und das tiefschürfende „Beethoven-Projekt II“. Am Donnerstag, dem 22. Juni 23, gehört das Große Haus außerdem dem Bundesjugendballett: mit einer Neumeier-Kreation und einer Collage.

Die „Préludes CV“, „Sylvia“, „Hamlet 21” und „Nijinsky” – letzterer drei Mal mit der großartigen Alessandra Ferri zu Gast als in dieser Rolle debütierende Romola – halten die Fans weiterhin auf Trab.

Ein kleiner Wermutstropfen: Dieses sind die ersten Hamburger Ballett-Tage ohne Premiere.

Keine abendfüllende Uraufführung, keine sonstige Erweiterung des Repertoires – es handelt sich um eine groß angelegte Leistungsschau, die das reichhaltige Schaffen Neumeiers auszugsweise illustriert.

Eine „Benefiz-Gala“ zu Gunsten der John Neumeier Stiftung, die sich bekanntlich langsam, aber sicher auf ihren Umzug ins „Schlösschen“, also in ein größeres Museumsgebäude, vorbereitet, bildet am Donnerstag, den 29.06.23 erneut ein Highlight. Während dieser Gala soll auch der neue John Neumeier-Preis für Choreografie verliehen werden.

Er ist mit 25.000 Euro dotiert und von der Hapag-Lloyd Stiftung finanziert. Die Reederei Hapag Lloyd machte trotz oder wegen der steigenden Preise jüngst einen Rekordgewinn von 17,5 Milliarden Euro, womit sie ihren Gewinn im Vergleich zum Vorjahr verdoppelte. Außerdem schloss sie im Februar 23 einen mehrjährig gültigen Vertrag mit dem US-amerikanischen Ölkonzern Shell über den Transport von Flüssiggas ab. Hier wird von den kriminellen Vorgängen um Nordstream 2 gnadenlos profitiert.

Leider interessiert das in unserer Neureichen-Welt angeblicher Kunstinteressierter nur wenige. Geld wird in Deutschland immer gern genommen, völlig egal, wo es herkommt. Dass Deutschland immer stärker in US-amerikanische Abhängigkeit gerät, ist denen, die daran verdienen, nur Recht.

Anna Karenina von John Neumeier jetzt auch in Russland

Auch bei Proben ergreifend: Olga Smirnova und Artem Ovcharenko in „Anna Karenina“ von John Neumeier beim Bolschoi Theater in Moskau. Glücklich, wer eine Vorstellung sehen darf! Foto: Darian Volkova / Faksimile von Facebook: Gisela Sonnenburg

Ursprünglich sollte ja das Bolschoi Ballett die mit ihm koproduzierte „Anna Karenina“ von Neumeier  in Hamburg tanzen. Aber angesichts der politischen Lage und seiner deutlichen Bekundung zum Scholz-Regime lud Neumeier diesen hochkarätigen Olymp des Balletts einfach wieder aus.

Mit den Nazis in der Ukraine, die von Präsident Selenskyj mit hohen Orden ausgezeichnet werden, und die Tausende von Russen in den Jahren vor 2022 ermordet haben, setzt sich Neumeier – wie die meisten Staatskünstler von heute – lieber nicht auseinander. Auch Minsk II dürfte ihm nichts sagen: Diesen Vertrag, der die militärische Neutralität der Ukraine garantiert hätte, sollte Selenskyj verabredungsgemäß unterschreiben, um den Krieg zu verhindern.

Jede Nato-Osterweiterung war in der Tat eine Verletzung der Rechte Russlands und verstieß gegen die Zwei-plus-Vier-Protokolle von 1990/91. Dazu wird Neumeier wohl nie einen Tanz kreieren: wie das ist, wenn man als Land zunehmend von der Nato bedrängt und bedroht wird.

Die von ihm wiederum geschätzte Theaterkünstlerin Andrea Breth hingegen hat es geschafft, zur aktuellen Situation ein Kunstwerk zu schaffen: „Ich hab die Nacht geträumet“ zeigt im Berliner Ensemble auf ergreifend-sinnliche Weise, dass dieser Krieg keineswegs so simpel zustande kam, wie uns die mittlerweile regierungshörigen deutschen Mainstream-Medien glauben machen wollen.

Reich und berühmt wird man mit so kritischer Kunst heutzutage allerdings nicht mehr. Die Obrigkeit und die Wirtschaft wünschen Mitläufertum. Da hat nicht jede/r das Rückgrat zu widerstehen.

Die Nijinsky-Gala XLVI im Jahr 2021 beim Hamburg Ballett

Eine fast naturalistische Szenerie: „Die Glasmenagerie“ mit Alina Cojocaru (mittig vorn) auf der Nijinsky-Gala 2021 beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Man darf sich von der Geldhörigkeit John Neumeiers aber nicht irritieren lassen. Als Choreograf und Künstler steht er weit über dem, was er als Geschäftsmann verkörpert. Und ein politisches Gewissen  hatte er sowieso noch nie, auch wenn er in den 80er-Jahren mit dem damals grün angestrichenen Pazifismus sympathisierte. Lang, lang ist das her…

Fast so lange wie die Uraufführung eines ganz besonderen Balletts. Der moderne Klassiker „Dritte Sinfonie von Gustav Mahler“ beendet dieses Jahr den Hamburger Juni, während das weitaus jüngere Neumeier-Werk „Die Glasmenagerie“ sowie sein jüngstes Stück „Dona Nobis Pacem“ und auch die nachmittäglich angesetzten Kino-Events mit DVDs von Neumeier-Balletten im der Hamburgischen Staatsoper benachbarten Kino Metropolis den Juli beginnen lassen.

"Liliom" von John Neumeier ist unbedingt sehenswert

Familienunglück mit Karussell: Szene aus „Liliom“ beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Die wunderbare Jahrmarkt-Tragödie „Liliom“ und das spirituell-menschliche  „Ghost Light“ führen dann direkt auf die „Nijinsky-Gala XLVIII“ hin – und wer danach noch immer nicht genug hat vom edlen Neumeier-Stil oder auch gerade erst so richtig auf den Geschmack kam, der oder die kann dem Hamburg Ballett nach Granada nachreisen, wo es am 14. Juli und am 14. Juli 23 Neumeiers „Ein Sommernachtstraum“ zeigt.

Die Einmaligkeit des Festivals in Hamburg wird sicher gewürdigt werden – und die Stimmung dürfte, völlig unabhängig vom Sommerwetter dieses Jahr, genau wie die Qualität des gezeigten Tanzes richtig klasse sein.
Gisela Sonnenburg

www.hamburgballett.de

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