Wie in einem Meer aus Licht Das Wiener Staatsballett zeigt die „Goldberg-Variationen“ von Heinz Spoerli

"Goldberg-Variationen" von Heinz Spoerli

Die „Goldberg-Variationen“ von Heinz Spoerli beim Wiener Staatsballett: Der Beginn erinnert an John Neumeiers „Le Sacre“ sowie an dessen „Dritte Sinfonie von Gustav Mahler“. Wow! Videostill vom Stream des Wiener Staatsballetts: Gisela Sonnenburg

Die Stimmung gibt die Musik vor: Die „Goldberg-Variationen“ erklingen so sanftmütig und freudvoll, getragen feierlich und doch inbrünstig wie ein einziges langes Gebet. Johann Sebastian Bach muss sich etwas Sinnlich-Spirituelles dabei gedacht haben, solche Klänge fürs Klavier zu erfinden. Heinz Spoerli setzte im Mai 1993 in Düsseldorf einen drauf – und stellte sie als abendfüllendes abstraktes Ballett vor. Jetzt gräbt Wiens Ballettchef Martin Schläpfer, der einer der Nachfolger von Spoerli in Düsseldorf beim Ballett am Rhein war, als Beweis wirklich sehr guten Geschmacks diese Ansammlung kleiner und größerer Juwelen wieder aus. Und präsentiert sie famos und akkurat, gefühlvoll und anmutig getanzt mit dem Wiener Staatsballett. Spoerli, ansonsten bereits im Ruhestand, erschien nicht nur auf den Proben hoch konzentriert, sondern auch – gerührt –  beim Applaus. Letzterer war zu Recht reichlich vorhanden. Und damit es gibt einen Grund mehr zu bedauern, dass Schläpfer, dessen eigene Choreografien nicht immer allen gefallen müssen, beschloss, den nervenaufreibenden Job in Wien nach Vertragsablauf sein zu lassen.

Hier aber gibt es nochmal Genuss hoch zehn:

"Goldberg-Variationen" von Heinz Spoerli

Ihren exzellenten Pas de deux aus dem letzten Drittel der „Goldberg-Variationen“ von Heinz Spoerli tanzten Ludmila Konovalova und Marcos Menha auch bei der Vorstellung der kommenden Spielzeit – einer ebenfalls hervorragend gemachten Veranstaltung. Hier beim Applaus dieser Matinee. Videostill: Gisela Sonnenburg

Mit Marcos Menha und Liudmila Konovalova erreicht der Tanz einen beziehungsreichen Höhepunkt, mit Hyo-Jung Kang und Olga Esina stete Highlights der Grazie und der femininen Geschmeidigkeit.

Früh aber fällt auf: Spoerli schuf in den mehr als zwei Dutzend Einzelszenen nicht nur aus sich selbst.

Das Schritt- und Bewegungsvokabular, vom Schreiten und den Bodenpositionen über die modern-kapriziöse Armgestik bis hin zum weichen Rücken, das als Inspiration zu Grunde liegt, entstammt oftmals Balletten von John Neumeier.

Charmante Teilstücke aus „Le Sacre“, „Ein Sommernachtstraum“, die „Dritte Sinfonie von Gustav Mahler“, „Die Kameliendame“, die „Matthäus-Passion“, „Vaslav“, „Josephs Legende“ und die „Fünfte Sinfonie von Gustav Mahler“, durchsetzt von schimmernd pointierten Momenten aus der Neumeier-Version von „Der Nussknacker“, sind bei genauer Kenntnis zu identifizieren. Oft modifiziert, wie ein Zitat. Manchmal aber auch wie eine Paraphrase: modern talking mit collagierten Schnipseln.

Insgesamt kann man schon von einer verkappten Hommage an Neumeiers Arbeiten sprechen.

Durch die Prägung von der Musik ergibt sich jedoch ein eigener Habitus, ein eigenes Flair.

Und trotz fehlender Dramaturgie, die die Stücke in einen Kontext einbinden und ihren Aufbau begründen könnte, entspinnen sich zahlreiche rote Fäden, die sich als hauchzarte Leitlinien hindurch erweisen.

Der Ausdruck des Erhabenen, auch der Freude am friedvollen Miteinander, überwiegt darin.

"Goldberg-Variationen" von Heinz Spoerli

Das Schlussbild zitiert einige modifizierte Bewegungen aus der „Matthäus-Passion“ von John Neumeier. Videostill der „Goldberg-Variationen“ online vom Wiener Staatsballett: Gisela Sonnenburg

Der Hintergrund (Design: Florian Etti) bildet manchmal ein Meer aus Licht (Licht: Robert Eisenstein), wie etwa vor einem Horizont mit Sonnenuntergang. Und manchmal locken feine weiße Wolken auf azur- oder auch nachtblauem Untergrund.

Wer kann da schon widerstehen?!

Zu sehen sind die „Goldberg-Variationen“ seit der gestrigen Premiere in der Wiener Staatsoper und auch – noch zwei Tage lang – kostenfrei online im Stream.

Jetzt aber nix wie hin und gucken! Jedwede Frühlingsstimmung dürfte sich da zu einem veritablen und doch modernen Lifestyle befördert sehen.
Gisela Sonnenburg

https://play.wiener-staatsoper.at

 

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