Weltuntergangsstimmung Das Staatsballett Berlin feiert sich selbst mit der „Messa da Requiem“ – und somit den Einstand von Christian Spuck

"Messa da Requiem" von Christian Spuck beim Staatsballett Berlin

Trauer ohne Trauer: Das Staatsballett Berlin tanzt die „Messa da Requiem“ von Christian Spuck nicht vergeistigt, sondern emotionslos. Ein entscheidender Unterschied. Foto: Serghei Gherciu

Die Stimmung ist düster. Eine Tänzerin steht vorn links, die rechte Hand hat sie auf ihre linke Schulter gelegt. Am Boden liegen dunkle Schnipsel, es könnten Ascheklumpen sein. Sie bestehen aus dem am häufigsten verwendeten Plastikmaterial (Polyethylen), das nur deshalb als umweltfreundlich gilt, weil es rückstandsfrei zu verbrennen ist. Der Bühnenhorizont ist eine verwaschen wirkende, anthrazit-hellgrauen Wand, auf die die von oben Licht einströmt. An dieser Wand entlang kriecht eine zweite Tänzerin, bis ein Mann dazu kommt und ein Pas de deux entsteht. Der Chor, schwarz gekleidet, steht rechts und singt in den Bühnenraum statt zum Publikum. So beginnt das Stück. Dieses erste Tableau in „Messa da Requiem“ von Giuseppe Verdi, 2016 von Christian Spuck mit dem Ballett Zürich kreiert, kürzlich in Amsterdam und auch in Helsinki einstudiert, zeigt den neuen Weg vom Staatsballett Berlin (SBB). Man muss von Weltuntergangsstimmung sprechen.

Spuck ist der künftige Ballettintendant in der deutschen Hauptstadt, und es war eine kluge Entscheidung von ihm, eine ernste Arbeit als Einstandsstück vorab zu bringen. Leider erreichte die Aufführungsqualität der gestrigen Berliner Premiere aber nicht den Standard aus Zürich, was auch an der musikalischen Einstudierung lag.

Das Dirigat von Nicholas Carter dümpelt mit dumpfem Pathos vor sich hin, Carter überzieht die pompösen Passagen und vermag in den anderen Lagen nicht zu differenzieren. Und: Das Orchester der Deutschen Oper Berlin trifft oft nicht mal korrekt synchron die Einsätze. Die Sopranistin Olesya Golovneva singt dazu schrill und in den leiseren Abschnitten kloßig. Lediglich der Tenor Andrei Danilov und der Rundfunkchor Berlin überzeugen, allerdings nicht mit hervorragenden, sondern mit nur ganz guten Leistungen.

"Messa da Requiem" von Christian Spuck beim Staatsballett Berlin

Ist jemand gestorben oder wird dafür nur geprobt? Die Aufführung der „Messa da Requiem“ von Christian Spuck lässt das offen. Foto: Serghei Gherciu

Aber auch der Tanz ist nicht das, was er sein sollte. Die Tänzer vom SBB konzentrieren sich auf ihre Bewegungen wie auf Gymnastik. Ihre Gesichter sind vollkommen ausdruckslos. Was bei den Mitgliedern vom Ballett Zürich faszinierend geisterhaft wirkte, auch wie erleuchtet, wirkt bei den Berlinern starr und ungerührt, bestenfalls kühl.

Polina Semionova, die normalerweise bezaubernde Starballerina, muss ein viel zu großes helles Nachthemd tragen, das ihren Körper unförmig und unweiblich erscheinen lässt. Eine Frechheit, dieser schönen femininen Persönlichkeit ein solches Gewand anzutun. Auch ihre Pas de deux mit David Soares, in denen er sie bemüht sensibel trägt, leiden unter dieser vergrößerten Unterwäsche.

Es ist zu vermuten, dass die sonst ausgezeichnet arbeitende Kostümbildnerin Emma Ryott hier nicht selbst an die Anpassung Hand angelegt hat. Auch die großen schwarzen Tüllroben, die sie für weitere Damen auf der Bühne kreiert hat, wirken zwar toll im modischen Sinn, sind aber für ballettöse Bewegungen zu steif.

Der Stil von Spuck zeigt hier eher das Verbiegen von Klassik, aber keine sinnvolle Neuerfindung von Tanz. Der Eindruck imposanter Neoklassik ergibt sich nur in den Standbildern, darum auch in den Fotos. Aber lebendig kann man das Gewusel im Dämmerlicht nicht nennen. Daran ändert auch das ästhetische, aber eben auch sehr einfach gehaltene Bühnenbild von Christian Schmidt nichts.

Von den Emotionen wie Trauer, Angst, Sehnsucht, Hoffnung, Wut, von denen die Musik und auch das Thema einer Totenmesse erzählen, ist hier nicht viel zu sehen. Auch nicht, als das Ensemble mit weißer Kreide Worte wie „Frieden“, „Ruhe“, „Freiheit“ an die Wand kritzelt. Ruhe im Sinne von Totenruhe trifft die Atmosphäre vielleicht noch am ehesten.

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Alles in allem ist der Abend ein Desaster. Der Besuch lohnt sich nur wegen des umfangreichen Programmhefts, welches größtenteils aus Zürich übernommen wurde. Darin gibt es viel zu lesen, etwa Fakten zu Verdi, aber auch ein interessantes Interview mit Fabio Luisi, dem Dirigenten der Uraufführung von Spucks Ballett.

Das Gespräch mit Christian Spuck darin enttäuscht allerdings ebenfalls. Spuck  ist, das mag man schon geahnt haben, unfähig, eine eigene Vision zu formulieren. Über angelesenes Wissen, das er nicht mal sinnvoll neu verknüpfen kann, kommt er nicht hinaus. In weiten Teilen ist es unsinnig, was er behauptet. Dass Kitsch sich durch die Form-Inhalts-Beziehung definiert, weiß er auch nicht. Das sieht man dann eben auch auf der Bühne.

Akrobatisch gelungene, inhaltlich aber völlig inhaltsleere Szenen spielen sich da ab. Einmal posiert eine Tänzerin vor der divenhaften Sopranistin wie eine Skulptur. Bis die Sopranistin einen erhobenen Arm der Tänzerin anstupst. Aber es entsteht keinerlei Beziehung zwischen den Frauen. Es ist halt nur ein emotionsloses Anstupsen. Daraufhin tanzt die junge Dame wieder – wie ein Roboter, eine Tanzmaschine, ein elektronisch gesteuertes Wesen.

Menschlichkeit ist Mangelware in dieser Tanzwelt, wie Spuck sie in Berlin entwirft.

"Messa da Requiem" von Christian Spuck beim Staatsballett Berlin

Alizée Sicre tanzt hier in großer Robe: Ein schöner Rücken kann auch entzücken. Aber die „Messa da Requiem“ sollte auch mit Gefühl zu tun haben. Foto: Serghei Gherciu

Vielleicht beeindrucken einen die massiven Effekthaschereien im fast leeren Raum stärker, wenn man das Stück zum ersten Mal sieht. Bei mir – und nicht nur bei mir – trat allerdings bald gähnende Langeweile ein.

Wäre das Orchester nicht auf dem Niveau einer Schrammelkapelle aus Hintertupfingen geführt worden, hätte die fantastisch-transzendierende Musik von Meisterkomponist Guiseppe Verdi noch Einiges retten können.

Fabio Luisi etwa vermochte es, den im „Dies irae“ als Leitmotiv donnernden Zorn Gottes beinahe lichtern zu präsentieren und die ganze Partitur wie aufgehellt, so zart und nuancierend, zu bringen.

Einspielungen unter den Dirigaten von Herbert von Karajan oder Lorin Maazel haben weitere, schon klassisch zu nennende Meilensteine der Interpretation gesetzt. Und natürlich darf jeder Dirigent eine eigene Art finden. Aber es muss sich eben auch wirklich um Kunst mit Niveau handeln.

Carter hingegen haut einfach auf die Pauke wie ein kleines, dummes Kind. Bumm. Bumm. Bumm, bumm. Plump und lieblos. Dröhnend und öde. Kein Gewitter und kein Trost, nirgends.

"Messa da Requiem" von Christian Spuck beim Staatsballett Berlin

Das Kostüm kann auch viel verderben: Polina Semionova und David (Motta) Soares im Pas de deux in „Messa da Requiem“ von Christian Spuck beim Staatsballett Berlin. Foto: Serghei Gherciu

Lediglich die milden, sanften Passagen kurz vor dem wieder heftigen Ende des nur 90-minütigen Stücks fangen auch in Berlin ein wenig von der Aura ein, die Verdi mit seinem Requiem vermitteln wollte.

Seine Intention war deutlich ein Aufrütteln, sogar eine Erzwingung, sich angesichts des Todes moralisch wertvoll zu verhalten. Angst und am Ende ein jämmerliches Flehen geben hier die durchaus emotional realistische Abhandlung mit dem Tod, diesem ewigen Endpunkt, wieder. Davor stehen Trost und Hoffnungen, durchzogen von immer neuen Schauern.

Begonnen hatte der Opernkomponist sein erstes geistliches Werk zudem formal mit der Absicht eines höchst modernen Unterfangens: Zu Ehren des verstorbenen Komponistenkollegen Rossini sollten nach Verdis Wunsch mehrere Komponisten gemeinsam eine Hommage in Form eines konzertant aufzuführenden Requiems erschaffen. Aber er blieb auf diesen Plänen und auf dem „Libera me“, der Urzelle seiner „Messa“, sitzen.

Jahre später schrieb er dann den Rest dazu, setzte diesen vornan, kreierte so seine unheilige Messe des Weltuntergangs, zu Ehren des verstorbenen italienischen Dichters Manzoni.

Der Text entstammt tatsächlich der römisch-katholischen Lithurgie. Nur:

Ein Bilderbuchkatholik war Verdi nie, er stand der verknöcherten, rigide altmoralischen Kirche höchst kritisch gegenüber.

Aber: Verdi war ein Christ den Taten nach, praktizierte die Nächstenliebe in vielerlei Hinsicht. Er unterstützte von Armut betroffene Arbeiter und Bauern, finanzierte Kindern aus ärmlichen Verhältnissen eine Ausbildung. Das Altersheim für ehemalige Musiker, das er gründete, existiert heute noch.

Ob und inwieweit Verdi religiös war, wird immer ein Rätsel bleiben. Der Dirigent Nikolaus Harnoncourt vermutet allerdings, dass er einer gewissen Art von Religiösität verpflichtet gewesen sei.

Ich nehme an, dass er sie sich absichtlich sozusagen als Rüstzeug des Künstlers aneignete.

Claudio Abbado hingegen meint, Verdi habe, „während er das Requiem schrieb…, einen Akt der Gläubigkeit“ vollbracht.

Andere, wie Fabio Luisi, halten Verdi für einen Agnostiker, auch für einen Atheisten. Dennoch betont Luisi, dass es in der „Messa“ um die „Frage nach den transzendenten Sphären, die hinter der Grenze des Todes liegen“, gehe.

Ja, was denn nun? Transzendenz ohne Paradies? Schweben ohne Himmelskraft?

Es scheint so. Tatsächlich endet Verdis Werk nicht, wie jede andere Messe dieser Art – etwa wie Mozarts großes „Requiem“ – mit Vergebung. Verdi lässt im Gegenteil den göttlichen Zorn noch einmal aufflammen. Im Text obsiegt ein wirklich klägliches Flehen: Der Mensch ist am Ende nur noch ein Häufchen Elend, jammernd und bettelnd um sein Leben und sein Seelenheil.

"Messa da Requiem" von Christian Spuck beim Staatsballett Berlin

Das Staatsballett Berlin tanzt die“Messa da Requiem“ von Christian Spuck: Hebungen in kleinen Gruppen machen einen großen Teil der Choreografie aus. Es fehlt in der Berliner Darbietung nur die Festlegung auf einen Sinn. Foto: Serghei Gherciu

Spuck visualisiert das, indem der Schnürboden heruntergefahren wird, auf die hinten an der Wand stehende schwarze Chormasse, noch während sie singt. Allerdings ist das Moment der Bedrohung in Berlin nur geringfügig zu spüren, zumal sich der mächtige Bühnenhimmel nur vorn an der Rampe, wo niemand mehr steht, ganz herab neigt. Der letzte Blick auf die Bühne zeigt eine hellhölzerne Schräge mit großen schwarzen Kästen darauf. Nicht wirklich bedeutungsvoll. Man hat eher den Eindruck, da will jemand seinen modernen Dachboden aufräumen.

Ob Christian Spuck religiös ist oder nicht, will er nicht sagen. Er meint auf Anfrage, der Glaube sei Privatsache. Das ist allerdings mitnichten so, die Religion verbindet Menschen. Und jedes größere Interview zur Person enthält die Frage nach der Haltung zur Religion. Aber man muss ein Stück weit ehrlich sein, um das anzuerkennen.

Verdis Sensibilität, die auch Luisi im Programmheft anspricht, findet in dieser szenischen Aufführung jedenfalls kaum eine Entsprechung. Vielleicht ist das Stück regelrecht überprobt worden. Da ist kein Hauch von Spontaneität mehr – und gerade das ist doch die Kunst im Ballett: Die einstudierten Übungen spontan wirken zu lassen – und auch keinerlei Leichtigkeit oder Wagemut.

Der Tanz wirkt mechanisch, roboterhaft, seelenlos. Stinklangweilig.

Sogar Weronika Frodyma, die sich sichtlich hier sehr engagiert, vermag nichts über die Rampe zu bringen – außer Präzision beim Verbiegen der Glieder.

Man muss Christian Spuck dringend empfehlen, mehr auf den Ausdruck und die künstlerische Komponente beim Tanzen zu achten und achten zu lassen und weniger auf die rein technisch-sportliche. Sonst wird das hier in Berlin nichts.

Die kommenden Vorstellungen sind denn auch schlecht verkauft bisher, wiewohl der Jubel des Mitläufertums bei der Premiere unüberhörbar war und die meisten Mainstream-Kritiker sich schon aus Freundlichkeit den Regierenden gegenüber in Lobeshymnen überbieten werden.

Fakt ist: So ein Robotertheater will in Berlin niemand sehen. Dafür haben die Leute zu viel zu tun.

Man könnte es Spuck übrigens auch ankreiden, dass er nicht eine einzige kleine Überarbeitung seiner ollen Kamelle tätigte. In Zeiten eines großen Krieges in der Nähe kann man aber in Deutschland nicht einfach so tun, als sei man 2016 im sicheren Zürich. Hier steigen die Preise, weil eine Regierung einen Krieg unterstützt, den die Bevölkerung nicht haben will. Als künstlerisch Tätiger sollte man darüber mal nachdenken, wenn man ein Requiem, also eine Befassung mit dem Tod, auf die Bühne bringt.

Dass Spuck dann noch im Vorfeld behauptet hat, er habe das gesamte SBB auf die Bühne bringen wollen, weshalb das Stück in mehreren Besetzungen einstudiert wurde, klingt wie Hohn, wenn man weiß, dass er einem Großteil des Ensembles bereits vorher die Kündigung aussprach.

Christian Spuck beim Staatsballett Berlin

Christian Spuck hier bei seiner ersten Pressekonferenz beim Staatsballett Berlin vor wenigen Wochen: konzentriert, visionär, mitreißend. War sein Auftritt dort nur Show? Ist er ein Zyniker ohne Vision? Foto: Gisela Sonnenburg

Es ist in Ordnung, wenn ein Ballettchef für seinen Start vor Ort die Tänzerinnen und Tänzer teilweise austauscht. Das ist aus künstlerischen Gründen oftmals unvermeidlich. Aber sich dann hinzustellen und damit anzugeben, man habe alle, die vorhanden seien, in die gemeinsame Arbeit einbinden wollen, ist zynisch.

Ist Christian Spuck ein Zyniker?

Wir werden es sehen. Seine nächste Feuerprobe in Berlin hat eine vorzügliche literarische Vorlage, es ist die Vertanzung von Flauberts Roman „Madame Bovary“.

Den aus Melbourne, Australien, stammenden Dirigenten Nicholas Carter kann ich hingegen für gar nichts mehr empfehlen. Er hat mich gründlich frustriert, denn ich hatte es nicht für möglich gehalten, dass man ein hochkarätiges Werk an der DOB so stümperhaft serviert. Mein Vertrauen in ihn für andere Stücke ist denkbar klein. Ob er in Bern, hahahaha, also in der tiefsten Schweizer Provinz, wo er Co-Operndirektor ist, besser wirkt, kann ich nicht sagen. Aber zwischen dem üblichen provinziellen Niveau und dem in einem weltbekannten Opernhaus sollte auch ein hörbarer Unterschied liegen. Das ist dann schon okay.

"Dona Nobis Pacem" von John Neumeier

Anklänge an die „Matthäus-Passion“ wurden erhofft. Hier Aleix Martínez und das Ensemble in „Dona Nobis Pacem“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Wer tänzerische Meisterwerke zu geistlicher Musik erleben will, dem seien „Dona Nobis Pacem“ und die „Matthäus-Passion“ von John Neumeier angedient. Ersteres wird im Juli in der  Hamburgischen Staatsoper wieder gezeigt,  und die Passion wird vom Hamburg Ballett im Juni diesen Jahres zu Live-Musik in der Hamburger Kirche Sankt Michaelis („Michel“) gezeigt. Sie dauert vier Stunden, aber diese vergehen wie im Fluge – das habe ich etwa ein Dutzend Mal und die Zuschauer vom Hamburg Ballett mehr als ein hundert Mal erlebt. Das wird ein Werk von Spuck wohl eher niemals schaffen.
Gisela Sonnenburg

www.staatsballett-berlin.de

Das Zürcher Original war allerdings die Aufmerksamkeit wert: https://ballett-journal.de/arte-spuck-luisi-messa-da-requiem/

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