Asche zu Asche – die Asche liegt auf dem Bühnenboden, sie rieselt herab. Sie symbolisiert das Thema: den großen, alles umfassenden Tod. Mortem. Death. La mort. Muerte. Morte. Jede Sprache kennt ihn. Keine liebt ihn. Er ist der Endpunkt. Christian Spuck, einst vom Stuttgarter Ballett aus bekannt gewordener Choreograf und derzeit Ballettdirektor in Zürich, wagt sich mit Giuseppe Verdis Totenmesse („Messa da Requiem“) an ein unbequemes Thema heran. Und er richtet denn auch kein normales Ballett dazu an, sondern einen „Ausdruck des Körpers“, wie Spucks Mitstreiter, Zürichs aktueller Generalmusikdirektor, der virtuose Maestro Fabio Luisi, es sagt.
Spucks Anti-Ballett stellt nämlich Tänzer, Chor und Gesangssolisten auf die Bühne, insgesamt weit mehr als hundert Menschen. Dabei wird, entgegen allen Konventionen in Opernhäusern, eine Interaktion zwischen den Protagonisten sichtbar, deren hinterhältiger Sinn über eines nicht hinweg täuschen will: Der Tod, er holt sie, er holt uns alle. Irgendwann. Ob wir es wollen oder nicht. Tanz zu diesem radikalen Motiv gibt es sonst kaum. Der Fernsehsender arte hat das nicht düstere, aber doch sehr ernsthafte Spektakel dankenswerterweise aufgezeichnet und sendet es, passenderweise, erstmals in der lichterfrohen Vorweihnachtszeit.
Wem da der Adventskitsch schon mächtig auf die Nerven ging, der hat nun Gelegenheit zu alarmierendem Tiefsinn und rückhaltloser Authentizität.
Da wird oft erdnah, aber auch an einer steilen Wand, entweder allein, zu zweit oder auch in der Gruppe tänzerisch dem Sterben nachgespürt.
Was die Worte kaum zu fassen vermögen, verwandelt sich in ein gestisches Ringen, in ein nacktes Überleben, in ein Nicht-mehr-leben-Können und schließlich in ein Absterben.
Grablegungen.
Trauer.
Qual.
Hoffnung in den Manövern, die man „Beziehungen“ nennt.
Die Männer halten die Frauen so fest, dass diese nicht entfliehen können.
Beide Geschlechter wird dadurch der Tod vielleicht nur umso schneller ereilen.
Das Höllental Leben, das Himmelstor Tod? Auch das muss es geben.
Doch Erlösung wäre, so wissen alle, noch etwas anderes.
Am Ende senkt sich der dunkle Bühnenhimmel unerbittlich gen Boden; das Gefühl, apokalyptisch zermalmt zu werden, nimmt jede Schuld und jede Freiheit.
Verantwortung? Das war wohl nur ein Wort, in den Leben der meisten.
Sie baden es gemeinsam aus, die Opfer und auch ihre Täter.
Insgesamt inszenierte Spuck, gerade mal 47 Jahre alt und als Choreograf recht vielseitig, hiermit eine Art Lebenswerk: weil er sich mit den verschiedenen Facetten des Unausweichlichen so sichtlich intensiv beschäftigte.
Die einzelnen Teilstücke der Totenmesse gehören vom künstlerischen Eindruck her dennoch der Musik.
Sie ist ein Ereignis, gerade in dieser Interpretation!
Die Musik, in zwei Stufen komponiert und zunächst nur als „Libera me“ gedacht und dann 1874 vollendet und uraufgeführt, gehört zum Schwierigsten des ganzen Schatzes des 19. Jahrhunderts.
Herbert von Karajan dirigierte die „Messa da Requiem“ von Giuseppe Verdi einst in Grund und Boden, wie einen Overkill, mit nachgerade belastender pathetischer Schwere und mit äußerst düsterer musikalischer Prognose.
Verdis Landsmann Fabio Luisi, geboren 1959, hat hingegen ein ganz anderes Verständnis von Verdi. Und gerade von dieser Totenmesse.
Luisi lässt sich nicht schrecken von den mächtig aufbrausenden, auf dem Papier fast dröhnenden Rhythmen.
Er schafft es, in die massive Vertonung der katholisch-lateinischen Liturgie so etwas wie Anmut und tänzelnde Orientierung hinein zu tragen. Raffinesse und Eleganz, Präzision und Ernst prägen den Sound – statt stetig grollender, schwelender Finsternis.
Dadurch ergreift Verdis tragische Musik einen viel intensiver, sie verschreckt nicht mehr, sondern sie kriecht unter die Haut. Was für eine Meisterleistung!
Luisi hat die „Messa da Requiem“ schon des öfteren dirigiert, unter anderem 2007 in der Frauenkirche in Dresden. Und er weiß:
„Das Verdi-Requiem ist eines von den Stücken, an denen man sich immer weiter entwickelt, an denen sich die eigene Entwicklung erweist. Die Sicht auf solch ein Stück wechselt mit den Jahren, mit der Reife, mit der Erfahrung – und mit einer veränderten Spiritualität.“
Das sei nicht im Sinne eines konfessionellen Glaubens auszudeuten, aber im Hinblick auf die Tiefe des Gefühls, ob und an was wir glauben.
Insofern handelt es sich um eine musikalische, hier auch um eine getanzte Gretchenfrage: Glauben wir oder nicht? Wenn ja: woran? Und warum?
Jetzt, so sagt Luisi weiter, sei es dennoch etwas ganz Neues für ihn, eine ganz neue Erfahrung mit Verdis Totenmesse: „weil eine visuelle Komponente dazu kommt, eine großartige und reichhaltige optische Welt:“
Er hat sich nicht beobachten wollen, sagt Fabio Luisi, ob er da nun darum etwas anders gemacht hat. Er hat schon überall auf der Welt dirigiert – und er fühlt sich stets seiner Arbeit verpflichtet, nicht deren Selbstanalyse.
Aber Fakt ist: Luisi dirigiert die sonst oft so bleiplattenschwer einher kommende Verdi-Messe mit einer aufscheinenden Helligkeit, mit einer das im Dunkeln zappelnde Bühnengeschehen durchaus auch konterkarierenden Sehnsucht nach Edelmut und Grazie.
Damit liefert er Christian Spuck die beste akustische Grundlage, um gegen sie an oder auch ihr entsprechend mit den agierenden Körpern der Tänzer und der Sänger das extreme Todesthema zu bewältigen.
Und: Er holt so Einiges an tänzerisch-harmonischem Temperament in die Musik zurück, wiewohl es auf der Bühne der modernen Expressivität der Bewegungen weichen muss.
Der reine, klare Ton gegen die nackte Trauer.
Das schwungvolle Crescendo gegen die Verlorenheit der Menschen in der Inszenierung.
Manchmal aber droht die Musik auch aufzugeben – obwohl auf der Bühne gerade eben noch ein Hoffnungsschimmer aufblitzte.
Diese Gegensätze sind äußerst reizvoll und runden den Crossover-Event ab.
Der Totentanz lebt!
Zufällig entstand all das nicht. Seit Probenbeginn standen der Choreograf Spuck und der Dirigent Luisi in engem Austausch per E-Mail, vor allem die genauen Tempi waren da das Sujet.
Fabio Luisi: „Man kann ja nicht sagen: Diese oder jene Pause hat exakt eineinhalb Sekunden zu dauern und keine Millisekunde mehr. Sondern Christian Spuck und ich versuchen, gemeinsam ein Kunstwerk zu machen. Wir sind dabei aufeinander angewiesen und wir reagieren aufeinander.“
Bald stellte sich heraus, dass die Zusammenarbeit für beide Seiten sehr befruchtend verlief. Der große Erfolg bei der Uraufführung am 3. Dezember 2016 in Zürich bestätigte, dass die Künstler verstanden werden.
Bei den Aufführungen ist es dann für Luisi immer wieder eine Herausforderung, Musik und Bewegung in den rund hundert Minuten des pausenlosen Stücks zusammen zu bringen: „Ich sehe ja, wie schnell oder langsam die Bewegungsabläufe sind oder passieren sollen.“
Die Sensibiliät des Dirigenten kommt den Bühnenprotagonisten zu Gute.
Das Besondere hier: „Die Tänzer sind es nicht gewohnt, dass sich neben ihnen Leute auf der Bühne befinden, die singen. Und die Sänger sind es nicht gewohnt, dass neben ihnen getanzt wird.“
Die Aufregung aller Beteiligten beförderte wohl ziemliche Adrenalinproduktionen. Aber auch, wie Luisi es sagt: „eine große Schönheit dieses intensiven Arbeitsprozesses.“
Fundiert ist dieser von der Kooperation mit dem Orchester – Fabio Luisi ist bekannt für seine zielbewusste, dennoch einfühlsame Arbeitsweise.
Ballett hat er schon als Berufsanfänger in Graz dirigiert; „Schwanensee“, „Dornröschen“, die Balletteinlagen in den Opern waren das. Und eigentlich, sagt er, wäre er gern Ballettdirigent geworden, denn er liebt die Tanzkunst sehr.
Nur würde man, sagt Luisi, dann schnell festgelegt auf Ballett – und die Opern und die Konzerte wären kaum noch zusätzlich zu schaffen.
Nach viel Erfahrung mit Barock und Romantik, nach Berufungen unter anderem zum Chefdirigenten der Wiener Symphoniker wie auch der Metropolitan Opera in New York (wo er mit seiner Familie auch lebt), nach zahlreichen auch preisgekrönten Einspielungen und Dirigaten etwa in Berlin, Leipzig und Dresden wird Fabio Luisi 2017 zusätzlich zu seinen Aufgaben in Zürich auch nach Dänemark gehen: um dort als Chefdirigent mit dem Dänischen Radio-Sinfonieorchester zu arbeiten.
Und bei all den gesammelten Juwelen musikalischer Tätigkeit seines bisherigen Lebens steht Eines für Fabio Luisi in Bezug auf Christian Spucks „Messa da Requiem“ fest:
„Diese Produktion gehört zum Besten, was ich in den letzten dreißig Jahren gemacht habe.“
Gisela Sonnenburg
Am Sonntag, den 18.12.16, um 23.05 Uhr läuft die „Messa da Requiem“ unter dem Titel „Libera Me“ auf arte, danach gibt es das Stück noch online bis 17.1.17 auf www.concert.arte.tv
Und am 16., 20. und 23.12. live in Zürich im Opernhaus (www.opernhaus.ch)
Die Berliner Einstudierung von 2023 kommt an das Original allerdings nicht heran: https://ballett-journal.de/staatsballett-berlin-christian-spuck-messa-da-requiem/