In hohem Alter mitten aus dem Leben gerissen Mit 91 Jahren verstarb der Étoile und Choreograf Pierre Lacotte überraschend an einer Sepsis

Pierre Lacotte verstarb

Pierre Lacotte, Großmeister der historischen Rekonstruktionen im Ballett, verstarb an einer Sepsis. Videostill von YouTube: Gisela Sonnenburg / Trailer der Opéra national de Paris

Er hatte Pläne, wollte unter anderem in Rom eine seiner berühmten Premieren stattfinden lassen – doch das Schicksal war anderer Meinung. Mit 91 Jahren verstarb Pierre Lacotte, einst Étoile an der Pariser Opéra und maßgeblicher Kollege von Rudolf Nurejew bei dessen Flucht in den Westen. Dabei stand er  noch mitten im Leben, war auch im Beruf noch aktiv tätig. Choreografisch war er mit historischen Rekonstruktionen berühmt geworden, wie „La Sylphide“ und „La Fille du Pharaon“, „Coppélia“ und „Le Papillon“, „La Gitana“ und „Paquita“.

Seine letzte Rekonstruktion war „Ondine“ (1843/2006) am Mariinsky Theater in Sankt Petersburg, aber seine letzte Choreografie, die im Oktober 2021 in Paris premierte, war etwas Neues: Die Mammutproduktion „Le Rouge et le Noir“ nach dem Roman von Stendhal. Sie war choreografisch nicht das Beste, was er je schuf, aber typisch für seinen Geschmack:

Pierre Lacotte liebte das echt Pompöse, das echt Klassische, das echt Romantische, das wirklich Delikate.

Und als der Tanztitan Rudolf Nurejew bei einem Gastspiel des Leningrader Kirov Balletts sich in Paris anschickte, in den Westen zu flüchten, war es Pierre Lacotte, der ihm maßgeblich dabei zur Seite stand. Und der ihm dann auch die ersten westlichen Tanzschuhe gab. Der vom Ballett-Journal letztes Jahr im Rahmen vom „Schicksaltanz mit Nurejew“ gezeigte Film „Nurejew – The White Crow“ schildert das eindringlich.

Nurejew kommt ins Kino

Junge Männer unter sich über den Dächern von Paris: Oleg Ivenko als Nurejew und Raphael Personnez als Pierre Lacotte (hinten, mit Zigarette) in „Nurejew – The White Crow“ auf dem Dach der Opéra. Foto: Alamode Film

Mir sagte Lacotte im Interview mal, Nurejew sei „ein Tiger“ gewesen, jemand, der sich durch Kampfgeist auszeichne. Das sei seine Besonderheit gewesen, das habe ihn so geadelt.

Für die Ballettwelt ist Pierre Lacottes unbestechlicher Blick sowohl für die Brillanz der Akkuratesse als auch für die Schönheit des Details als besonders wichtig in Erinnerung geblieben.

Er vertrat die good old school, und er ließ nicht locker, wenn er etwas konkret soundso haben wollte. Niemand konnte ihm da reinreden, denn er nahm es auch bei der Recherche ganz genau – und darum sind seine Rekonstruktionen über seinen Tod hinaus so wertvoll. Lacotte war der Großmeister der sorgfältigen Rekonstruktion.

Am 4. April 1932 nahe Paris geboren, wurde Pierre Lacotte an der Ballettschule der Pariser Oper erst ausgebildet und dann dort zum Star gemacht. Als 17-Jähriger gefiel er Serge Lifar so sehr, dass er eine Kreation von ihm uraufführen durfte. Und schon 1951 wurde Pierre zum Ersten Solisten ernannt. Seither tanzte er die großen klassischen Partien, nebenbei bildete er aber auch sein Talent fürs Choreografieren aus.

Pierre Lacotte verstarb

Lieblich wie die Frühromantik selbst: Hélène Bouchet und Thiago Bordin in „La Sylphide“ von Lacotte beim Hamburg Ballett. Videostill von YouTube: Gisela Sonnenburg / Trailer vom Hamburg Ballett

Eine Verletzung zwang ihn, weniger zu tanzen – und er begann, das Archiv der Pariser Oper zu durchstöbern. Dabei stieß er auf Unterlagen zur Uraufführung von „La Sylphide“, das Filippe Taglioni 1832 als erstes abendfüllendes Ballett mit Spitzenschuhtanz für Marie Taglioni, seine Tochter, choreografiert hatte. Lacottes Interesse wuchs, er recherchierte außerhalb der Oper weiter und holte sich schließlich den Auftrag, das Ballett zu erneuern, indem er es historisch rekonstruierte. Sogar die Kostüme wurden nach Maßstäben des frühen 19. Jahrhunderts neu entworfen: mit Korsetts, die den Tänzerinnen nicht nur das Atmen, sondern auch die Armhebungen erschwerten, was aber – so Lacotte – zu einem ganz bestimmten Ausdruck ihrer Bewegungen führte. Zumindest bei den Proben war das nützlich.

Die Premiere war ein phänomenaler Erfolg, und Lacotte hatte seine neue Lebensaufgabe.

Bis ans Bolschoi Ballett in Moskau und dem Mariinsky in Sankt Petersburg kamen seine Neualt-Ballette, die er mit viel Engagement jeweils vor Ort einstudierte. Der Fernsehsender arte zeichnete seine „Fille du Pharaon“ auf – ein bedeutendes Zeugnis seiner hohen Kunst.

Pierre Lacotte verstarb

Pierre Lacotte entwarf auch die Kostüme zu seinen opulenten Ballettrekonstruktionen. Hier zu „Le Rouge et le Noir“. Videostill: Gisela Sonnenburg / Trailer der Pariser Oper auf YouTube

Und in Deutschland? An der heutigen Staatsoper Unter den Linden war von Lacotte ab Oktober 1995 eine weniger gelobte, dennoch berauschend schöne Rekonstruktion zu sehen: „Le Lac des Fees“, der „Feensee“, von Taglioni, der im Auftrag des Zaren entstand und einst in Sankt Petersburg uraufgeführt wurde. Steffi Scherzer, Oliver Matz, Thorsten Händler und Victoria Lahiguera tanzten – und gingen damit in die Geschichte des Berliner Balletts als am meisten authentisch geschulte Ballettkünstler ein.

Das Hamburg Ballett von John Neumeier studierte 2008 Lacottes Dauerbrenner „La Sylphide“ ein und brachte die Hanseaten mit der furiosen Romantik Lacottes zum Rasen vor Begeisterung.

Im österreichischen Wien hat man die beliebte „La Sylphide“ und „Coppélia“ von Lacotte im Repertoire. 2012 trat der Grandseigneur dort auch beim Opernball persönlich in Erscheinung.

Aber Lacottes Kunst ging weit über Europa hinaus. Auch das Shanghai Ballett wollte seine stilistisch erlesenen Antiquitäten, und er schuf eigens dafür eine erneuerte „Coppélia“. Höhepunkte waren aber seine großen Arbeiten für Moskaus Bolschoi (2000) und das Mariinsky in Piter (zuletzt 2006).

Warschau, Verona, Monte Carlo sind Stationen, die näher bei Paris lagen. In Monte Carlo war Lacotte zusammen mit seiner Ehefrau, der ehemaligen Étoile Ghislaine Thesmar, Ballettdirektor. Später leitete er in Verona, dann in Nancy jeweils klassische Stadtballettcompagnien, die es heute so nicht mehr gibt.

Patrick Dupond, der kürzlich verstarb, war ein Freund von Geförderter von Lacotte. Ebenso Michael Denard, auch er starb vor wenigen Monaten. Alle drei standen für das expressiv-klassische französische Ballett, wobei Lacotte durch seine Kreationen fest in den Traditionen verankert war. Und doch lockte ihn immer mal wieder auch die neue, ursprüngliche Kreation.

Pierre Lacotte verstarb

Hugo Marchand und das Ensemble des Balletts der Pariser Opéra tanzen hier in Lacottes „Le Rouge et le Noir“. Videostill von YouTube: Gisela Sonnenburg / Trailer der Pariser Oper

Bereits in Monte Carlo schuf er ein neues Ballett zu einem aufregenden, modernen Thema: nach der Novelle „Vierundzwanzig Stunden aus dem Leben einer Frau“ von Stefan Zweig. Angesiedelt ist es an der Rivieira.

An der Cote d’Azur verstarb er heute morgen, tragischerweise an einer Sepsis nach einer Wundinfektion. Die Klinik nahe seinem Wohnort hatte hoffentlich Meerblick.

Unser Mitgefühl gilt Ghislaine Thesmar.
Gisela Sonnenburg

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