Die schönsten Theatertode… … haben Romeo, Julia und Mercutio in „Romeo und Julia“ von John Cranko beim Bayerischen Staatsballett, jetzt mit Julian MacKay, Madison Young und Yonah Acosta

"Romeo und Julia" von John Cranko beim Bayerischen Staatsballett mit Julian MacKay

Jubelnder Applaus für ein rührendes, begeisterndes Dreamteam als „Romeo und Julia“: Madison Young (links) und Julian MacKay (rechts) vom Bayerischen Staatsballett nach der ersten gemeinsamen „Romeo“-Vorstellung am 3. April 2023 im Münchner Nationaltheater. Foto: Nicholas MacKay

Sie lieben sich und sie sterben früh. Sie hassen die Gesellschaft, und sie sterben zu früh. Sie sind Opfer und teilweise auch Täter zugleich. Sie passen eigentlich in keine Schublade, und dafür bewundert man sie umso mehr: „Romeo und Julia“, um 1595 von William Shakespeare im verregneten England erfunden und im sonnigen Italien angesiedelt, wurden vom Tanz-Titan John Cranko gleich zwei Mal in ein Ballett verwandelt: 1959, als Cranko junger Gastchoreograf an der Scala in Mailand war, und 1962, als erster großer Coup des damals neuen Ballettdirektors beim Stuttgarter Ballett. Mit „Romeo und Julia“ begründete sich der Ruhm der Truppe auch in Übersee. Und in München, wo Cranko zeitweise zusätzlich zum Stuttgarter Posten auch das Bayerische Staatsballett leitete, gewann das Stuttgarter Stück gerade in den letzten Jahren immer wieder an Kontur, erblühte mit neuen Besetzungen im Weltklasse-Stil immer wieder neu. Jetzt auch mit dem stürmisch-sensiblen Julian MacKay als Romeo, mit der zart-superben Madison Young als Julia und mit einem überwältigend-aufgedrehten Yonah Acosta als Mercutio.

Dieser Romeo ist ein lyrisch-verspielter Bengel, ein Held wie aus dem Sturm und Drang. Julian MacKay scheint als Romeo den Ernst des Lebens zunächst gar nicht wahrhaben zu wollen, alles ist ihm Lust und Spiel. So betet er zunächst die schöne Rosalinde an, die von Kristina Lind nicht nur mit makellosen Linien, sondern auch mit wunderbarem Schauspiel dargeboten wird. Als Romeo sie für seine neue Flamme Julia verlässt, zeigt sie – und das ist selten so gut zu sehen – ihre ganze Enttäuschung, Verletztheit, Eifersucht.

"Romeo und Julia" von John Cranko beim Bayerischen Staatsballett mit Julian MacKay

Sie haben nur eine Liebesnacht: die heimlich Getrauten Romeo (Julian MacKay) und Julia (Madison Young) in „Romeo und Julia“ von John Cranko. Foto vom Bayerischen Staatsballett: Nicholas MacKay

Romeo trifft seine Julia – bereits versiert in dieser Partie und doch wie spontan, so mädchenhaft-emotional: Madison Young – auf einem Ball in ihrem Elternhaus. Brisant ist das deshalb, weil die beiden Familien, die den Spielort Verona beherrschen, miteinander verfeindet sind, und Romeo ist ein Montague, Julia hingegen eine Capulet. Ihre Liebe fragt aber nicht nach diesen gesellschaftlichen Grenzen – es sprühen die Funken, wenn dieses Paar einen Pas de deux tanzt.

Heimlich lassen sie sich kirchlich trauen, und heimlich verbringen sie in Julias Jungmädchenbett eine Liebesnacht.

Doch Romeo muss fliehen, denn er hat – stürmisch in jedweder Hinsicht – den Cousin von Julia namens Tybalt bei Straßenkämpfen der beiden Clans erstochen.

Die Trauer über Tybalt wird von Séverine Ferrolier bewegend in einem Solo vermittelt.

"Romeo und Julia" von John Cranko beim Bayerischen Staatsballett mit Julian MacKay

Sie verstehen sich bestens: die Freunde Romeo und Mercutio, hier getanzt von Julian MacKay (rechts) und Yonah Acosta (links) in „Romeo und Julia“. Foto vom Bayerischen Staatsballett: Nicholas MacKay

Ein absolutes Highlight ist aber auch Yonah Acosta als Mercutio. Er als bester Freund von Romeo forderte Tybalt heraus – und wird in einer atemberaubenden Szene dessen Opfer. Schon taumelnd will Mercutio nicht zugeben, wie schwer er getroffen wurde, er mischt Scherz und tödliche Wahrheit in seinem Tanz. So, wie Acosta es zeigt, geht dieser Theatertod unglaublich unter die Haut.

Aber auch Benvolio, der dritte in der ursprünglichen Trias um Romeo, ist mit Ariel Merkuri hervorragend besetzt. Er tröstet Rosalinde, als Romeo ihr Herz bricht, aber er hält andererseits fest zu Romeo, was immer kommen mag.

Und es kommt viel Kummer.

Julia soll den charmanten Grafen Paris heiraten, und um diesem zu entgehen, nimmt sie ein Schlafgift ein, das Lorenzo, der Pater, der sie und Romeo heimlich traute, ihr übergab. Weil aber im Ballett, anders als im Drama von Shakespeare, kein Plan für eine gemeinsame Flucht existiert, weiß Romeo nicht, dass Julia nur scheintot ist, als ihr Tod bekannt wird.

Er stürmt – was sonst – in die Gruft und findet seinen Konkurrenten Paris trauernd an ihrem reglosen Körper. Stürmisch – wie sonst – bringt Romeo im Liebeswahn nach Tybalt jetzt auch Paris um. Er hätte sonst auch um sein Leben bangen müssen.

Aber gerade sein Leben wird nicht mehr lange dauern. Nach einem herzzerreißenden Tanz mit der Totgeglaubten erdolcht Romeo sich. Bei Shakespeare nimmt er Gift, hier wirft er seinen schönen Leib in einen Dolch. Und er legt sich zu Julia, noch einmal durchfährt seine Hand ihr Haar, einige Strähnen hoch haltend und bewundernd.

So realistisch manche Details sind: Auf Theaterblut wird bei Cranko verzichtet, alles bleibt ästhetisch-stilvoll. Und gerade deshalb sind die Tode in „Romeo und Julia“ so anrührend und ergreifend, dass man mit Tränen rechnen muss.

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Als Julia erwacht, ist Romeo gerade verschieden. Ihr Entsetzen, pantomimisch-tänzerisch von der damaligen Cranko-Muse Marcia Haydée mit kreiert, bereitet uns den nächsten schönen Schauer. Madison Young wirkt geisterhaft in ihrem Schock, sie kann es kaum fassen, dass ihr Romeo tot bei ihr liegt.

Sie sieht sich in der Gruft um und stolpert über den toten Paris. Auch das ein Schock. Mit seinem Dolch beendet sie dann ihr Leben, den schönen Romeo im Sitzen fast wie in einer Pietà vor sich hoch ziehend. Romeo und Julia eint der Freitod, und obwohl sie nie darüber sprachen, war es für sie selbstverständlich, ohne einander nicht mehr leben zu wollen.

Diese Liebenden bereuen nichts. Sie sterben für etwas, das sie hoch begrüßt hätten, wenn sie es hätten erleben dürfen. Denn bei Shakespeare – und auch in der Ballett-Version von Yuri Grigorovich – versöhnen sich die beiden Familien am Grab ihrer Kinder.

"Romeo und Julia" von John Cranko beim Bayerischen Staatsballett mit Julian MacKay

Julia (Madison Young, rechts vorn) soll Paris (Sergio Navarro, kniend) ehelichen. Aber sie liebt Romeo (Julian MacKay, mittig). Foto vom Bayerischen Staatsballett: Nicholas MacKay

In Crankos Ballett aber berührt die Szene im Grab mit der ausdrucksvollen Musik von Sergej Prokoffief als Schlusspunkt. Robertas Servenikas dirigierte das Bayerische Staatsorchester mit passend dramatischem Impetus, er betonte das Hauchzart-Liebliche im Kontrast zum donnernden Pathos.

Die Münchner Festwoche 2023 scheint von Höhepunkt zu Höhepunkt zu schreiten. Bravo!
Franka Maria Selz / Gisela Sonnenburg

 www.bayerisches-staatsballett.de

 

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