Sanftheit gegen den Krieg Andrea Breth, Opern- und Theaterregisseurin, schuf fürs Berliner Ensemble eine Collage aus Einzelszenen mit Musik: „Ich hab die Nacht geträumet“ ist eine Trost-Revue mit schauspielerischen Superhighlights

Andrea Breth (ganz links) und ihre Schauspielstars beim Premierenapplaus am 16.03.23 im Berliner Ensemble nach „Ich hab die Nacht geträumet“. Foto: Gisela Sonnenburg

Wenn man an die Kriegsbilder von George Grosz und Otto Dix denkt, auch an die von Bernhard Heisig, erwartet man eine dramatische Alarmstimmung, eine groteske Expressivität, wenn ein aktuelles Theaterstück zum Thema Krieg angekündigt wird. Denn auch die dramatische Tradition zum Thema verheißt mit Autoren wie Friedrich Schiller, Bertolt Brecht und Wolfgang Borchert nicht nur leise Töne. Im Ballett haben wir das Beispiel „Spartacus“, das zwar nicht von Krieg, aber von Sklavenaufständen erzählt. Auch „Spartacus“ hat grelle, stark pathetische Farben im Ausdruck. Aber Andrea Breth, Regiegenie beim  Sprechtheater und an Opernhäusern, ließ sich nicht beirren. Ihr Beitrag zur aktuellen Lage der Welt, angeregt und ausgelöst vom Krieg der Nato gegen Russland, ist sanft und fragil, spielt mit der verrückten Logik von Träumen und lehnt sich doch gegen die herrschenden Verhältnisse mit aller Kraft auf: „Ich hab die Nacht geträumet“ ist im Untertitel „ein Schauspiel mit Musik“ am Berliner Ensemble am Schiffbauerdamm, und erstmals firmiert die Regisseurin Andrea Breth auch als Stückemacherin. Sie schrieb allerdings kein Drama, sondern schuf eine Collage, bestehend aus bestem Bildungsgut, abgemischt mit Schnipseln aus dem Internet und der Trivialkultur. Es entstand eine Trost-Revue von fast wagnerianischem Ausmaß, über drei Stunden lang. Diese ist vor allem anderen ein Fest der Emotionen und Aktionen für Schauspielkoryphäen wie Johanna Wokalek, Corinna Kirchhoff und Alexander Simon.

In den für sie maßgeschneiderten fast 80 Einzelszenen drehen sie voll auf, zeigen Zähne, Beine, Seele. Und sie spielen nicht nur, sie singen auch, und zwar häufig: Schlager und Chansons aus einer Zeit, die uns viel lieber viel ferner wäre.

Darunter sind aber keine Krachbilder und auch kein Hassgeheuel.

"Ich hab die Nacht geträumet" von Andrea Breth

Elegisch-elegant: Corinna Kirchhoff, Alexander Simon und Martin Rentzsch in „Ich habe die Nacht geträumet“ von Andrea Breth am BE. Foto: Jörg Brüggemann

Vielmehr türmen sich skurril-poetische Szenen und smart-persiflierte Nostalgiemusik zu einer Melange des poetischen Widerstands. Ein dunkler Gaze-Vorhang an der Rampe lässt alles sanft grau in grau verwischt wirken, lenkt die Aufmerksamkeit unwillkürlich auch auf das zu Hörende.

Als da sind: Texte als Instrumente für den Frieden. Adorno, Goethe, Bachmann, Brasch und Fried werden ebenso eingesetzt wie Auszüge aus Werken von Herta Müller, Dieter Hildebrandt und Meret Oppenheim.

Wehmut und Trotz, Sehnsucht und Provokation wechseln einander ab. Einen roten Faden gibt es nur als inhaltlichen Hintergrund, der immer mal wieder blitzartig auftaucht: Es ist der Krieg.

Krieg, diese Ungeheuerlichkeit, bei der Menschen, die sich nicht kennen, aufeinander schießen, verzerrt das Lebensgefühl, ändert das Verhalten – gerade von jenen Personen, die das nicht wahrhaben wollen. Krieg, so die implizite These dieses Theaterprogramms, dringt in jede Pore, macht alles zu einem absurd-banalen Tralala, wertet alles ab, was uns eigentlich im Innersten zusammenhält.

"Ich hab die Nacht geträumet" von Andrea Breth

Jubel für die Künstler nach der bittersüßen Revue „Ich hab die Nacht geträumet“ von Andrea Breth. Schlussapplaus-Foto aus dem Berliner Ensemble: Gisela Sonnenburg

Andrea Breth, Jahrgang 1952 und einer der bedeutendsten Theatermenschen unserer Zeit, war Erstunterzeichnerin des Friedensmanifests von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer. Es ist ihr hoch anzurechnen, dass sie als Staatskünstlerin mit Vorzeigebonus – sprich als viel beschäftigte Trägerin des Bundesverdienstkreuzes – so deutlich Farbe bekennt. Ihr passt es nicht, dass die Ukraine, ungeachtet der politischen Verhältnisse, von der Nato schier endlos mit Waffen gegen Russland beliefert wird. Sie ist bereit, aufzustehen und zu sagen: Nein! Stoppt diesen Wahn!

Jetzt beweist mit ihr eine der anspruchsvollsten Regisseurinnen, dass ihre schöpferische Ader größer ist als vermutet: mit ihrem Bilderreigen nimmt sie zugleich einen theatralen Abgleich der 30er- und 40er-Jahre des letzten Jahrhunderts mit unserer Gegenwart vor.

Einige Szenen zeigen sogar Verbote und Verhaftungen ohne Grund, Denunziationen ohne Sinn: Ist es heute nicht manchmal wie damals?

Die Mainstream-Medien wollen uns das ja vergessen machen. Sie zeichnen unverdrossen das Bild einer einigermaßen heilen Welt von Deutschland und seinen Freunden, ungeachtet der Realität, die viele Menschen tagtäglich erleben und beobachten.

Den ganzen Horror will Breth nicht zeigen. Sie versucht es gar nicht erst. Sie ist kein Frank Castorf, sie will nicht schockieren, ja nicht einmal provozieren.

Sie will: bezaubern. Und das, obwohl ihr Sujet, die durch Krieg aus den Fugen geratene Welt, nicht eben dazu einlädt.

"Ich hab die Nacht geträumet" von Andrea Breth

Und Bravo: Schlussapplaus nach der Uraufführung von „Ich hab die Nacht geträumet“ von Andrea Breth am BE. Foto: Gisela Sonnenburg

Verbal bekennt sie sich zu einer Art „Melancholie“, die „Angstträume und Erinnerungsräume nicht realistischer Art“ auf der Bühne gebiert. So setzt sie die Feinheit gegen das Grobe.

Ohne Musik würde das wohl nicht funktionieren. Songs von Friedrich Hollaender und Michel Legrand bilden einzelne Revue-Nummern mit sehr unterschiedlichen Charakteren.

Manchmal müssen aber auch musikalische Fetzen genügen: Eine sezierte Melodie von Robert Schumann hier und ein schunkelnder Walzer von Schostakowitsch da colorieren die Akustik.

Zu Beginn hofft man noch auf Biedermeier-Romantik, doch bald ist klar: Hier geht es um die Bezüge zum Hier und Jetzt. Chopin bleibt draußen.

Die Protagonisten schlüpfen alle paar Minuten in neue Rollen.

Da sind mondäne Damen, eine Frau im Trench, ein Mädchen im Cocktailkleid. Da sind der gut zugeknöpfte Mann mit Kahlkopf, aber auch ein lasziver Kerl mit gelben Socken sowie ein unfreundlicher Kleinwüchsiger und ein wütender Asiate.

"Ich hab die Nacht geträumet" von Andrea Breth

Schön makabrer Abschied: Ahmet Özer, Johanna Wokalek, Tomoya Kawamura, Corinna Kirchhoff, Dennis Jankowiak, Catriona Gallo und Alexander Simon in „Ich hab die Nacht geträumet“ von Andrea Breth am Berliner Ensemble. Foto: Jörg Brüggemann

Anrührend seltsame Beziehungen entstehen, und die Absurdität des Seins wird  immer wieder in Variationen vorgeführt.

Aber nie verliert die Szenerie den Hauch der Poetik. Das Entrückte, das auch in Traumwelten vorherrschend ist, bestimmt auch hier das Grundgefühl.

Anders vermag eine sensible Natur wie die der Breth, wie auch die meisten kulturempfindlichen Personen, nicht auf den Horror ständiger Waffenlieferungen an einen von Nazis kontrollierten Staat zu reagieren.

Fair is foul and foul is fair – Missstände werden zunehmend verdeckt, Freunde von damals bekämpft. Menschen maskieren sich wie Tiere, manchmal ist die Kostümfratze das wahre Gesicht.

Wenn der Alltag zur Geisterbahnfahrt wird, geraten die Nächte zur Auszeit der Angst.

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In den schrägen Traumbildern, die Breths geübte Regie inszeniert, finden sich zahlreiche Anklänge an den Surrealismus.

Mal ragen Menschen aus der Wand, mal turnen sie am Bühnenboden oder stehen still wie Statuen.

Der Stil, in dem sie sich bewegen und posieren, erinnert an die Zeitlupenästhetik von Robert Wilson, auch ans Tanztheater von Pina Bausch oder an die Gruppendramatik von John Neumeier.

Fast 80 Einzelszenen kollidieren hier miteinander. Direkte Zusammenhänge ergeben sich nur im Rückblick. Kontraste sorgen dafür, dass der Spannungsbogen nie abreißt.

Das schauspielerische Niveau ist unerhört hoch. Breth war schon immer gut darin, ihre Spieler zu motivieren. Jetzt übertrifft sie sich selbst.

Sinnlichkeit und Präzision bestimmen den Ausdruck.

"Ich hab die Nacht geträumet" von Andrea Breth

Session auf gelbem Sofa mit Alexander Simon, Martin Rentzsch und Johanna Wokalek in „Ich hab die Nacht geträumet“ von Andrea Breth am BE. Foto: Jörg Brüggemann

Drei Mal wird ein gelbes Sofa zum Schauplatz fragwürdiger Paarbeziehungen. Ein Plüschhund, der singen kann, ist dabei ein Partner. Ein anderes Mal beschwert sich eine Frau, dass sie in einer Frühstückspension mit Blick auf ein AKW gelandet ist – statt im Ritz in Paris. Ein lebloser Schwan wird beschmust, ein ausgestopfter Dompfaff besungen: Es triumphiert das Groteske, von abgrundtief schwarzem Humor beseelt.

Ein Mensch mit Megaphon überquert mal das Bühnenfeld, das von einer grauen Schiebewand in einen vorderen und einen hinteren Teil geteilt wird (Design: Raimund Orfeo Voigt). Hinten lacht eine Frau dazu hysterisch. Bis sie tot umfällt, erschossen. Einfach so.

Später angelt sich eine Dame in großer Ballrobe ein Klavier, einen Flügel: Sie zieht ihn aus dem Schnürboden, bis sie drunter liegt.

Das Mädel im Partykleid hat derweil unbändige Lust zu tanzen und übersieht den feschen Mann, der bäuchlings zu ihren Füßen liegt, in einem Buch blätternd.

Ein Mann landet im Tannenbaum, auch er wurde ohne Warnung abgeknallt. „Mach dir nichts draus“, der Song, der ihm zum Abschied gesungen wird, klingt wie zeitlos gültiger Hohn.

Aber wenn die Gestik von Olaf Scholz köstlich parodiert wird und Putin am Telefon „Dimitry“ genannt wird, gibt es keinen Ausweg mehr: Es handelt sich um Theater von heute.

Das ist Kunst für Menschen, die – wie eben Andrea Breth – morgens aufwachen und die kriegerische deutsche Gesellschaft als Alptraum empfinden.

"Ich hab die Nacht geträumet" von Andrea Breth

Martin Rentzsch als weißer Wolf trägt Wilhelm Tell: zu sehen in „Ich hab die Nacht geträumet“ von Andrea Breth am BE. Foto: Jörg Brüggemann

Kriegstreiber werden sich hier hingegen nicht wiederfinden. Die Abkassierer aus der Rüstungsindustrie, die wandelnden Nebelmaschinen aus der Politik, die Sprücheklopfer aus der Werbung sprich von der Propaganda – sie alle haben hier nichts verloren.

Dabei ist Breth eine Meisterin des Mysteriösen und Unausgesprochenen.

Oft ergänzen daher Körperlichkeit und Gesang die Dialoge. Die Schauspieler gehen dabei bis an die Grenze dessen, was elegant machbar ist.

Ein Genuss mit Esprit nach Noten.

Mit dem das Stück begleitenden Musiker Adam Benzwi fand Breth eine verwandte Seele, einen versierten Bühnenfachmann, der schon mit Angela Winkler, Gisela May, Désirée Nick, Judy Winter, Dagmar Manzel und Daniela Ziegler arbeitete. All diese Diven würden sogar ins Breth’sche Programm passen. Aber man vermisst sie hier auch nicht, denn die fünfzehn Schauspielenden (und Singenden) von „Ich hab die Nacht geträumet“ füllen die Szenen vollauf mit ihrer Personalität.

Der Titel, ja der Titel will vielleicht noch extra beleuchtet werden. Es ist eine Liedzeile aus einem Volkslied, das im Stück wie ein Chanson im Sprechgesang  vorgetragen wird. Der Traum, der beschrieben wird, verkündet Unheil.

Der Tod des Geliebten wird beim Erwachen befürchtet.

Aber ist es nicht die Liebe selbst, die im Krieg stirbt?

"Ich hab die Nacht geträumet" von Andrea Breth

Glück nach der tragikomischen Show: Abschiedsapplaus im BE nach „Ich hab die Nacht geträumet“. Foto: Gisela Sonnenburg

Am Ende wird dem Publikum ein Ständchen gebracht. Von 1932 stammt dieses Lied namens „Gib mir den letzten Abschiedskuss“.

Was zunächst floskelhaft wirkt, entpuppt sich als prognostizierter Abschied: vom Theater, vom Kulturleben, von der Zivilisation. Ist das, was wir erleben, nicht eher eine Entzivilisierung als eine Entwicklung der Geschichte vorwärts?

Wo Krieg ist, soll die Kunst, soll der Mensch eben nicht schweigen.
Gisela Sonnenburg

www.berliner-ensemble.de

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