Wer beim Titel „Schmetterling“ luftige, batikbunte Wallekleider in Übergröße erwartet, die beim Heben der Arme zu flatterhaften Flügeln werden, wird vom neuen Programm beim Bayerischen Staatsballett in München überrascht sein. Das Choreografenduo Sol León und Paul Lightfoot hat einen erlesenen modernen Geschmack und ist bekannt für eine eigenwillige Umsetzung des Purismus. Die gebürtige Spanierin León und der Brite Lightfoot (nomen est omen, kleiner Scherz) lernten sich als Tänzer beim NDT (Nederlands Dans Theater) kennen und wurden neben ihren Bühnenkarrieren ein choreografisches Team. Und das schon seit 1989. Nach mehr als 60 Uraufführungen beim NDT in Den Haag sind jetzt erstmals im Nationaltheater zwei Stücke von León und Lightfoot zu sehen.
Die Einführungsmatinee am gestrigen Sonntag weckte die Neugier: Das kreative Paar war anwesend und ließ sich von Dramaturg Serge Honegger bereitwillig befragen. Ausgewählte Tänze gaben einen praktischen Einblick in die Premierenvorbereitungen.
Zwei Wochen vor dem Premierenevent sind die Choreografien bereits eingebimst und sitzen als schritttechnische Abfolge ziemlich sicher. Was aber noch nicht fertig ist, sind Ausdruck, Stil, Lebendigkeit.
Das erste Stück, das im Programm „Schmetterling“ zu sehen ist, stammt von 2005: „Silent Screen“ („Stiller Bildschirm“) behandelt die acht Grundgefühle, die zum Beispiel im Stummfilm eine Rolle spielen.
Trauer, Wut, Zorn und Glück sind vier davon.
Sol León: „Ich war immer vom Stummfilm fasziniert, und für dieses Stück habe ich mich auf seine grundlegenden Emotionen konzentriert.“
Sie arbeitet generell viel mit Mimik, also mit dem Gesichtsausdruck der Tänzerinnen und Tänzer – was sie von vielen Choreografen unterscheidet und sozusagen als Psychologin vom Dienst im Betriebssystem Ballett hervorhebt.
2005 hatte sie ein Kleinkind im Haus, und auch in der Kommunikation mit dem kleinen Menschen bewährten sich die Mimiken mit den acht Emotionen.
Zugleich beobachteten Sol und Paul, dass die alten Menschen, wenn sie pflegebedürftig werden, selbst auch wieder wie die Kinder werden.
Bevor die Menschen den Erdball aus Altersgründen verlassen, werden sie also wieder zu Abhängigen und oft auch Fragenden, weil sie Vieles nicht mehr verstehen.
Dieser Zusammenhang von Jugend und Alter kristallisiert sich in „Silent Screen“ als Kernthema heraus. „Familie – Muttersein – Tod“ – so könnte man in Schlagworten paraphrasieren, was die Künstler meinen.
Na, da ist doch eine tänzerische Kostprobe gefällig! Matteo Dilaghi und Marta Navarrete Villalba zeigten einen „White Pas de deux“, nicht aus der „Kameliendame“ von John Neumeier, sondern eben aus „Silent Screen“.
In schlichten weißen Kostümen, er oben ohne, sie im Blusenstil, begriffen die beiden tanzenden Figuren sich wortwörtlich gegenseitig. Dieses Paar bereitet sich auf eine Phase der Veränderung vor, stützt und befragt sich, gibt sich Halt.
Etwa eine Dreiviertelstunde dauert das ganze Tanzstück zu elegisch-melancholischen Musiken von Max Richter und Philip Glass. Man ist gespannt, wie sich die angebahnten Konflikte hierin lösen werden!
Dass sechs Personen bezahlt wurden, um das Ballettchen in München einzustudieren, scheint allerdings ein bisschen weit ausgeholt, und das riecht schon danach, dass die Choreografen einige ihrer Kumpels hier mit durchfüttern lassen.
Mit „Schmetterling“, dem Titelstück von 2010, flattert dann eine ganz andere und doch auch ähnliche Stimmung herbei. Die Musik stammt von Magnetic Fields (deren Song „Butterfly“ gab dem Stück seinen Namen) und wieder von Max Richter, der mit seinem gleitenden, elektrisch verstärkten Violinensound im modern-ästhetischen Ballett immer eine sichere Nummer ist.
Hier wurden übrigens gleich sieben Leute bezahlt, um die Einstudierung zu besorgen. Ganz schön happig.
Zumal heutzutage die choreografische Schrittabfolge von den Tänzern zumeist sowieso schon vor den Proben mittels Video gelernt wird.
Dafür hat das Stück ein spannendes Thema:
Die zwei Universen sprich Ansichten, die eine Person ausmachen. Gemeint sind jene beiden Welten, die in jedem, auch in dir sind. Damit geht es nicht nur ums Selbstbild und Fremdbild, sondern auch um das Image, die Fassade, das Rollenspiel einer Person im Gegensatz zu ihrem Innersten, das sich in der heutigen Welt oft klein, einsam und unverstanden fühlt. Da ist das Außen-Bild und das Eigen-Bild. Allerdings: In dir sind beide lebendig, das nützliche Abziehbild und dein eigentliches Ich.
Differenzen gibt es aber nicht nur im Kopf eines Menschen im Kampf mit sich selbst. Auch verschiedene Menschen haben, das wissen wir alle, Probleme und Problemchen miteinander.
Sol León etwa sagt, dass sie sich manchmal zu Unrecht übergangen fühlt. So, wenn sie hart an einem Stück arbeitet und alles Lob aber irgendwie Paul Lightfoot ausgesprochen wird.
Jede Frau kennt das: Leistung wird (auch von Frauen übrigens) immer noch wie selbstverständlich eher den Männern als den Frauen zuerkannt. Ganz automatisch, als seien Frauen sowieso zu nichts wirklich Wichtigem oder Gutem in der Lage. Alles, was von ihnen kommt, wird sogar am liebsten als Geschenk angenommen, ohne dafür angemessenen Respekt zu zollen.
Sehr viele Frauen machen diese Erfahrung im Beruf, aber auch im Privatleben. Es ist mutig und gut, dass Sol sie hier an- und ausspricht.
Im „Schmetterling“ wiederum spielen auch unausgesprochene Konflikte eine Rolle – sowie aufeinander prallende Wesensverschiedenheiten.
Das Grundprinzip hier, so das Choreografenduo, sei Dualität.
Eine Kernzeile im Song von Magnetic Fields heißt denn auch: „I cannot make you stay“, und mit diesem Lamento ist die Situation zwischen zwei Liebenden auch schon klar.
So wird aus einem Pas de deux, den Rafael Vedra und Bianca Teixeira tanzen, alsbald ein Pas de trois mit dem Starballerino Osiel Gouneo.
Salsa-Elemente in der Musik verströmen ein gewisses Latin Flair.
Und die Tänzer dürfen sich außer der Mimik und der tänzerischen Gestik auch der Töne bedienen: Lautes Ausatmen und „Huh!“ gehören hier zu ihrem Repertoire an Ausdrucksmitteln.
Ins Komische driftet all das aber nie ab. Erhabene Schönheit sei das alleinige Ziel des zeitgenössischen Balletts, sagen Nörgler, und vielleicht haben sie damit in Programmen wie hier nicht ganz Unrecht.
Wobei die Schönheit natürlicherweise zum Ballett gehört wie das Amen in die Kirche.
Und so bezaubern Kristina Lind und Robin Strona mit eleganten Hebungen im Paartanz. Beide tragen Kostüme in festlichem Schwarz, und auf eine geheimnisvolle Weise scheint hier die Tradition von George Balanchine weiterzuleben.
Premiere ist am 31. März 23. Einige Plätze sind allerdings im zweiten Teil des Abends stark sichtbehindert, sogar zu 70 Prozent, weil der Orchestergraben überbaut und Teil der Tanzbühne wird. Also Augen auf bei der Platzwahl!
Franka Maria Selz / Gisela Sonnenburg
www.bayerisches-staatsballett.de
Und tatsächlich war die Premiere ein voller Erfolg: Allen voran rührt und bezaubert Laurretta Summerscales im „Schmetterling“ in der Partie einer älteren Dame, die sich im Pas de deux mit jungen Herren an ihre Jugend erinnert. Kristina Lind, die ihrerseits mit fabelhaften Linien fasziniert, könnte das junge Ich dieser Figur sein. Aber auch andere Personen, insgesamt sind es hier zwölf auf der Bühne, haben tänzerisch emotionale Mitteilungen zu machen. Und auch im ersten Teil, im „Silent Screen“, machen die grundlegenden Gefühle der hier elf Tänzer:innen nachdenklich. Ein Mensch erscheint im Film so plastisch, dass man glaubt, er bewege sich auf der Bühne. Aber lebt er überhaupt noch? Oder ist es nicht vielmehr ein Geist, der hier die Inspiration liefert? Melancholie und Trauer sind für unsere Kultur prägend, das macht dieser poetisch-realistische Abend fasslich.
Franka Maria Selz / Gisela Sonnenburg