Das kleine Mädchen und die große Diva Heute vor 25 Jahren verstarb mit Galina Ulanowa eine Ballerina, die das 20. Jahrhundert in Tanz verwandelte

Galina Ulanowa

Galina Ulanowa in einer ihrer Lebensrollen als Julia, hier mit Juri Schdanow als Romeo, im Jahr 1954. Foto: RIA Novosti Archive / Wikipedia

Als Lenin starb, fuhr sie mit dem Zug nach Moskau, mit 14 Jahren. Sie gehörte zur Abordnung der Ballettkünstler aus Sankt Petersburg, wo ihre Eltern Solistin und Ballettmeister waren. 1924 war die Welt noch groß und die Distanzen waren weit. Aber für „Galja“ bestand das Leben schon seit fünf Jahren vor allem aus fünf Positionen. Den fünf Fußpositionen des Balletts. Ihren Abschluss zur Ballerina machte Galina (Sergejewna) Ulanowa vier Jahre später, 1928 an der Schule des früheren Mariinsky und späteren Kirow-Theaters. „Staatliches Opern- und Balletttheater“ hieß es vorübergehend. In Moskau hatte sie als Erstes, eben als 14-Jährige, die Menschenmenge beeindruckt, die sich trauernd – in ihren Augen vor allem auch dankend – von Wladimir Iljitsch Lenin verabschiedete. Später tanzte Galina auf der Bühne des Bolschoi Theaters in Moskau, zuerst als Stargast, dann als Primaballerina. Die russische Erstaufführung dort 1940 von „Romeo und Julia“ von Sergej Prokoffiew war für die zielstrebige Tänzerin zunächst allerdings Fron: Bei den Proben wurde auf ihren Wunsch andere Musik gespielt, weil ihr die neuartigen, manchmal schräg-dissonanten Klänge Prokoffiews überhaupt nicht zusagten. Kein Zweifel: Galina Ulanowa war eine Diva, auch schon in jungen Jahren. Dabei sollte die Julia eine Art Lebensrolle für sie werden, die sie jahrzehntelang mit wechselnden Partnern tanzte.

Ihr zauberhaftes Gesicht schien dann wie erleuchtet. Galinas Wandelbarkeit war enorm, sie lebte die Gefühle auf der Bühne sichtlich bei jeder Vorstellung, als sei es die letzte. Ihr Ausdruck ähnelte dem in den frühen Schwarzweiß-Kinofilmen.

Zahlreiche Aufnahmen, die auf YouTube zu sehen sind, bezeugen ihre starke Wirkung. Gerade auch in „Giselle“ ist sie hinreißend – zart und doch unerbittlich sinnlich.

John Neumeier holte sie allen eisernen Grenzen im Kalten Krieg zum Trotz nach Hamburg, als er 1983 erstmals „Giselle“ zeigte: Ulanowa half ihm bei der authentischen Einstudierung.

Giselle - Tod einer LIebenden

Das Programmheft zu „Giselle“ beim Hamburg Ballett zeigt: Es gab im 20. Jahrhundert viele tolle Gisellen, so Galina Ulanowa (zweite von links oben). Faksimile: Gisela Sonnenburg

In der DDR waren zu diesem Zeitpunkt schon längst wichtige Bücher über sie erschienen. Eines davon war ein Kinderbuch, das die spätere Primaballerina Assoluta ebenso wie das Ballett an sich in die Herzen der ganz jungen Menschen trug: „Galja, die Tänzerin – Die Geschichte eines kleinen Mädchens“ von Magdalina Sisowa. Plastisch und anrührend wird darin die Kindheit von Galina erzählt: die Welt inklusive Revolutionsjahren aus der Perspektive des aufgeweckten, musischen Kindes.

Ihre Kinderfrau stirbt. Es kommt keine neue. Morgens ist kein Zucker mehr da für den Tee. Der Wind pfeift durch den ungeheizten Ofen. Das Schultertuch der Kinderfrau wärmt zu wenig. Galja hat nicht das, was man eine leichte Kindheit nennen würde. Aber sie erlebt alles so intensiv und umhüllt von der Geborgenheit elterlicher Liebe, dass man spürt: Sie wird es schaffen, ein erfüllter Mensch zu werden.

Darum geht es in dem Buch nämlich auch: Um die sinnvolle Sozialisierung junger Menschen. Das ist etwas, das viele Erziehungsberechtigte heute nicht hören wollen: dass man Kinder erziehen muss. Dass man ihnen Liebe und Verbindlichkeit vorleben muss. Dass man ihnen die Welt erklärt, ohne sie zum Computerspiel zu machen.

Tuberkulose. Die kleine Galja trifft ein Mädchen, das Knochentuberkulose hat und darum nicht mehr tanzen kann. Sie hofft, es möge wenigstens Admiral werden, das müsste mit krummen Beinen doch gehen?!

Die kindliche Logik, aufbauend und zuversichtlich in ihrem Duktus, vermischt mit der Grausamkeit der Realität – diese Melange ist wirklich sehr gut getroffen in diesem Band.

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Und aus dem kleinen Mädchen wird langsam, aber sicher die große Diva. Aufgabe reiht sich an Aufgabe, Schuljahr an Schuljahr, Aufführung an Aufführung. Agrippina Waganowa unterrichtet sie, gibt ihr den letzten Schliff.

Galinas erstes Solo ist eine Polka von Rachmaninow: ein einziger, spritzig-schwebender Spitzentanz.

Sie ist faszinierend im Bühnenlicht, das Publikum verfällt ihrem Charme, ihrer Bestimmtheit, ihrer Hingabe.

Aber manche hinter den Kulissen denken gespalten über sie: „nett, aber auch schüchtern und kalt“. Die Buchautorin Sisowa kommentiert das klug: „So urteilten diejenigen über die Schülerin Ulanowa, die nicht den Unterschied erkannten zwischen Kälte und Ernst, zwischen Schüchternheit und Reinheit, und nach alter Gewohnheit von der Balletttänzerin lediglich Fröhlichkeit und ein bezauberndes Lächeln erwarteten.“

Die Welt gewöhnte sich an die neue Ernsthaftigkeit im Ballett. Und man lernte Galina lieben.

Galina Ulanowa

Galina Ulanowa 1941 in einer Aufzeichnung als „Sterbender Schwan“. Glamourös und doch einfach verständlich! Faksimile von YouTube: Gisela Sonnenburg

Einige Jahre später tanzt sie als Berufsanfängerin die Doppelrolle der Odette und Odile im „Schwanensee“. Es ist fast ein Skandal, weil sie noch so jung ist. Der Neid sogar unter ihren Freundinnen am Theater macht ihr zu schaffen. Wie im Nebel fühlt sie sich, entrückt und isoliert. Aber alles geht gut, nach der Vorstellung brandet der Jubel auf. Nur die gehässige Bemerkung einer Kollegin sticht sie ins Herz. Sie sei ja ein hässliches Entlein, kein schöner Schwan, lacht es in ihr. Oh je! Aber auch das wird ihr fortan noch mehr Ansporn sein.

Dass sie privat Porzellan sammelt, ist der vornehmen Meißner Porzellantasse geschuldet, aus der sie nach den Trainings und Proben auf der Ballettschule heißes Wasser zu trinken bekam. In Moskau kann man die Wohnung, in der sie jahrelang – mit edlem Porzellan – gelebt hat, besichtigen wie ein Museum.

Galina Ulanowa

1952 tanzt Galina Ulanowa hier in „Les Sylphides“ – unverkennbar sie selbst, was schon an ihren Linien zu sehen ist. Faksimile von YouTube: Gisela Sonnenburg

1940 erhält sie das Ehrenzeichen der Sowjetunion, wird zur Volkskünstlerin RSFSR ernannt, später kommen weitere Ehrungen hinzu, wie mehrfach der Stalin- und 1957 auch der Leninpreis. Bis 1961 stand sie regelmäßig auf der großen Bühne in Moskau. Danach unterrichtete sie, prägte so weiter den Stil des unsterblichen sowjetischen Balletts. Sie starb mit 88 Jahren, am 21. März 1998, und ihr Grab ziert ein steinernes Denkmal. Man kann sagen: Das 20. Jahrhundert gehörte ihr.

Ihr weißer Pudel hieß übrigens „Bolschoi“.

Galjenka, wir denken an Dich!
Gisela Sonnenburg

 

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