Die verlorene Unschuld des Ballettintendanten Christian Spuck Zwanzig Jahre Staatsballett Berlin: Pünktlich zur Jubiläumsgala verliert Ballettintendant Christian Spuck ein Hausverbot-Gerichtsverfahren

Staatsballett Berlin - Christian Spuck - Werbekampagne

Man darf ruhig sagen, dass die aktuelle Foto-Campagne vom Staatsballett Berlin schlicht und ergreifend superschlechtem Geschmack entspricht. Ob im Theaterkontext oder in der U-Bahn. Foto: Gisela Sonnenburg

Das Staatsballett Berlin sollte glänzen und fröhlich sein. Aber ausgerechnet zur Jubiläumsgala am kommenden Sonntag hängen düstere Wolken über der guten Stimmung, zumindest für Ballettintendant Christian Spuck (54). Er hatte nämlich einen Plan ausgeheckt, um einer Kritikerin zwar nicht den Mund zu verbieten, sie aber generell von einem wesentlichen Teil der Recherchen, nämlich den Vorstellungsbesuchen, auszuschließen. Das hatte er sich fein ausgedacht: Der erfolgsverwöhnte Ballettchef wollte die Kritiken aus meiner Feder nicht mehr dulden und erteilte mir unter absurden Vorwürfen ein unbefristetes Hausverbot für alle Veranstaltungen vom SBB. Für eine Berufsballettkritikerin ein herber Schlag. Doch das Verwaltungsgericht Berlin – vom „Spiegel“ kürzlich als „Maschinenraum des Rechtsstaats“ bezeichnet – entschied jetzt, dass so etwas nicht möglich sei. Nicht nur als Kritikerin, sondern auch als offenbar missliebige Person darf ich „nach Belieben“ wieder alle Vorstellungen besuchen. Der Rechtsstaat hat da wirklich demokratisch funktioniert. Das hier ist eine sehr gute Nachricht für alle Anständigen! Auch wenn sie manchen Herrschaften von der Stiftung Oper in Berlin, zu der das Staatsballett Berlin rechtlich gehört, nicht ganz so schmecken dürfte.

Für mich waren die Wochen seit dem 22. März 24, als mich der Fluch von Herrn Spuck in Form des Hausverbots per E-Mail ereilte, auch nicht ganz so schön. Es ist belastend, seine Arbeit nicht so ausführen zu dürfen, wie man es eigentlich möchte. Und es ist auch sehr belastend, wenn man das Gefühl haben muss, man sei ausgerechnet in einem Opernhaus in Gefahr, als Monster und Dämonin dargestellt zu werden. Ganz zu schweigen davon, dass mir die Freiheit, ins Ballett zu gehen, in Bezug aufs SBB einfach ganz genommen worden war. Spucks Vorgehensweise, unterstützt von einigen seiner Weisungsgebundenen, ist aber nicht nur subjektiv unverschämt, sondern auch objektiv erschreckend.

Man empfindet das als Kritiker besonders scharf. So eine Verleumdung, obwohl man redlich ist, sich grundsätzlich an die Wahrheit hält und ansonsten lediglich sein Recht auf freie Meinungsäußerung in Anspruch nimmt, ist tatsächlich perfide. Und so manches Gefühl kommt einem bekannt vor: aus der Kunst.

"La Sylphide" vom Staatsballett Berlin premierte 2019 in der Deutschen Oper Berlin

Aurora Dickie (2. von links) und der damalige Stargast Maria Kochetkova (3. von rechts) 2019 nach der Premiere von „La Sylphide“ beim Staatsballett Berlin  in der Deutschen Oper Berlin. Foto vom Schlussapplaus: Gisela Sonnenburg

In Balletten wie „La Sylphide“ und „Romeo und Julia“ ist der Hass der Mächtigen auf die Unschuldigen sogar tödlich. Die Sylphide stirbt an einem von einer Hexe vergifteten Schal, und Romeo und Julia töten sich, weil man sie nicht zusammen leben lässt. Hass ist ja so ein hässlich Ding! Hass und Kritik voneinander abzugrenzen, fällt allerdings einigen Arrivierten in dieser Gesellschaft offenbar schwer. Wieso nur?

In einer Demokratie darf so etwas eigentlich gar nicht vorkommen. „Kritiker raus!“ – diese Nummer sollte Diktaturen vorbehalten sein. Dennoch scheint es zur Zeit Mode, unbequeme Zeitgenossinnen und Zeitgenossen einfach aussperren zu wollen.

Wenn man sie schon nicht mit Hundedreck beschmiert, wie es Marco Goecke mit Wiebke Hüster von der FAZ im letzten Jahr machte.

Ob dabei bedacht wird, wie bitterernst solche Maßnahmen sind? Zumal, wenn sie haltlos mit stumpfsinnigen Falschbehauptungen begründet werden.

Was eine Beleidigung ist und was nicht, kann man in unserem Rechtsstaat im Internet nachlesen. Aber stattdessen einfach die eigene Eitelkeit zum Maßstab nehmen – das geht nicht.

Christian Spuck hat seine Unschuld verloren. Ein illegal erteiltes Hausverbot schmückt keinen Intendanten. So etwas sollte ein Ballettboss niemals tun.

Christian Spuck verliert zur Jubiläumsgala

Christian Spuck und Polina Semionova in „Der Tag“ beim rbb. Hinter ihnen eine tanzende Leiche von Gunther von Hagens – der rbb fand’s schön. Videostill: Gisela Sonnenburg

Und wenn Spuck beim rbb in einer wenig anspruchsvollen Fernsehsendung säuselt, er könne „mit reinem Gewissen feiern“, dann ist das vor dem Hintergrund, dass er eiskalt und wie nebenbei einer Kritikerin den Zutritt verbieten wollte, nicht mehr glaubhaft.

Ist das nun das wahre Gesicht des Christian Spuck? Lächelt er nach vorn und macht einen auf devot, während er hintenrum die kritische Intelligenz aus dem Opernhaus entsorgen lassen will?

Vor zwanzig Jahren wäre beim Staatsballett Berlin so etwas jedenfalls nicht passiert. Ich erinnere mich noch gut an mein erstes Interview mit Vladimir Malakhov, 2004, im Gründungsjahr vom SBB. Wir saßen unter Zimmerpalmen  in der Kantine im „Magazin“ der Staatsoper Unter den Linden. Es ging um den aktuellen Spielplan und um künftige Vorhaben, das Ballett der damaligen Aufbruchstimmung in der Hauptstadt gemäß zu gestalten.

Wie zufällig gesellte sich Daniel Barenboim, Generalmusikdirektor, dazu. Er und Malakhov waren damals noch nicht zerstritten, und Barenboim dirigierte von Herzen gern und gut Berliner Ballettabende. So war damals auch die musikalische Leistung beim Ballett ein Hochgenuss, ein Schwergewicht, etwas unbedingt Ernstzunehmendes. Die DVD „Der Nussknacker“ mit „Vladi“ Malakhov und Nadja Saidakova legt davon Zeugnis ab.

Kritiker wurden damals respektiert, nicht gehasst. Selbst wenn ein Künstler gekränkt war oder die kritische Tadelei nicht nachvollzogen werden konnte, wurde nicht blindlings irgendwie zurückgeschlagen.

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Christoph Schlingensief, der Film- und Theater-Regisseur und von mir vor allem als bildender Künstler verehrte Provokateur, rief mich nach einem furiosen Verriss mal dankend an. Ich solle ihn interviewen, das müsse sein, denn er habe aus meiner Kritik gelernt. So etwas scheint mir bei all den ichbezogenen Erfolgssüchtigen in der Kulturszene von heute schier unvorstellbar. Das Bedürfnis, sich zu rächen, stand nicht im Vordergrund. Schon gar nicht wurden standardisierte falsche Vorwürfe zur Allzweckwaffe.

Heutzutage ist es eher hypermodern, jemanden, der stets für die Werte der 68er und der Aufklärung gekämpft hat, als „rassistisch“, „verbal übergriffig“, sogar als „homophob“ und „diskriminierend“ zu bezeichnen. Wahrlich, ich habe jahrelang, bis es eingestellt wurde, für ein Schwulenmagazin geschrieben. Für ein weiteres erstellte ich eine Kolumne. In zahllosen Artikeln in verschiedenen Medien, selbstverständlich auch hier im Ballett-Journal, feierte ich schwule Männertänze und gückliche homosexuelle Paare.

Ich habe mich für Multikulti eingesetzt, als es das Wort noch nicht mal gab. Und ich kämpfe gegen Faschismus in jedweder Erscheinung, wo immer es mir mit meinen Waffen – mit dem zivilisierten Wort und der gespitzten Feder – möglich ist. Mich irgendwo rauszuschmeißen, weil ich angeblich die Mindeststandards in Bezug auf Toleranz nicht einhalte oder sogar Vorstellungen stören soll (womit? Mit Bravo-Rufen am Ende?) – das ist nicht genial, sondern rechtswidrig.

Die Kollegin Dorion Weickmann von der SZ und TANZ wird sich wundern, wenn sie am Sonntagvormittag im Rangfoyer der Deutschen Oper in Berlin vor Publikum mit sorgsam ausgewählten Damen und Herren über das Thema „Zwanzig Jahre Staatsballett Berlin“ plaudert: wie harmlos, lieb und nett alle zu ihr sind. Wie kommt es denn, dass man zu ihr, die fester Bestandteil des millionenschweren Konzernsystems ist, so überaus freundlich ist, während ich geschmäht, diskriminiert und sogar „verboten“ werde?

Ob sie den Grund herausfinden wird?

Die Internationale Ballettgala XXXVIII beim Ballett Dortmund 2024

Dieser Grand Pas de deux aus „Dornröschen“ in der Version von Marcia Haydée, getanzt von Haruka Sassa und Martin ten Kortenaar vom Staatsballett Berlin, wird auf der Jubiläumsgala vermutlich fehlen. Foto: Admill Kuyler

Nach der kleinen 11-Uhr-Runde von Frau Weickmann, bei der einige Angestellte vom SBB und auch der ehemalige Berlin-Chef Klaus Wowereit als Vorstandsmitglied des geldgebenden Freundeskreises mit dabei sein werden – in der der Gründungsintendant Vladimir Malakhov aber ebenso fehlt wie der berühmteste lebende Choreograf, den das SBB je für Kreationen hatte, also Nacho Duato  –   gibt es am Sonntagabend ab 18 Uhr dann noch die ganz große Geburtstagsshow vom Staatsballett zu sehen.

Gala – 20 Jahre Staatsballett Berlin – Jubiläumsgala“, so der offizielle Titel des Spektakels, das ebenfalls in der Deutschen Oper Berlin stattfinden soll. Um es gleich zu sagen: Hier bleibt das SBB mehr oder weniger unter sich, denn außer dem ständigen SBB-Gast Polina Semionova, die ja nun auch in Berlin lebt, wurde kein internationaler Star von außerhalb angekündigt. Das ist insofern seltsam, als eine Gala normalerweise dazu da ist, den Horizont zu öffnen und das gastgebende Ensemble im Zusammenklang mit der großen weiten Welt zu zeigen.

Aber bei Christian Spuck zählt nur das Hausgemachte. Das geplante Programm der Gala ist denn auch weitgehend bekannt. Er wird es selbst live moderieren, zusammen mit der rbb-Reporterin Petra Gute.

Man staunt allerdings, dass das bedeutendste Stück, dass vom SBB jemals getanzt wurde und das viele Jahre sogar als „Signaturstück“ der Truppe galt, auf der Gala offenbar fehlt: „Onegin“ von John Cranko, der darin auf den Spuren von Alexander Puschkin wandelt  und das Leben und Lieben eines russischen Dandys im 19. Jahrhundert beschreibt.

Mit der Musik von Peter I. Tschaikowsky in der Bearbeitung von Kurt-Heinz Stolze ist dieses Ballett unsterblich geworden und hat es definitiv nicht verdient, zur Jubelfeier vom SBBtotgeschwiegen zu werden.

Und auch „Romeo und Julia“, „Der Nussknacker“, „Giselle“, „Jewels“ und „Dornröschen“ bleiben wohl draußen – ohne offizielles Hausverbot.

Hier tanzen Dinu Tamazlacaru und Iana Salenko, damals beide beim Staatsballett Berlin, die „Rubies“ in „Jewels“ – es ist der witzige Teil des dreiteiligen Balletts. Leider steht nichts davon auf dem Plan zur  Jubiläumsgala vom SBB. Foto: Carlos Quezada

Nur drei der angesagten Programmpunkte entsprechen dem klassisch-neoklassischen Stil: ein Paartanz aus „Schwanensee“ von 1895, der „Tschaikowsky-Pas-de-deux“ von George Balanchinevon 1960 und der „Grand Pas Classique“ von Victor Gsovsky aus dem Jahr 1949. Alle drei feiern das Virtuose – etwas eintönig.

Wo bleibt das Lyrische des klassischen Tanzes? Gerade das Staatsballett Berlin hatte immer seine Stärken darin. Und wo bleibt die Romantik, die nicht nur ein schönes Gefühl, sondern auch eine historische Epoche bezeichnet?

Alles, was Christian Spuck nicht interessiert, bleibt anscheinend draußen.

Und ansonsten geht es laut Programmplanung ziemlich modern zu. Von Spuck selbst wird eine Uraufführung erwartet, die er bislang noch nicht benennen konnte. Die Musik soll von Ludwig van Beethoven stammen, der bekanntlich auch schon Maurice Béjart und John Neumeier zu choreografischen Großtaten inspirierte. Leider sieht man von diesen beiden Tycoonen der Tanzkunst nichts auf Spucks Jubelplan.

Der Altmeister der Avantgarde William Forsythe steuert dafür sein sattsam bekanntes Glanzstück aus „In the Middle, Somewhat Elevated“ bei. Es ist mit seiner furiosen Zackigkeit und ästhetischen Schrägheit sein bestes Stück, fraglos. Aber:

Spucks Staatsballett bietet somit nach dem Ballett Dortmund und nach dem Wiener Staatsballettschon als dritte Company in nur zwei Wochen dieses Frühwerk von Forsythe als Highlight bei seiner Ballettgala an. Einfallsreichtum geht anders.

Immerhin tanzen Polina Semionova und Martin ten Kortenaar das Teil von Forsythe in Berlin. Eine spannende Kombination!

Johannes Öhman hat Geburtstag

„In the Middle Somewhat Elevated“: Yolanda Correa, die zeitweise auch dem Staatsballett Berlin ihren Glanz verlieh, tanzt hier das beste Stück von William Forsythe beim Norwegischen Nationalballett. Foto: Erik Berg

Ein anderer Star, der früher fest zum SBB gehörte, darf leider nichts Neues anbieten, dafür aber den beliebtesten Gassenhauer aus seinem Repertoire zeigen: Dinu Tamazlacaru wird mal wieder das Chanson-Solo „Les Bourgeois“ von Ben van Cauwenbergh, der soeben als bisheriger Ballettchef vom Essener Aalto Ballett in den Ruhestand ging, meistern. Auf ungezählten Galas innerhalb und außerhalb von Berlin hat er damit schon in den letzten fünfzehn Jahren brilliert. Man sollte aber nicht nur darauf achten, wie hoch der Ballerino springt, sondern vor allem darauf, was er damit auszudrücken vermag.

Die scheidende Starballerina Ksenia Ovsyanick kann dann mit David Motta SoaresAria“ von Douglas Lee zelebrieren. Es ist so schade, dass Ksenia das Staatsballett Berlin verlässt. Es ist nämlich immer wieder faszinierend zu sehen, welch großartige Kunst Ksenia Ovsyanick zeigen kann.

Sie hat übrigens am Donnerstag, den 11. Juli 2024, als „Giselle“ ihre Abschiedsvorstellung in der Staatsoper Unter den Linden. Welch Zufall: Als „Giselle“ hatte sie auch ihre erste große Vorstellung in Berlin, mit dem SBB im Schiller Theater, an der Seite des mittlerweile tragisch verstorbenen Denis Vieira.

In „Onegin“ tanzte Ovsyanick übrigens zuerst die zarte Olga, um später eine zutiefst beeindruckende Tatjana abzugeben. Ach! Selige Erinnerungen werden wach…

Und noch eine berühmte Tatjana ist auf der Gala vertreten: Die mexikanische Welttänzerin Elisa Carrillo Cabrera wird mit „Tué“ („Getötet“) ein Stück vom „Dackelkacke-Choreografen“ Marco Goecke aufführen. Aber auch diese versierte, verdiente Tänzerin verlässt dann das SBB.

Abschieds-Gala für Mikhail Kaniskin

Mikhail Kaniskin und Elisa Carrillo Cabrera nach „Onegin“ auf der Abschiedsgala für „Mischa“ 2020 beim SBB. Da flossen schon ein paar Tränchen… Foto: Gisela Sonnenburg

Nun richtet Elisa schon seit Jahren eigene Galas aus: in Mexiko, wo sie als Kulturbotschafterin anerkannt ist und zu den wichtigsten Persönlichkeiten des Landes zählt. Aber ihre Karriere hat sie in Deutschland begonnen und gemacht: Zuerst beim Stuttgarter Ballett, dann beim Staatsballett Berlin, zusammen mit ihrem Gatten Mikhail Kaniskin, dem wir, 2020 und 2021 war das, große Ballettgalas mit internationalen Stargästen in Berlin verdanken konnten. Ach, das war himmlisch!

Mit Ksenia Ovsyanick und Elisa Carrillo Cabrera verliert Berlin nun aber auch noch gleich zwei seiner Sterne des Balletts.

Für eine eher triste Zukunft ist also gesorgt. Außer der für eine Tänzerin nicht mehr jungen Polina Semionova (39), der ebenfalls nicht mehr jungen Iana Salenko (40) und der hier noch neuen Haruka Sassa (31) gibt es dann keine Tänzerin mehr in Berlin, die als Primaballerina brillieren könnte.

Die Klassik beginnt unter Spuck zu hinken. Es gab ja auch schon ganze Monate, in denen das SBB ausschließlich Technotänze und Techniktheater anbot.

Solange man häufig mit dem Schild „Ausverkauft“ winkt, scheint das für viele in Ordnung. Touristen füllen immer öfter die Vorstellungen. Bei den jüngeren Zuschauenden hat man mitunter den Eindruck, sie kämen nur zum Anglühen ins Opernhaus, wollten aber eigentlich in einen Club.

Ballett als Party-Vorspiel. Wer einen künstlerisch höheren Anspruch hat, geht leer aus – und muss zum Beispiel zum Hamburg Ballett fahren, um tolles aktuelles Ballett zu sehen.

Vor zwanzig Jahren war das noch ganz anders in Berlin.

Mit Vladimir Malakhov leitete ein Superstar das frisch gegründete SBB, das sich aus Tänzern der drei Berliner Opernhäuser zusammensetzte. Bald kamen Fans (keine üblichen Touristen) aus dem In- und Ausland, um mit der damals großen Berliner Ballettgemeinde Tanz auf höchstem Level zu genießen.

Dinu Tamazlacaru als Lenski

Poetisch bis zum Anschlag: Dinu Tamazlacaru als Lenski in John Crankos „Onegin“. Foto: Enrico Nawrath

Angelin Preljocaj inszenierte sein legendäres „Schneewittchen“ zu Musik von Gustav Mahler. Unvergessen darin: die Szene der an einer steilen Felswand an Seilen schwebenden „sieben Zwerge“, die Bergarbeiter-Lampen am Helm trugen und zugleich märchenhaft und proletarisch-realistisch wirkten. Es war ein Tanz in der Luft, an der Wand, irgendwie hochmodern, aber im Rahmen einer erzählten Handlung. Wirklich irre.

Onegin“ von John Cranko wurde damals auch oft und hervorragend getanzt, in Hochglanz-Besetzungen. Nadja Saidakova, heute Ballettmeisterin, war mit Mikhail Kaniskin unschlagbar als Dreamteam des ungleichen Paares Tatjana – Onegin.

Wieslaw Dudek war ebenfalls bemerkenswert als Onegin. Sonst nicht ganz so auffallend leidenschaftlich auf der Bühne, verlieh er dem Dandy, dem zu spät einfällt, wie bedeutend die Liebe im Leben ist, einen besonderen Touch von Existenzialismus.

Die zweite männliche Hauptrolle, Lenski, wurde oft und ganz exquisit von Vladimir Malakhov selbst getanzt. Es ist eine lyrisch-sinnliche Partie, die männliche Zartheit mit feurigem Temperament vereint.

Später war Dino Tamazlacaru eine traumhafte Bilderbuchbesetzung; der Weltstar Daniil Simkin, vom dann früh scheiternden Intendanzgespann Sasha Waltz und Johannes Öhman engagiert, kam tatsächlich nicht ganz daran heran.

Im ersten Jahrzehnt vom SBB gab es dann auch Galas, die diesen Namen wahrhaft verdienten. „Malakhov & Friends“ wurde ein Markenname, und Stars aus aller Welt kamen, um dabei zu sein.

„Die Bajadere“ von Vladimir Malakhov beim Staatsballett Berlin: noch mehr Liebesgefühle als sonst mit Bayaderen…

Shoko Nakamura, mit der Vladimir Malakhov die ersten Schritte für seine „Bajadere“ entwickelte, mit Mikhail Kaniskin beim Staatsballett Berlin. Foto: Enrico Nawrath

Tokio, London, Sankt Petersburg – tout le monde tanzte manchmal auch in Berlin. Und das SBB kam gut weg bei den Galas, es zeigte, dass es sowohl die Klassik als auch Zeitgenössisches vorzüglich zu interpretieren wusste.

Die gebürtige Berlinerin Beatrice Knop trippelte einem darin als „Der sterbende Schwan“ eine wohlige Gänsehaut herbei. „The Sofa“ von Itzik Galili war das akrobatisch-clowneske Beziehungsdrama zu dritt. Es gab auch kleine Trouvaillen wie „Not any more“ von Raimondo Rebeck, dem künftigen Co-Chef vom Staatsballett Karlsruhe: Er brachte melancholische Liebe auf die Bühne.

Scheherazade“ von Mikhail Fokine zeigte die Anfänge der Moderne, gemixt mit orientalisch angehauchter Klassik. Ach, das waren noch Zeiten!

Aber nicht mal „Die Bajadere“, ein weiterer Knüller der Malakhov-Ära, überlebte. Obwohl sie 2015 wieder mit großem Erfolg auf den Spielplan gesetzt wurde, verschwand sie bald auf Nimmerwiedersehen. Sie war aber nicht nur fürs Publikum erquickend, sondern auch für die Tänzerinnen und Tänzer ein guter  Deal, denn es gibt viele kleinere Solopartien darin, die Möglichkeiten bieten, sich auszuprobieren und ungeahnte Qualitäten zu beweisen.

Eine solche tänzerisch-fordernde Bandbreite hat „Bovary“, die erste abendfüllende Berliner Kreation von Christian Spuck, nicht.

Aber auch Malakhovs Nachfolger Nacho Duato schaffte es nicht, langfristig im Gedächtnis der Berliner Ballettspitze zu bleiben.

Feen à la moderne

Die sechs tollen guten Feen aus Nacho Duatos „Dornröschen“: klassische Figuren mit moderner Anmutung. Foto: Yan Revazov

Dabei ist er ein weltweit gerühmter Choreograf, dessen ästhetischer Stil gerade zum SBB sehr gut passte. Doch nicht mal „Le Sacre du Printemps“ von Pina Bausch, mit hohem Aufwand einstudiert, blieb im Repertoire lebendig.

So gingen viele Schätze verlustig, auch „Caravaggio“ von Mauro Bigonzetti.

Einst mit Malakhov in der Titelrolle uraufgeführt, wird ein „Caravaggio“-Pas de deux immerhin ein Höhepunkt auf Spucks Gala sein.

Der Gründungsintendant Vladimir Malakhov allerdings fehlt und wird schmerzlich vermisst. Bald hören wir hier mehr von ihm, versprochen.
Gisela Sonnenburg

Die Gala des Étoiles 2017 lockt nach Luxemburg

Legendär: Vladimir Malakhov und Beatrice Knop in „The old Man and Me“ von Hans van Manen… erotisch und ironisch, satirisch und voller Herzensgüte! Eine Gala-Nummer für den souveränen Geschmack. Leider nicht auf der Jubiläumsgala vom SBB zu sehen. Foto: Bettina Stöß

www.staatsballett-berlin.de

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