
Glückliche Gesichter nach der Vorstellung von „Die Kameliendame“ von John Neumeier am Nachmittag des 07. Juli 2024 beim Hamburg Ballett. Mit Alexandre Riabko, Michal Bialk, Ida Praetorius, John Neumeier und Jacopo Bellussi (von links). Foto: Gisela Sonnenburg
Vorerst heißt es Abschied nehmen. „Die Kameliendame“, eines der erfolgreichsten Stücke von Ballettgenie John Neumeier, verlässt das Hamburg Ballett für mindestens eine Spielzeit. Dafür werden neun andere Werke des großen Meisters kommen bzw. beibehalten, und die Programme, die der künftige Hamburger Ballettintendant Demis Volpi (als Neumeiers Nachfolger in diesem Amt) angekündigt hat, wirken durchdacht und spannend. Stücke von Justin Peck, Pina Bausch, Hans van Manen und Demis Volpi selbst bilden die kommende September-Premiere „The Times Are Racing“ („Die Zeiten rasen“). Im Dezember 24 werden dann, außer Neumeiers „Nussknacker“, Stücke der begabten Aszure Barton und des Altmeisters der Avantgarde William Forsythe unter dem Titel „Slow Burn“ („Langsames Verbrennen“) zu sehen sein. Die Mischung aus Bewährtem und Neuem wird, übers Jahr gesehen, hoffentlich den Erfolg des Hamburger Ensembles gewährleisten. Ein Klassiker mit langfristiger Rückkehr-Garantie ist dabei die Kameliendame von 1978, die beim Stuttgarter Ballett mit Marcia Haydée in der Titelrolle uraufgeführt wurde: Die internationale Ballettwelt giert regelrecht nach diesem traumhaft cineastischen Handlungsballett über eine sterbenskranke, doch bis zum Schluss edelmütig liebende Kurtisane im Paris des 19. Jahrhunderts.
Auch in Deutschland ist sie eine feste Größe. Das Bayerische Staatsballett hat sie, außer den Stuttgartern, im Repertoire. Sie wurde schon in Paris und New York getanzt, in Moskau und Mailand. Dieses Jahr feierte auch das Wiener Staatsballett damit Triumphe (alles hier im Ballett-Journal nachzulesen). Irgendwann wird sie darum sicher auch in Hamburg wieder zu sehen sein. Gestern abend wurde sie dennoch so innig verabschiedet, als sei es ein Ade für immer.

John Neumeier beim Applaus nach der Vorstellung auf der Bühne: dankbar und Dank annehmend. Foto: Gisela Sonnenburg
Zugleich wird auch der choreographische Schöpfer John Neumeier so gefeiert, als habe man kommende Saison dazu keine Gelegenheit mehr. Viele im Publikum sind mit seiner Ästhetik und auch mit seinem menschlichen Anstand aufgewachsen oder alt geworden. Neumeier verkörpert für viele Menschen in allen Generationen eine Art Leuchtturm des Guten, Wahren, Schönen im Ballett. Zu wissen, dass er als Chef vom Hamburg Ballett wirkt, verströmt für viele Kulturinteressierte bereits ein positives Flair. Das will anerkannt sein.
Und wenn der Grandseigneur jetzt kurz vor Vorstellungsbeginn seinen Stammsitz in der ersten Reihe ansteuert, brandet bereits verdienter Applaus auf. Die Menschen, das kann man so sagen, lieben John Neumeier, wie niemand sonst in der Ballettwelt geliebt wird.
So mischen sich dieser Tage Abschiedswehmut und Liebesdemut – nicht nur auf der Bühne.

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Die Musik, die erklingt, ist ebenfalls mit dieser Mischung schwanger: Markus Lehtinen dirigiert die Symphoniker Hamburg mit Gefühl und äußerst tänzerfreundlich. Mit Michal Bialk und Ondrej Rudcenko spielen zwei erfahrene Pianisten, die ihr ganzes Herz ins Live-Spielen geben können.
Um Liebe geht es aber eben auch in der „Kameliendame“, die Neumeier zu Musiken von Frédéric Chopin, neu arrangiert, als wahres Mammutballett kreierte. In Form einer Rückschau, in der die Szenen reibungslos ineinander greifen, erleben wir die Geschichte des jungen Armand Duval, der sich in eine Edelkurtisane verliebt.
Parallel erscheint Manon Lescaut, die Romanheldin des Abbé Prévost, für die Kenneth MacMillan 1974 in London ein abendfüllendes Ballett mit historischem Impetus schuf. Sie taucht hier mit ihrem Liebhaber Des Grieux zunächst als Gestalt einer Theater-im-Theater-Szene auf, als Marguerite Gautier, die Kameliendame, einer Vorstellung beiwohnt. Nicht zufällig ist es genau jene Aufführung, bei welcher unser Held Armand seiner großen Liebe zum ersten Mal nahe kommt.

Silvia Azzoni nach der „Kameliendame“, in der sie Manon Lescaut tanzte, auf der Bühne beim Schlussapplaus. Foto: Gisela Sonnenburg
Silvia Azzoni und Alexandre Riabko (auch privat seit langem verheiratet) tanzen das Paar Manon und Des Grieux seit vielen Jahren. Dennoch wirken sie so frisch und jugendlich, als hätten sie soeben erst ihr Debüt gegeben. Technisch sind sie maliziös perfekt, vom Ausdruck her ganz auf der Höhe der Zeit. Immer wieder bezaubern sie mit der Lyrik und der Eleganz, die Neumeier diesem Rokoko-Pärchen geschenkt hat.
Dieses Paar wird für die Kameliendame – die nach dem Blumenschmuck an ihrem Dekolleté so heißt – ein Pärchen der Seelenverwandtschaft. Manon wird gar zum Schutzengel in ihrer Imagination, und wir sehen, wie sie Marguerite in emotionalen Krisensituationen beisteht und Trost spendet.
Manon hat schon hinter sich, was Marguerite noch bevor steht, denn die gefeierte Schönheit hat Tuberkulose, die Mitte des 19. Jahrhunderts nicht heilbar war.
Dass die Kameliendame mit der real existierenden Prostituierten Marie Duplessis ein historisches Vorbild hatte, lehrt das exzellent gemachte Programmheft vom Hamburg Ballett.
Dass John Neumeier mit seiner „Kameliendame“ eine Art „Giselle“ oder auch „Schwanensee“ des 20. Jahrhunderts gelang, muss man selbst erfahren. Es ist nicht überliefert, dass irgendjemand, der dieses Ballett gesehen hat, nicht begeistert gewesen wäre.

Mit Schwung laufen die Künstlerinnen und Künstler nach vorn, geleitet von John Neumeier. So zu sehen nach der „Kameliendame“ bei den Hamburger Ballett-Tagen 2024. Foto vom Schlussapplaus: Gisela Sonnenburg
In opulenten Szenen (die legendäre Ausstattung stammt von Jürgen Rose) wird geschildert, wie Armand mit anderen Bekannten der Kameliendame bei ihr daheim nach dem Theater weiter feiert und er ihr, nachdem sie einen Hustenanfall erlitt, tänzerisch seine Liebe gesteht.
Drei große Pas de deux hat das Liebespaar: Dieser erste, nach dem Kleid der Titelfigur der blaue oder violette Pas de deux genannt, sprüht nur so vor Kontrasten: Der stürmisch drängende angehende Liebhaber trifft auf die abgeklärte, souveräne Meisterin der körperlichen Liebe.
Im Sitzen auf der Recamière, im Liegen am Boden, tanzend im Stehen ergötzen sich die beiden immer stärker aneinander. Umklammerungen und Hebungen voller Raffinesse, die Neumeier mit seinem Stab 1983 bei der ersten Einstudierung in Hamburg verfeinerte und ergänzte, lassen einem die Augen übergehen. Schließlich erhält der Held die rote Blume der Heldin mit der Auflage, sie demnächst bei sich zu erwarten.

Ida Praetorius und Jacopo Bellussi nach der „Kameliendame“ beim Hamburg Ballett – happy. Foto: Gisela Sonnenburg
Ida Praetorius ist eine erfahrene und absolut sehenswert reifende Kameliendame. Als ich sie 2014, als sie Primaballerina des Königlichen Dänischen Balletts war, erstmals in dieser Partie sah, tanzte sie die Rolle fast wie eine Art Julia: betont kindhaft, jung, spontan, direkt. Jetzt ist sie in die typische Hamburger Darstellungsweise hineingewachsen: Marguerite hat hier von Beginn an eine sehr selbständige Autorität über ihr Leben und ihre Handlungen, die von den anderen auch akezptiert werden. Dieses steigert sie, faszinierend glaubhaft, bis hin zur Tragödie und zum Verzicht aus Liebe.
Aber: Sie ist eine schillernde femme fatale und die eigentliche Erwachsene hier, während der stürmische Lover fast unschuldig-naiv wirkt.
Jacopo Bellussi tanzt diesen Jüngling mit hervorragendem Drive, man glaubt ihm jede emotionale Regung und jedes Erstaunen über sich selbst. Wie er Ida Praetorius partnert, ist einfach musterhaft: Er hebt, dreht, wirbelt sie, als sei sie ein Teil von ihm selbst.
Wirklich ein fantastisches Dreamteam!

Lebhaftes Treiben auf der Bühne beim tosenden Schlussapplaus nach der „Kameliendame“ am 07.07.24 bei den Hamburger Ballett-Tagen. Foto: Gisela Sonnenburg
Und die tragisch endende Liebesgeschichte nimmt ihren Lauf… Ein Ball folgt auf den nächsten, heimlich sind Marguerite und Armand ein Paar, während sie nach außen hin erst mit dem reichen Grafen von N. flirtet und dann dem Keuschheitsgebot des Herzogs, der sie aus väterlichen Gefühlen heraus finanziert, Folge leistet.
Ein Aufenthalt auf dem Land soll den Sommer der beiden Liebenden verschönern – und zugleich ist der Herzog der Meinung, Marguerite solle sich in Ruhe in der Provinz, fern vom turbulenten Pariser Gesellschaftsleben, erholen.
Es sind Highlights auch des komischen, humoristischen Balletts, die John Neumeier hier für seine Tänzerinnen und Tänzer schuf. Nur ein Detail sei stellvertretend genannt: Die treue Dienerin der Kameliendame, die ihr fast schon eine Freundin ist, namens Nanina, darf trotz schwarzer Kammerfrau-Tracht mit dem lebenslustigen Gaston, einem Freund Armands, und der cleveren Kupplerin Prudence das Tanzbein schwingen.

Ida Stempelmann (links vorn), Silvia Azzoni (mittig) mit Florian Pohl (links) und Pianist Michal Bialk (mittig) sowie dem Ensemble beim Schlussapplaus. Foto: Gisela Sonnenburg
Ida Stempelmann ist als Nanina, die übrigens auch die erste Figur ist, die hier im Stück die Bühne betritt, so hervorragend, dass sie nur noch mit Beatrice Cordua, einer Hamburger Besetzung aus den 80er-Jahren, zu vergleichen ist. Vorzüglich traurig lässt sie zu Beginn den Blick ins Publikum schweifen, um erinnerungsselige Gefühle zu erwecken.
Auf dem Land dann entfaltet sie eine Vitalität und komische Tugenden, die überraschend und beglückend sind.
Mit Mathias Oberlin als Gaston hat sie einen vielseitigen, auch schauspielerisch hoch begabten Tänzer an ihrer Seite, der mitzureißen und aufzudrehen weiß.
Und Charlotte Larzelere als Prudence verströmt gern jenes kokett-lebenslustige Flair, das man von einer Person dieses Kalibers erwartet.
Auch das Ensemble vom Hamburg Ballett, das muss mal wieder betont werden, lässt keine Wünsche offen. Es wird getanzt und geherzt, geflirtet und gestaunt, gespielt und brilliert, dass es eine Freude ist.
Aber als der Herzog erscheint – superseriös von Karen Azatyan verkörpert – ist Schluss mit dem lustigen Landleben. Er verlangt, dass Armand geht – doch Marguerite stellt sich vor ihn und wirft dem Herzog das teure Collier, das sie trägt, vor die Füße. Düpiert geht der Edelmann, die Landgesellschaft löst sich auf – und es beginnt der zweite große Pas de deux der Liebenden.
Der weiße Pas de deux – wie alle Kostüme der Damen ist auch das von Marguerite in den Landszenen sommerlich hell gehalten – strotzt nur so vor unbändiger Verliebtheit der beiden. Sie umarmen, umrollen, belagern einander auf viele verschiedene Arten. Er hebt sie in hoch ästhetische Posen, die ihre Lust, sich ihm hinzugeben und sich zugleich erhöht zu fühlen, ausdrücken.
Schon viele berühmte Paare der Tanzgeschichte haben dieses Stück hier ganz besonders genossen, wenn sie es getanzt haben.

Ida Praetorius, die „Kameliendame“, mit Jacopo Bellussi als ihrem Armand beim Applaus nach der Aufführung beim Hamburg Ballett. Foto: Gisela Sonnenburg
Ida Praetorius und Jacopo Bellussi sind ein weiteres.
Doch weil man ahnt, auch dank der sentimentalen Musik, dass die Sache der Liebe scheitern wird, schwingt stets eine Melancholie mit, die dem Glück einerseits noch mehr Bedeutung schenkt, es andererseits mit Kontrapunkten versieht.
Tatsächlich sagt sich ungebetener Besuch für Marguerite an. Der Vater von Armand, von Florian Pohl sehr überzeugend getanzt und dargestellt, verlangt von ihr, sich von seinem Sohn zu trennen. Zu dessen Wohl und vor allem auch zum Wohl seiner Schwester. Denn die Gerüchte, Armand lebe mit einer Kurtisane, beschädigt das Ansehen der ganzen Familie.
Es trifft Marguerite wie ein Schlag. Ida Praetorius weiß vorzüglich, in diese Melange aus Gefühlen hineinzureißen. Die starken Schritte, die John Neumeier hier erfand, zeigen die Diskussion der beiden Menschen – und wie sich der gesellschaftlich und kräftemäßig überlegene Monsieur Duval das Mädchen untertan macht.
In vielen Interpretationen wirkt er schurkisch, selbstsüchtig – und das moralische Alibi, er wolle seinen Kindern Gutes tun, nicht wahrhaftig. In Pohls Darstellung aber hat man fast Mitleid mit ihm, als er die Kameliendame aufsucht und sich völlig deplatziert, auch unverschämt fühlt. Man kann nachvollziehen, dass es ihm nicht leicht fällt, überhaupt um etwas zu bitten – und dann auch noch bei einer Nutte vorzusprechen, um etwas zu verlangen, das man nicht kaufen kann.

Noch einmal ein Blick auf die Stars mit dem Choreografen John Neumeier und dem Dirigenten Markus Lehtinen beim Applaus nach „Die Kameliendame“ in Hamburg. Foto: Gisela Sonnenburg
Zumindest bietet er ihr kein Geld an – auch im Roman von Alexandre Dumas dem Jüngeren, welcher dem Ballett zugrunde liegt, ist diese Szene kein materieller Deal.
Tatsächlich willigt die Kameliendame ein, die Beziehung zu Armand zu beenden, ohne ihm zu sagen, was dahinter steckt.
Sie weiß schon in diesem Moment, dass es fast ein Suizid ist, den sie da begeht.
Zum Dank küsst der gesellschaftlich arrivierte Mann ihre Hand, nachdem er sie zuvor auf eine seltsame Art umarmte.
Der Paartanz zwischen beiden aber ist ein Juwel der Ballettgeschichte, denn solche Szenen sind äußerst selten und von hohem dramatischen Wert.
Armand dreht erwartungsgemäß fast durch, als sich Marguerite scheinbar des Geldes wegen dem Drängen des Grafen N. (vorzüglich, auch in den komödiantischen Passagen: Emiliano Torres) ergibt.
Von nun an erleben wir ihren gesundheitlichen und finanziellen Niedergang.
Traurig in Mauve gehüllt, trifft sie im Herbst bei einem Stadtspaziergang auf Armand, der, um sie zu kränken, sich eine Affaire mit ihrer Konkurrentin Olympia (weniger katzenhaft-kokett, dafür très charmante: Olivia Betteridge) gekauft hat. Armand demonstriert, wie gut er bei seiner Neuen ankommt.
Es trifft Marguerite hart. Und sie sucht Armand daheim auf, um ihn um Schonung zu bitten.
Jetzt erfolgt der dritte große Pas de deux der Liebenden, der schwarze Pas de deux. Denn die auch gesundheitlich schwer angegriffene Marguerite wählt ein Outfit wie für eine pompöse Trauerfeier, mit schwarzem Schleier vorm Gesicht, schwarzem Kleid, schwarzem Umhang.

Ida Praetorius und Jacopo Bellussi und all die Blumen… nach der Vorstellung der „Kameliendame“ am 07.07.24 beim Hamburg Ballett. Foto: Gisela Sonnenburg
Armand – der optisch ein anderer Eugen Onegin ist, mit ähnlichen Outfits, wie sie Jürgen RoseEnde der 60er-Jahre für John Crankos Ballett „Onegin“ entwarf – ist von Marguerite erneut wie elektrisiert. Er zieht ihr den Mantel aus, bietet ihr seine Hilfe an – und es kommt zu einem großartig-komplizierten Paartanz, der einerseits Synchronschritte für die Vertrautheit und Hebungen für die erotischen Neigungen der beiden zueinander verwendet.
Es knistert förmlich bei diesem Stück getanzter Liebe – und Armand zieht Marguerite bis aufs Unterkleid aus, hebt sie dann immer noch wieder und wieder in exaltierte Posen, nachdem sie ihren Kopf bittend in seine ausgestreckte Hand gelegt hat.
Es gibt kein Publikum, das hier nicht erfasst und ergriffen ist.
Erschöpft dürfen die Tänzer kurz liegen bleiben, als Manon Lescaut erscheint. Als geisterhaft Gestalt aus Marguerites Träumen zeigt sie, wohin die Liebe eine Kurtisane führen wird… Silvia Azzoni entführt erneut in melancholisch-entrückte Sphären.
Auch Manons Liebhaber erscheinen später (sehr einfühlsam bei den Hebungen: Louis Musin, Francesco Cortese und Javier Monreal) und erfüllen die Prophezeiung. Marguerite rafft ihre Kleidungsstücke zusammen und entflieht.
Alexandre Riabko als Des Grieux läuft seiner Geliebten bis in die Strafkolonie nach, versucht sie dort zu retten… tänzerisch ergibt er sich ganz seiner selbst gestellten Aufgabe.

Und die Tänzerinnen und Tänzer vom Hamburg Ballett lieben es, auf der Bühne zu stehen. Hier beim Applaus nach „Die Kameliendame“ von John Neumeier. Rechts außen: Pianist Ondrej Rudcenko. Foto: Gisela Sonnenburg
Aber für Marguerite gibt es noch viel zu erleiden. Auf dem nächsten Ball – der Goldene Ball genannt, auf dem Schwarz und Gold als Farben der prächtigen Roben dominieren – desavouiert Armand sie derart, dass sie zusammenbricht.
Er überreicht ihr einen Umschlag, sie hofft auf einen Liebesbrief – aber es sind Geldscheine, mit denen er sie erniedrigen will.
Die Rahmenhandlung zeigt jetzt, dass Armand seinen Vater verabschiedet. Dieser, dem er seine Geschichte erzählt hat, verrät nicht, dass er derjenige war, der Marguerite zur Trennung von seinem Sohn bewegte.
Doch Nanina überreicht Armand das Tagebuch der Kameliendame, das deren letzte Tage, Nächte, Stunden schildert.
Armand erfährt nun, wie es wirklich war. Ihr wahrer, in Bezug auf ihn hoch moralischer Charakter enthüllt sich.
Und er sieht, mit uns zusammen, wie Marguerite noch ein letztes Mal ins Theater geht, um – wie zu Beginn des Stücks – „Manon Lescaut“ tanzen zu sehen.
Doch dieses Mal muss die Kameliendame das Rouge so stark wie eine Clownin auftragen, weil die Schwindsucht sie so bleich gemacht hat. Der Graf N., der längst um eine andere Schönheit buhlt, überlässt ihr mitleidig seinen samtbezogenen Stuhl.
Die anderen Damen tragen übrigens wärmende Seidenumhänge über den Kleidern, denn es ist Winter.

Und noch ein Vorhang mit Applaus und Beifallsrufen – und Standing Ovations – nach der „Kameliendame“ bei den Hamburger Ballett-Tagen 2024. Foto: Gisela Sonnenburg
Doch als Manon in Des Grieux‘ Armen stirbt, verlässt Marguerite fluchtartig das Theater. Zuhause quält sie von nun an das Fieber ohne zu sinken, und nur Nanina hält noch zu ihr, während ihr Haus bereits von Gläubigern geplündert wurde.
Noch einmal erscheint Manon mit Des Grieux – und ein Pas de trois entspinnt sich, den Marguerite, nur noch ein Miederkleid tragend, verliert.
Sie stirbt allein, verarmt – und Armand bleibt nichts, als lesend um sie zu trauern und das Tagebuch zu schließen, als auch der Vorhang sich schließt.

Der Meister umarmt die Diva: John Neumeier und Ida Praetorius beim Schlussapplaus nach „Die Kameliendame“. Foto: Gisela Sonnenburg
Der tosende Applaus, der sich zu einer Applaus-Orgie steigerte, als Primaballerina Ida Praetoriusden Noch-Ballettchef John Neumeier auf die Bühne holte, war an diesem Sonntagnachmittag – denn es war eine Nachmittagsvorstellung während der Hamburger Ballett-Tage 2024 – unbeschreiblich schön. Und nicht wenige Tränen flossen; nicht deprimierend, sondern läuternd – und die Kunst hat all ihre Aufgaben erfüllt.
Gisela Sonnenburg

John Neumeier verbeugt sich vor dem Vorhang nach der Vorstellung. Foto: Gisela Sonnenburg