Schiffe sind eine gebräuchliche Metapher für das Leben, für das Schicksal, für Systeme. Wenn man sich das Hamburg Ballett als ein stattliches Schiff vorstellt, geht sein erster Kapitän jetzt von Bord. Ballettintendant und Chefchoreograf John Neumeier, 85, hat die Nase voll von der Verantwortung für Hunderte tanzbesessener Seelen, die für ihn arbeiten. Der dienstälteste Ballettchef der Welt, zugleich ein wahrer Shakespeare des Balletts, geht zwar nicht in den Ruhestand, aber doch in die wohl verdiente Freiberuflichkeit. Sein Ensemble schenkte ihm zur letzten Premiere „Epilog“ einen von allen signierten Stuhl. Und seine Tänzerinnen und Tänzer tragen derzeit abends Blumen über Blumen, die ihnen das Publikum verehrt, in ihre Garderoben. Die Festzeitstimmung hat einen berühmten Namen: Es sind die letzten Hamburger Ballett-Tage, die Neumeier selbst leitet. Bis zum kommenden Sonntag, an dem die fast sechsstündige „Nijinsky-Gala“ den Abschied Neumeiers als Ballettintendant zelebriert, wird seit dem 30. Juni 24 in Hamburg allabendlich Ballett bejubelt. Weltweit ist so etwas wie dieses ausdauernde Festival einer Company einmalig – wie auch das Werk Neumeiers mit über 170 Choreografien. Dass hier stets alles so klappt, wie es geplant ist, ist auch ein Verdienst des hochkarätigen Stabs, den Neumeier um sich schart. Und die Solisten wie auch das Corps de ballet vom Hamburg Ballett könnten nicht besser trainiert, nicht schöner up to date sein mit ihrer edlen Körperkunst – John Neumeier hinterlässt keinen Scherbenhaufen, sondern eine Balletttruppe de luxe in Top-Zustand.
Ein kurzer Rückblick: Geboren in den USA, hat John Neumeier darum kämpfen müssen, Tänzer zu werden. Seine Eltern – der deutschstämmige Vater war Kapitän auf dem Michigan-See – sahen ihn eher im Literaturstudium, das er ihnen zuliebe zunächst auch begann. Doch die Liebe zum Ballett wuchs, und sein geistlicher Förderer an der Marquette University in Milwaukee wies dem Studenten den Weg Richtung Ballettsaal. Nach Tanzunterricht in Chicago, London und Kopenhagen engagierte der Südafrikaner John Cranko – auf Anraten seiner Muse Marcia Haydée – den jungen, schönen US-Amerikaner als Tänzer ans Stuttgarter Ballett.
Dort reüssierte Neumeier bald auch mit Choreographien. Als jüngster Ballettdirektor Deutschlands gefeiert, verbuchte er dann Erfolge in Frankfurt am Main. Von dort holte ihn 1973 der Theatermogul August Everding als Ballettchef nach Hamburg. Eine Ära begann, die jetzt nach 51 Jahren endet.
John Neumeier zeigte sich in all diesen Jahren als künstlerisches Urgestein: den eigenen hohen Ansprüchen zu genügen, war und ist sein Ziel. Einfach nur zu gefallen – war ihm stets zu wenig.
Knifflige Themen reizen ihn dabei erst recht.
„Odyssee“ heißt ein Ballett von John Neumeier, in dem er sich mit den Grausamkeiten der USA im Vietnam-Krieg auseinandersetzt. Es stammt von 1995, aber wer es kürzlich bei den Hamburger Ballett-Tagen sah, hatte das Gefühl, einem brandaktuellen Stück beizuwohnen.
Ein Klassiker hingegen ist „Die Kameliendame“ von 1978: Man wird regelrecht süchtig nach der getanzten Lovestory über eine sterbenskranke, aber bis zum Schluss edelmütig liebende Kurtisane im Paris des 19. Jahrhunderts.
Die Shakespeare-Ballette Neumeiers sind so zahlreich wie erfolgreich: Von „Romeo und Julia“ und etlichen „Hamlet“-Balletten über den „Sommernachtstraum“ bis zu „Othello“, „VIVALDI oder Was ihr wollt“ und „Wie es euch gefällt“.
Und Tennessee Williams – wie Neumeier ein im 20. Jahrhundert in den USA als Homosexueller leidender Intellektueller – inspirierte den Choreografen im Laufe seines Lebens immerhin zu zwei abendfüllenden Meisterwerken: zur „Endstation Sehnsucht“ von 1983 und zur „Glasmenagerie“ von 2019. Letztere steht derzeit übrigens, zusammen mit einem filmischen Künstlerportrait von Neumeier, das Andreas Morell recherchierte und drehte, noch bis zum 28. September 24 in der Mediathek auf arte.tv.
Ebenfalls den Ballettfans gewärtig: Die zahlreichen Ballette zu Musiken von Gustav Mahler, die Neumeier im Laufe seines Lebens schuf. Man kann es so sagen: Er geht darin mit genial-schöpferischer Kraft den Phänomenen wie Liebe, Sehnsucht, Verzweiflung, Glaube auf den Grund.
Dabei ist John Neumeier selbst ein Phänomen. Seine Company umfasst nur etwa sechzig Tänzer, aber diese haben so viele Auftritte wie sonst keine. Zusätzlich gründete Neumeier seine eigene Ballettschule und das Bundesjugendballett. Dessen Intendant wird er bleiben, auch wenn er die große Company und die Schule jetzt bald an Demis Volpi (39), seinen von ihm selbst erwählten jungen Nachfolger, übergibt.
Im Ballettzentrum Hamburg – John Neumeier in Hamburg-Hamm trainieren und proben sie alle. Platz und Personal werden optimal und effektiv genutzt. Pläne für einen Neubau ließ Neumeier fallen. Dafür saniert ihm der Hamburger Senat gerade eine Jugendstilvilla im alsternahen Stadtteil Pöseldorf, wo das John Neumeier Institut entstehen soll. Dort wird Neumeier mit seiner umfassenden Sammlung von Büchern, Kunstwerken, Videos und Dokumenten zum Thema Tanz wie in ein lebendiges Museum einziehen.
Seine Stücke werden weiterhin vom Hamburg Ballett getanzt. Neun verschiedene Neumeier-Werke sind es schon mal kommende Saison, eines davon allerdings nur als Gastspiel-Programm. Aber die Handschrift des überragenden Choreografietitanen bleibt Hamburg erhalten, ohne dass die Company nur dabei bleibt.
Dafür übernimmt der junge Deutsch-Argentinier Demis Volpi das Ruder von Neumeier: um diese Tradition mit neuen Programmen zu vereinen. Auch Volpi – der vorzüglich deutsch spricht – machte seine ersten wichtigen künstlerischen Erfahrungen in Stuttgart. Als Direktor vom Ballett am Rhein sammelte der Deutsch-Argentinier in den letzten Jahren weitere Erfahrungen: nicht nur im Choreografieren, sondern auch darin, spannende und sinnstiftende Themenabende mit Ballett zu gestalten.
Nach zwei mehrteiligen Premieren in 2024 wird Volpi 2025 seinen ersten abendfüllenden Hamburger Coup präsentieren: die Uraufführung einer tänzerischen Adaption von „Demian“ nach dem 1917 geschriebenen Roman von Hermann Hesse.
Damit frönt auch er der Tradition von literarhistorisch interessanten Tänzen: Das Hamburg Ballett steht dank Neumeier für den höchsten Bildungsstand eines ballettösen Repertoires in der westlichen Tanzwelt.
Die schier magische Ausstrahlung, die Neumeier künstlerisch wie auch persönlich auf seine Fans ausübt, wird unterdessen unerreicht sein, das ist unbestritten. Dabei war er immer auch ein Aufklärer in seiner Kunst: Unermüdlich erläuterte er den Hamburgern in Ballett-Werkstätten, warum er welchen Tanz wie gestaltete. Stehende Ovationen nach den Aufführungen bezeugen, dass er verstanden wird. Und wenn er jetzt in der Hamburgischen Staatsoper nur auf seinen Platz im Zuschauersaal geht, erntet er dafür großen Applaus. Man kann sagen, dass die Menschen ihn lieben wie niemanden sonst in der Welt der Tanzkunst.
Das spiegelt sich auch in Preisen und Auszeichnungen. Mehr als 200 nationale und internationale Ehrungen hat Neumeier erhalten, so die Ehrenbürgerschaft in Hamburg und den japanischen Kyoto-Preis, eine Art asiatischer Nobelpreis für Künstler und Wissenschaftler. Doch in Neumeiers zahlreichen Selbstzeugnissen, darunter Bücher und Videoaufnahmen, wird stets deutlich, dass ihm die Arbeit wichtiger ist als der soziale Aufstieg.
Die von ihm geschaffenen Traditionen beim Hamburg Ballett behält Demis Volpi bei, er muss sie als Errungenschaften ebenso wie als Herausforderungen sehen.
Als da sind: zahlreiche Wiederaufnahmen pro Saison neben den beiden Premieren im Jahr; die Ballett-Werkstätten, die wichtig sind, um die aktuelle künstlerische Entwicklung des Ensembles darzustellen und zu erklären; die Backstage-Termine für junge Leute; die Hamburger Ballett-Tage als zweiwöchiges Festival mit einer Gast-Company; und die große, die Saison als Höhepunkt der Ballettsaison mindestens in Europa abschließende Nijinsky-Gala.
Auch das Gastspiel einer anderen Truppe während der Ballett-Tage zu zeigen, hat in Hamburg Tradition. In diesem Jahr war es das Birmingham Royal Ballet, das derzeit Carlos Acosta leitet. Sein Programm „Black Sabbath“ basiert auf der Idee Acostas, die berühmtesten Musiker aus der Gegend, nämlich die Hard-Rock-Band gleichen Namens, zur Inspiration zu nehmen.
Fetzig, laut und bunt wurde es somit in der ehrwürdigen Hamburgischen Staatsoper – Pontus Lidberg, der die künstlerische Leitung übernommen hatte, ließ drei voneinander unabhängig brillierende Akte zeigen, in denen neu komponierte Musik im Stil von Black Sabbath von einem Orchester, ergänzt durch E-Gitarren und Schlagzeug, den Tanz dominierte.
Akrobatische Highlights, Schnelligkeit, Pirouetten ohne Ende – manchen Ballettfans war das Gewusel auf der Bühne zuviel Technik in jeder Hinsicht, aber andere Neumeier-Fans ließen sich zur Abwechslung auch von dieser harten Kost begeistern.
Zukunftsweisend ist dieser Stil allerdings nicht an der Alster. Demis Volpi hat sich bisher sehr gern mit klassischer Musik beschäftigt, und darauf ist auch in Zukunft zu hoffen.
An neuem Personal bringt Volpi außer Martina Zimmermann vom Marketing des Bayerischen Staatsballetts für die künftige Kommunikation des Hamburg Balletts auch Vivien Arnold als Chefdramaturgin mit – sie kümmerte sich bisher beim Stuttgarter Ballett um die dramaturgischen und auch Presse-Belange.
Die von ihren Einführungen zu Neumeiers Stücken her bekannte Nathalia Schmidt wechselt vom Hamburger Presse-Büro zu Arnold in die Dramaturgie.
Dass Ballettmeister und Organisatoren, die seit Jahrzehnten Weggefährten Neumeiers sind – wie Kevin Haigen, Eduardo Bertini und Leslie McBeth – aus ihren Positionen beim Hamburg Ballett ausscheiden, ist bedauerlich, aber nicht zu ändern. Sie alle haben nach vielen Jahren harter Arbeit vielleicht auch mal mehr Ruhe verdient, wobei Kevin Haigen weiterhin das Bundesjugendballett pädagogisch und künstlerisch leiten wird.
Und dann wird es wohl weiterhin Einstudierungen der beliebten Neumeier-Werke in aller Welt geben, und dabei greift man sicher gern auf versierte Kräfte als Hilfe zurück. John Neumeier sagte schon, dass sein Terminkalender künftig noch voller sei als bisher.
Die von ihm geliebten ersten Momente im Ballettsaal kurz vor Beginn einer neuen Kreation wird er künftig aber woanders haben, eher nicht in Deutschland.
In Baden-Baden, wo Neumeier seit langem stets im Herbst mit zwei seiner Stücke zu Gast ist, wird er jedoch – bis 2030 gilt die jetzige Abmachung – alljährlich das nach ihm benannte Festival „The World of John Neumeier“ kuratieren. Auch dort spielt sein Werk eine Rolle.
Und sehen wird man den großen Meister sicher ab und an auch in Hamburg, etwa, wenn er die Einstudierung seiner Repertoire-Stücke betreut. Auch das sei uns allen ein großer Trost.
Gisela Sonnenburg
www.arte.tv, beide Sendungen sind bis zum 28.09.24 online:
https://www.arte.tv/de/videos/110289-000-A/john-neumeier-ein-leben-fuer-den-tanz/
https://www.arte.tv/de/videos/119448-000-A/die-glasmenagerie/