Generalproben haben so ein interessantes Flair. Die Aufführungen sind meist so gut wie fertig, premierenreif eben – aber es gibt noch einen Spielraum für die Fantasie, wie sie sich bis zum großen Abend entwickeln könnten. Der Meisterchoreograf David Dawson beraubte mich allerdings des Vergnügens, seine jüngste Kreation als Durchlaufprobe zu sehen. Es sei ihm vergeben. Denn dafür arbeitete er nochmal mit den Tänzern und Musikern am Werk, das zusammen mit dem ersten großen Tanzhit von Newcomer Roman Novitzky am Freitagabend beim Stuttgarter Ballett uraufgeführt wurde. Und was soll man sagen? „Novitzky/Dawson“ mit den beiden Stücken „The Place of Choice“ und „Under the Trees‘ Voices“ ist ein fulminantes Programm, das zwei prägnante Handschriften zeigt, die stilsicher Aussagen zur Gegenwart machen. Die letzten Fragen, die man der Menschheit stellen kann, spielen hier bei beiden Werken eine Rolle; beide Stücke streben nach Unendlichkeit und Frieden ebenso wie nach Erlösung durch Nähe, Intellekt und Liebe.
Sie sind dabei sehr verschiedene kreative Geister, diese beiden Tanzschöpfer.
Für David Dawson ist es etwa das 60. Werk, das er kreiert, wovon mehr als 40 zu öffentlichen Uraufführungen kamen. An manchen Stücken tüftelt er jahrelang vorab, bis er mit der Sache in den Ballettsaal geht. Er ist ein Perfektionist, der auf einen stets durchgestylten Anblick der Tanzenden setzt. Dawson überlässt eigentlich nichts dem Zufall – dafür ist ihm die Möglichkeit, mit Körpern Kunst zu machen, zu kostbar.
Sein ambitionierter neoklassischer Stil hat mit bestimmten Streckungen und Biegungen einen hohen Wiedererkennungswert, und seine gefühligen Themen wirken durch die modernen Ecken und Kanten, Rundungen und Wellen, in die Dawson sie gießt, in den oft altmodischen Opernhäusern wie getanzter frischer Wind.
Er ist ein Meister seines Fachs, ohne Zweifel, mehr noch: David Dawson gehört zu den ganz Großen, die derzeit eher noch unterschätzt als überschätzt werden. Dass ihm eine große eigene Company anvertraut wird, ist eigentlich überfällig. Denn Dawson ist strebsam und verantwortungsbewusst, zuverlässig kreativ und hoch gebildet. Gerade in Deutschland fehlen Menschen wie er an den Spitzen der Theater.
Dass Ballettintendant Tamas Detrich ihn nun einlud, als Gastchoreograf in Stuttgart zu kreieren, ist ein sehr gutes Zeichen: So kann es nur bergauf gehen. Und man denkt sich auch: Das wurde echt Zeit.
Schon seit 2002 ist Dawson professioneller Choreograf und als solcher mit Prägnanz wirksam. Zuvor tanzte er, nach einer Ausbildung unter anderem an der Royal Ballet School in London, in England, Amsterdam und Frankfurt am Main bei William Forsythe.
Er hat Erfahrung mit unterschiedlichsten Systemen, Themen und Formaten, kennt die halbe oder ganze Ballettwelt. Er ließ schon in so vielen verschiedenen Städten uraufführen, dass man ihn mit Fug und Recht einen Kosmopoliten des Tanzes nennen darf.
Als erster britischer Choreograf wurde er übrigens 2005 vom Mariinsky-Theater in Sankt Petersburg für eine Kreation eingeladen. Das entstandene Stück „Reverence“ trug Dawson die Goldene Maske, einen bedeutenden russischen Theaterpreis, ein. Den Prix Benois de la Danse, den Oskar des Balletts, hatte er schon 2003 erhalten.
Beim Semperoper Ballett in Dresden erarbeitete er zeitlos-schöne, modernisierte Versionen großer Handlungsballette wie „Giselle“, „Tristan + Isolde“ und „Romeo und Julia“. Andere deutsche Ensembles tanzen weitere Stücke von ihm. Oft sind es halbabendfüllende Werke, die sich gut mit Stücken anderer zeitgenössischer Künstler kombinieren lassen.
Berühmt ist Dawson aber auch für sein tänzerisches Engagement für die Grundwerte der Menschheit, wie etwa die Menschenrechte und die Freiheit zu lieben.
Mit David Dawson haben wir also einen gemachten Mann vor uns, einen Könner, dem niemand mehr etwas vormachen kann. Auch für Tänzerinnen und Tänzer bedeutet Dawson übrigens jedes Mal eine Herausforderung. Gibt er ihnen doch die Chance, ihre Körperkunst auf ein maximales Niveau von Technik und ätherischem Ausdruck zu schrauben.
Die Ergebnisse sind zuverlässig bestaunenswert, sie gehen unter die Haut, vermögen es, einen mental mitzureißen. Dawson steht eigentlich für eine Garantie, sich auf höchstem Niveau mit Kunst zu beschäftigen.
Von daher war es höchste Zeit, dass er ans weltweit renommierte Stuttgarter Ballett kam und David Dawson mit dieser so fein und hervorragend trainierten Truppe arbeiten ließ.
Das ist der eine schöpferische Star des Abends. Der zweite hat einen ganz anderen Weg hinter sich. Er kommt nicht aus der großen weiten Welt ins Schwabenland, sondern ist, im Gegenteil, sozusagen ein Stuttgarter Gewächs. Und: Er hat noch keine internationale Karriere am Laufen, sondern ist noch im Aufbau begriffen.
Für Roman Novitzky war es seine erste Uraufführung im großen Haus, also im Opernhaus und nicht auf einer kleineren Spielstätte. Eigentlich sollte er darum vorher mächtig nervös gewesen sein. Statt dessen hatte er sich bestens im Griff, beobachtete die eigene aufkommende Nervosität genau und wusste, wie er ihr entgegen trat. Ein Profi.
Seit fünfzehn Jahren arbeitet und lebt Novitzky beim Stuttgarter Ballett, und er hat eine bemerkenswerte Karriere hingelegt. Aus Bratislava in der Slowakei stammend, stellt er trotz seiner anhaltenden Jugend schon fast so etwas wie ein Urgestein des Stuttgarter Balletts dar.
Seit 2009/2010 tanzt er, der in seiner Heimat ausgebildet wurde und dort auch zunächst Berufserfahrungen sammelte, in Stuttgart. Sein zweiter Beruf ist jedoch auch schon ausgeprägt, und zwar als Fotograf: Normalerweise ist er der Hausfotograf vom Stuttgarter Ballett. Für diese Produktion jedoch gab er den einen Job ab, um den anderen konzentriert zu machen.
2012 begann er zu choreografieren. Die damals noch existente Noverre-Gesellschaft bot ihm dafür ein Forum. Sein zweites Werk, „Are you as big as me?“ („Bist du so groß wie ich?“), war gleich ein unerwarteter Erfolg und wanderte sogar ins Repertoire vom Stuttgarter Ballett. Irgendwie fühlte Roman in sich den Drang, weiter zu machen – und sich gezielt zu entwickeln.
„Ich habe das nicht wirklich gewollt, es hat sich ergeben“, sagt er – aber ihm ist auch klar, dass ihn dann der Ehrgeiz packte und er mit kleinen choreografischen Arbeiten nicht mehr zufrieden war. Darum kam ihm das Angebot von Tamas Detrich, seinem Chef, nur recht, ein Stück als Pendant zur neuen Kreation von David Dawson zu erstellen.
Sein Stil pendelt ohnehin erkennbar irgendwo zwischen David Dawson und Marco Goecke, findet in den besten Momenten aber eine ganz eigene gestische Sprache. Nur kommen die Fans der reduzierten körperlichen Zappelsprache von Goecke eben auch auf ihre Kosten. Und stilistisch passen die zwei Werke des Abends sehr gut zusammen.
Novitzky ist ein „Handwerker“ in allem, was er macht: Er gibt nie auf, bevor er das angestrebte Niveau erreicht hat. Und: Es geht für ihn nicht darum, Vorgaben zu erfüllen, sondern darum, selbst welche zu erschaffen.
Durch die Förderung, die Tamas Detrich ihm angedeihen lässt, wird seine Entwicklung forciert – und es wird einen nicht wundern, wenn es eines Tages heißt: Roman Novitzky empfiehlt sich als neuer Chef vom Stuttgarter Ballett.
Mutig genug ist er. Als tänzerisches Thema nimmt sich Roman Novitzky dieses Mal denn auch ein nicht eben kleines Feld vor: Die „Göttliche Komödie“ von Dante Alighieri musste es sein. Novitzky hat sie in verschiedenen Übersetzungen gelesen und sich frei inspirieren lassen. Ohne den Zwang, etwas nacherzählen zu müssen. Heraus kam eine überraschende Collage, die zum Teil naiv, zum Teil hintergründig bebildert, wie Himmel und Hölle der Menschen heute aussehen könnten.
Mit der furios-anspruchsvollen Trilogie, die Xin Peng Wang beim Ballett Dortmund zu Dantes „Göttlicher Komödie“ schuf, oder auch mit Wayne MacGregors Versuch zum Thema sollte man Novitzkys Werk nicht vergleichen: Dem Stuttgarter geht es deutlich ums Hier und Heute, nicht um die Auseinandersetzung mit historischen Topoi. Anders als Wayne MacGregor sucht er auch nicht die Flucht ins Technische. Vielmehr strebt er eine wirklich eigenständige Interpretation an.
Novitzkys „The Place of Choice“ („Der Ort der Wahl“) bezeichnet zunächst nicht nur einen vermeintlich frei gewählten Ort, sondern ruft vor allem dazu auf, sich die Welt so zu gestalten, wie es richtig ist.
Es beginnt mit einem Mann in Freizeitkleidung, der auf der düsteren Bühne rückwärts auf das Publikum zugeht. Mit seinen Händen veranstaltet er ein Geflatter und Gezappel, als wollten sich die oberen Gliedmaße verselbständigen. Aber der junge Mann beugt sich im Lichtkegel plötzlich vornüber. Bedrückt ihn etwas? Ein Paar kommt hinzu, in schickes, auch sportliches Weiß gekleidet. Unser Held schaut sie an, als kämen sie von einem anderen Stern. Wähnt er sich bei ihnen im Paradies?
Genau das ist der Fall. Auch die weiteren der insgesamt 26 Tänzer tragen modisches Weiß, und in eleganten Pas de deux illustrieren sie, während im Hintergrund eine Art Scheibe in violettem Licht erstrahlt, eine moderne Version vom Garten Eden. Roman Novitzky ließ sich ja von Dantes „Göttlicher Komödie“ inspirieren, aber er erzählt die Geschichte rückwärts. Harmonie und Liebe, Souveränität und Sicherheit – all das gibt es für den Erdling nur zum Ausprobieren.
Die Lichtscheibe verwandelt sich in ein rosa Feld. „Wer ohne Freund ist, geht wie ein Fremdling über die Erde“, befand schon Friedrich Schiller. So ist es auch hier. Der Eindringling in die sanfte Sphäre bleibt ein Außenseiter. Aber er spiegelt sich ebenso wie die Bewunderten auf dem glänzenden Boden, wünscht sich, Teil dieses Kosmos zu werden. „The Place of Choice“ heißt das Stück, weil es auch darauf anspielt, dass alle selbst für ihre eigenen Entscheidungen büßen könnten. Aber wo ist es schon so gerecht?
Die Stimmung kippt. Das lila Licht blendet. Der Solist scheint von Aliens bedroht, kämpft gegen Unsichtbare. Ein Mann verfolgt ihn, nimmt ihn in Besitz. Ist es der Tod? Ein weiterer Mann rettet ihn, wirkt engelhaft. Dunkle Silhouetten zappeln im Licht.
Der Satan ist eine Frau und trägt Latex. Es folgt die Hölle à la Erdball: Im Hintergrund taucht eine düstere Moorlandschaft auf, die Gesichter der Gestalten um den Wanderer verschwinden unter Kapuzenmänteln. Gruselig. Das Leiden beginnt.
Moorlandschaften sind im übrigen selbst vom Aussterben bedroht, denn der Mensch hat die Bedingungen, die ihre tierischen und pflanzlichen Bewohner benötigen, immer mehr abgeschafft. Es ist also ein Leiden an einem prädestinierten Ort: Bedroht davon, Opfer der Rache der Natur zu werden, zum Beispiel durch das endgültige Versinken in Sumpf.
Elektronische Trommeln, knirschende Geräusche, lautes Atmen, Bläser und Streicher, die mal berücken, mal an den Nerven zehren, bilden die akustische Kulisse. Bis dahin war sie sanft, beruhigend. Aber jetzt dröhnt und fiept es, damit das Wohlbehagen nicht überhand nimmt. Wir sind ja schließlich in der Unterwelt.
Die Musik von Henry Vega ist eine Auftragskomposition, Choreograf Novitzky kannte Vegas Arbeit und bat ihn sich als Tonkünstler aus. Gerade die Mischung aus Orchester und eingespielten Geräuschen und Aufnahmen ergibt einen Klangteppich, der mitunter Hörspielcharakter hat und einen mitnimmt auf sphärische Reisen.
Mikhail Agrest – der nach seinem arbeitsrechtlichen Prozess wieder ganz regulär als Musikdirektor und Dirigent beim Stuttgarter Ballett arbeitet, was ein wirklich positives Beispiel für einen funktionierenden Rechtsstaat ist – setzt am Dirigentenpult mit großer Genauigkeit und dennoch Leidenschaft um, was die Partitur so alles hergibt.
Mal erschallt sie lieblich und erfreulich, dann wieder aggressiv und cineastisch gruselig. Ein Moment der Anspannung spielt meistens mit. Ist es die Angst, die man da im Untergrund hört?
Ein Heer zarter Walküren taucht hingegen ganz selbstsicher auf der Bühne auf. Gibt es Rettung für die Männer durch die mutigen Frauen?
Das Ende bringt jedoch eine überraschende Pointe: Der Held findet sich im Alltag wieder. Normalität als Ziel. War alles nur ein Traum?
Aber auch dieser Schluss selbst, ist er womöglich auch nur ein Traum? – Man darf rätseln. Gelassen gehen die Tänzerinnen und Tänzer über die Bühne, und unser Held ist plötzlich kein Fremdling mehr, sondern Teil einer endlich entspannten Menschheit, deren Menschen sich gegenseitig nichts Böses wollen. Diese Normalität ist wohl tatsächlich eine Utopie – Normalität als größter Traum von allen.
Roman Novitzky gelang somit ein durchaus philosophisches Werk, das hinleitet, um das Potenzial von Kunst selbst fasslich zu machen.
Dieses Versprechen wird vom zweiten Stück des Abends vollends eingelöst. Es ist ebenfalls mystisch und dabei doch von großer Klarheit: „Under the Trees‘ Voices“ („Die Stimmen unter den Bäumen“) von David Dawson. Auch hier bilden Träume und Realitäten die kontrastierenden Grundmuster. In der Kreuzung von meisterhaft komponierten Gruppenkonstellationen mit ausnehmend berückenden Pas de deux gelang Dawson mal wieder ein absolutes Werk, das tiefe Gedanken hervorruft und sich mit dem Diktat, was richtig sei, nicht zufrieden gibt. Dawson zwingt einen sozusagen dazu, sich der Welt auszuliefern und eine Position zu beziehen.
Was ist richtig, was ist gut? Diese Frage beschäftigt auch ihn – anders als Novitzky zielt er aber nicht auf eine Pointe, sondern Dawson entwickelt seine Stücke eher so, wie Walter Benjamin sich die permanente Revolution vorstellte. Man kommt nicht wirklich zu einem Ende, es könnte genau so gut gleich wieder losgehen: Der Kampf um die Wahrhaftigkeit ist ein ständiger.
Den Titel spendet übrigens die Musik von Ezio Bosso: mit soghaft berauschender Minimal Music, violinensatt, strömt sie aus dem Orchestergraben. Dawson kreierte 2018 in San Francisco für die Truppe von Helgi Tomasson ein Stück namens „Anima Animus“, ebenfalls zu Musik von Bosso. Seither wollte er immer mal wieder auf dessen energiegeladenen Klänge zurückgreifen.
Für Dawson entsprechen seine Stücke dem, wie er die Welt sieht. Großes und Kleines sind darin verbunden, alles ist beweglich, aber nicht beliebig – und die Tanzenden verkörpern jenes Stück Ewigkeit, das jeder noch so vergängliche Moment enthalten und entfalten kann.
Intensiv wie vielleicht nie zuvor tanzen Dawsons Fleisch gewordene Träume jetzt beim Stuttgarter Ballett: in hoch ästhetischer Manier als kaum verhüllter Kampf auch ums Überleben.
Es ist ja Dawsons erste Stuttgarter Arbeit, und ganz ehrlich: Er gehört dorthin. Tamas Detrich sollte ihn regelmäßig nach Stuttgart holen, vielleicht auch mal für ein abendfüllendes Handlungsballett, und er sollte ihn nie wieder loslassen.
Auch wenn man den Eindruck hat, dass Roman Novitzky gezielt als Nachfolger von Detrichaufgebaut wird: Als Choreograf hat David Dawson etwas, das nicht so einfach aufgeholt und erarbeitet werden kann, nämlich Genie.
Die Zuschauenden können sich diesem Sog denn auch nicht entziehen. Zusammen ergeben die beiden Stücke, wenn man so will, ohnehin ein großes Ganzes, und es tut gut, beide in der Rückschau nochmal zu memorieren.
So zeigt sich auch in Dawsons Stück die Welt so, wie sie sein sollte, sein könnte, sein müsste. Mit unerbittlich hohem Anspruch und unter Anbindung an das, was ist.
Menschen lieben sich, Menschen unterstützen sich. Menschen helfen, Menschen versagen. Menschen wären ohne Menschen nichts. Das ist hier zu lernen: Die Bedeutsamkeit von Zusammenhalt und Solidarität.
Und was wäre die Menschheit ohne die Natur? Während das Moor bei Novitzky als lauernde Gefahr die Tänzer einzukreisen schien, geht es jetzt um die Befreiung, die nur mit der Natur möglich ist.
Wind und Wetter, Sonne, also Licht und Wärme sind unerlässlich für die Kreatur. Musik ohne natürliche Laute? Undenkbar. Auch Mikhail Agrest am Pult verleiht den geschmeidigen Klangwelten von Bosso diesen Drive des Ursprünglichen.
In der Natur, sagt David Dawson, fühle er sich zuhause. In der Musik von Bosso, der schwer leidend an den Folgen eines Hirntumors starb und sich kurz zuvor noch ein Hit-Album schrieb, findet der Choreograf hingegen Anfang und Ende der inneren und äußeren Welten, die er beschreibt. Da passt was. Und das ist so spannend!
In federleicht wirkenden, in jedem Bruchteil der Sekunden bildschönen, bis zur absoluten Perfektion durchgestylten und dennoch expressiven Posen verkörpern die Menschen hier nachgerade weit reichende, weit ausholende Gedanken. Die Technik beflügelt die Fantasie: Ohne Kraft und Ausdauer würde es nichts mehr mit dem Vorankommen.
Pirouetten und Hebungen erreichen bei Dawson stets ein Maximum an Raffinesse. So auch hier: Unfasslich erscheint einem manchmal die Schönheit und auch Laszivität an Linien, die die Körpereinheiten hier bilden.
Kopf, Arme, Hände, Taille, Hüften, Beine und natürlich die Füße – alles scheint nur für den Tanz gemacht. Selten erreicht ein Choreograf eine solche Einheit seiner Fantasien mit seinem Material.
Tanz als Utopie, als Schönheit, um die Welt zu retten – das betrifft beide Stücke des Abends „Novitzky/Dawson“, aber bei Dawson kulminiert der Wille zur Schönheit im Innerlichen. Emotionale Kälte oder auch nur Achtlosigkeit gibt es bei ihm nicht, der Fokus liegt immer auf der Verinnerlichung. Trotz oder gerade wegen der exaltierten Posen, in die die Bewegungen gipfeln.
Dawson ist Dialektiker.
Die eingängige neoklassische Anmutung weicht dabei mitunter einer schwierigen modernen Exzellenz, die selbst im hochgezüchteten modernen Ballett selten ist. Für das Stuttgarter Ballett ist das als visionäre Fortsetzung der großen choreografischen Traditionen von John Cranko und Kenneth MacMillan zu sehen.
Die Primaballerina Anna Osadcenko ist unter den ohnehin fantastischen Tänzern nochmals hervorzuheben: Sie zu sehen, ist ein Erlebnis für sich.
Auch wenn sie mit Friedemann Vogel, Jason Reilly, Matteo Miccini sowie Elisa Badenes, Mackenzie Brown und Daiana Ruiz fast ebenbürtige Mitstreier hat: Osadcenko erweist sich als Verkörperung einer Heiligkeit, die nur David Dawson dem Leben zu verleihen weiß.
Gisela Sonnenburg / Anonymous