Ritterswitz und Kurtisanenglück Die neue Ballettsaison lockt in den ersten Monaten nicht nur beim Stuttgarter Ballett mit öffentlichen Proben und Premieren

Das Stuttgarter Ballett nutzte den September, um Proben satt zu zeigen! Und zwar alle für „Cranko pur“, das Anfang Oktober im Opernhaus in Stuttgart mit großem Erfolg premierte. Foto: Stuttgarter Ballett

Ballettproben vor Publikum sind wie Kochshows im Fernsehen: Man sieht, wie an etwas gearbeitet wird, zugleich aber weiß man, dass öffentliche Proben niemals so authentisch sind wie solche, die ohne Zuschauer stattfinden. Dennoch sind Proben als Performance der neueste Trend im Ballett. Und das zurecht: Auch im Hinblick auf Öffentlichkeit gelenkte Probenarbeit zeigt ein großes Stück weit, wie sich die Entstehung großer Kunst anfühlt. Den Tänzern wiederum macht es viel Spaß, so frühzeitig Feedback für ihre Anstrengungen zu erhalten. Das ist doch Aufmunterung pur für die Aufführungen! So sind beide Seiten beim Probenschauen miteinander glücklich, auch, wenn das Gesehene noch nicht die Weihen der Vollendung hat. Reid Anderson, der Intendant vom Stuttgarter Ballett, hat das erkannt. Der September war bei ihm knallvoll mit öffentlichen Proben für seine aktuelle Premiere. Das daraufhin Anfang Oktober premierte Programm heißt „Cranko pur“  – und wurde vom bestens vorbereiteten Publikum begeistert aufgenommen.

Es ist eine Hommage an den Begründer vom „Stuttgarter Ballettwunder“, John Cranko. Er hätte im August ja seinen 90. Geburtstag feiern können, wäre er nicht schon 1973 überraschend während eines Fluges von New York nach Europa an Herzversagen verstorben. Crankos Choreografien haben bis heute Weltruhm. Neben drei abendfüllenden Meisterwerken – von denen zwei nach Dramen von Shakespeare entstanden und eines nach dem Versroman „Eugen Onegin“ von Alexander Puschkin – hinterließ Cranko eine Fülle von Kurzstücken.

Proben als Performance

Auf der Bühne strotzt der Abend „Cranko pur“ dann nur so vor Eleganz und Witz. Foto: Stuttgarter Ballett

Drei dieser brillanten Kleinode sind im neuen Programm zu sehen, darunter das elegisch-erhabene „Brouillards“ („Nebel“), das 1970 zur fein ziselierten, impressionistischen Musik von Claude Debussy kreiert wurde. Egon Madsen war einer der Stars der Uraufführung; dieses Jahr probte er als Coach mit den Ballerinen und Ballerinos vom Stuttgarter Ballett. Natürlich auch vor Publikum.

Proben als Performance

Egon Madsen – hier auf dem Foto, das Regina Brocke dem Stuttgarter Ballett online zur Verfügung stellt – coachte die „Brouillards“ in „Cranko pur“. Faksimile: Gisela Sonnenburg

Das Jubiläum, das in Stuttgart am 27. Oktober ansteht, wird natürlich auch geprobt, auch wenn hier der eine oder andere Zuschauer nach gefühlten dreißig Vorstellungen, die die Sucht nach „Onegin“ nur noch schürten, schon fast auf die andere Seite, auf die Bank für die Coachs, wechseln könnte.

Friedemann Vogel, Alicia Amatriain, Elisa Badenes, David Moore und Jason Reilly tanzen in der Vorstellung zum 50. Geburtstag der zweiten, also endgültigen Fassung von „Onegin“ mit dem Stuttgarter Ballett. Wowowowow, was für eine Besetzung der Superlative!

Somit wandelt Stuttgart heute wie auf Tuchfühlung, so nah, auf den Spuren der uraufführenden Stars Heinz Clauss und Marcia Haydée. Allerdings macht die Besetzung am „Tag danach“ sicher ebenfalls sehr glücklich: Jason Reilly, der am Abend zuvor Fürst Gremin tanzt und zudem gerade 20-jähriges Bühnenjubiläum in Stuttgart hatte (herzlichen Glückwunsch!) ist dann als Titelheld zu erleben, mit der jungen Hyo-Jung Kang als Tatjana an seiner Seite.

Da am Vormittag noch der legendäre Bühnen- und Kostümbildner Jürgen Rose (der auch die Ausstattung für „Onegin“ schuf) zu einem 80. Geburtstag eine öffentliche Gesprächsrunde im Opernhaus in Stuttgart spendiert, sollte man am besten das ganze Wochenende als Wahl-Stuttgarter auf Zeit mit dem Ballett verbringen.

Etwas bescheidener geht es im Osten zu. Das Semperoper Ballett in Dresden gönnt – dafür für kleines Geld – vor allem Schulkindern mit der Ballettsaal-Matinee „Gestatten, Monsieur Petipa!“ Blicke hinter die Kulissen sprich eine „Einführung in die Welt des Balletts“.

Marius Petipa war bekanntlich der wichtigste Choreograf des 19. Jahrhunderts, und in Dresden ist eine Zeitreise zu ihm und seiner Kunst als Ferienangebot zu verbuchen. „Der Nussknacker“ und „La Bayadère“, „Schwanensee“, „Raymonda“ und „Dornröschen“ sind Ballette, die Petipa schuf.

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Die Dresdner TänzerInnen haben eh viel drauf: Das wird auch das Debüt des Newcomers Václav Lamparter in der männlichen Hauptrolle von „Manon“ mit Chiara Scarrone im Titelpart beweisen. Die Geschichte über Glück und Unglück einer Kurtisane und ihres Geliebten in der Choreographie von Kenneth MacMillan erinnert in einer cineastischen Verschmelzung des Tanzes mit der Musik von Jules Massenet an großes Mantel-und-Degen-Kino. Bitte nicht verpassen!

Proben als Performance

Das Ballett Dortmund beim Probenprozess – hier aber nicht für die kommende Premiere, sondern für „Schwanensee“ in der modernisierten Version von Xin Peng Wang. Foto: Gisela Sonnenburg

Eine öffentliche Probe und eine „Einführungsmatinee“ Anfang November bereiten dann beim Ballett Dortmund die Uraufführung von Xin Peng Wangs neuem Abend „Rachmaninow / Tschaikowsky“ vor. Der Meister des modernen literarischen Handlungsballetts widmet sich hier mal einer abstrakten Thematik.

Anhand je eines großen Werks der beiden großen russischen Komponisten thematisiert der geniale chinesische Choreograf Wang das Schöpfen an sich; Kreativität und ihre Dynamik als wesentliches Merkmal der Menschheit einerseits, andererseits aber auch als „persönlicher Drahtseilakt“ des Ballettchefs. Das klingt sehr spannend!

Das Bayerische Staatsballett wühlt sich derweil durch die russische Literatur, natürlich von ebenfalls russischer Musik (auch von Sergej Rachmaninow, aber auch von Witold Lutoslawski) begleitet. „Anna Karenina“, der fast auf den Tag genau drei Jahre junge Erfolgsrenner von Christian Spuck, dem Zürcher Ballettdirektor und früheren Stuttgarter Hauschoreografen, steht auf dem bayerischen Premierenplan im November. Toitoitoi!

Proben als Performance

„Anna Karenina“ beim Ballett Zürich in der Choreografie von Christian Spuck. Jetzt studiert das Bayerische Staatsballett das Tanzdrama von 2014 ein. Foto: Monika Rittershaus

Allerdings reüssiert hoch aktuell beim Hamburg Ballett eine ganz andere „Anna Karenina“, und wie immer hat der dortige Ballettintendant John Neumeier so sorgfältig und inspiriert choreografiert und Szenen entworfen, dass womöglich kaum noch Bedarf an weiteren tänzerischen Auslegungen dieses Leo-Tolstoi-Romanstoffs besteht. Wahre Freaks werden dennoch die Reise durch Deutschland auf der Nord-Süd-Achse unternehmen, um, wenn schon nicht zu vergleichen, so doch doppelt zu goutieren. Achtung, in Hamburg läuft „Anna Karenina“ im Oktober, in München dann im November!

Nostalgie pur gibt es dagegen im Dezember beim Hamburg Ballett. „Don Quixote“ in der Choreografie von Rudolf Nurejew nach Marius Petipa ist in jüngerer Zeit vor allem vom Wiener Staatsballett her bekannt. Dessen Chef, Manuel Legris, ist denn auch schon in Hamburg zu Gast gewesen, um die tolle, kunterbunte Nurejew-Kamelle einzustudieren.

Proben als Performance

Das Wiener Staatsballett zeigt hier „Don Quixote“ in der Version von Rudolf Nurejew – und Manuel Legris studiert derzeit dieses Stück beim Hamburg Ballett ein. Foto: Wiener Staatsballett

Die Ballett-Werkstatt Mitte November in Hamburg wird wohl gebührend darauf vorbereiten, natürlich mit Probenausschnitten.

Heißa, hier gibt es Jux und Slapstick volle Pulle: Ein clownesk trauriger Ritter namens Don Quixote (bestens bekannt von diversen Ballett-Galas wie auch aus dem bedeutendsten Roman von Miguel de Cervantes) träumt von der noblen Jungfrau Dulcinea. Aber das eigentliche Paar hier sind der flinke Basil und die kesse Kitri. Die Jungverliebten springen und pirouettieren quasi um die Wette, spanisches Temperament lädt dabei die russische Klassik auf. Dazu noch ein paar Ritterswitze – voilà!

Proben als Performance

Sie strahlt selbst wie ein Stern am Firmament, umso mehr als brillanter „Diamant“ in George Balanchines „Jewels“ beim Staatsballet Berlin: Polina Semionova. Foto: Bettina Stöß

Ganz hehr und edelmütig in Weiß, so funkelnd und brillant wie ein Stern im Märchen, kommt dagegen Startänzerin Polina Semionova in Berlin einher: Mitte Dezember eröffnet sie als „Diamant“ im George-Balanchine-Stück „Jewels“ („Juwelen“, 1967 entstanden) den neoklassischen Wiedereinzug vom Staatsballett Berlin in die endlich sanierte Staatsoper Unter den Linden in der Hauptstadt. Polina tanzte den Pas de deux bereits mit Vladimir Malakhov in der Deutschen Oper Berlin, in der Gala-Reihe „Malakhov and Friends“. Jetzt liegt in gewisser Weise eine Last auf ihr, denn ihr Erscheinen soll – und wird voraussichtlich – den Abend toppen.

Natürlich sind die Erwartungen hier auch ans Haus sehr hoch. Ob zu hoch oder nicht hoch genug, wird sich zeigen.
Gisela Sonnenburg

Termine: siehe „Spielplan“

www.stuttgarter-ballett.de

www.semperoper.de

www.theaterdo.de

www.staatsballett.de

www.hamburgballett.de

www.staatsballett-berlin.de

 

 

 

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