Welch eine Eleganz und, ach, was für ein tiefer seelischer Schmerz! Die Choreografie „Manon“ von Kenneth MacMillan, 1974 in London uraufgeführt, vereint wie kaum ein zweites Ballett die Ambivalenz einer großen Liebe. Die Liebe ist hier ebenso stark wie sie an gesellschaftlichen Hindernissen scheitern muss. Sie gibt und nimmt – alles. Sie reißt entzwei. Sie ist erfüllt und doch unerfüllbar. Und wer alles für sie gibt, so die Moral von der Geschicht’, der kommt in ihr um. Insofern erinnern ihre Protagonisten, in der neuesten und vorerst letzten Besetzung beim Semperoper Ballett in Dresden mit Chiara Scarrone in der Titelpartie und Václav Lamparter als ihrem Geliebten Des Grieux, an „Romeo und Julia“ – allerdings unter noch tragischeren Vorzeichen.
Die Szenerie des Ganzen (Originalausstattung: Peter Farmer) ist barock und lebendig, die Währung der Liebe aber ist hier das Gold, das Geld. Und nicht nur das Werden und Vergehen – als beständiges Leitthema des Barock – stehen im Vordergrund. Sondern auch das Mittel der Prostitution: als letztlich tödlicher Versuch, der Armut zu entkommen.
Schon die Ouvertüre der indes gar nicht barocken, sondern hoch romantischen Musik von Jules Massenet (orchestriert und arrangiert von Martin Yates) erblüht in zarten Melodien und glänzt mit großer Unbefangenheit.
Heiterkeit und Melancholie sind hier verwoben, oftmals in Adagio- und Andante-Tempi.
David Coleman dirigiert die Sächsische Staatskapelle Dresden mit viel Elan und nuancierender Kraft; der filmische Gesamteindruck der ausdrucksstarken, modern-klassischen Choreografie kann so seine maximale Wirkung entfalten.
So ist auch die Liebe hier geschaffen: vorurteilsfrei.
Ein Student verliebt sich in ein Mädchen, das drauf und dran ist, entweder Klosterschülerin oder Kurtisane zu werden. Man ahnt es schon: Diese Herzensangelegenheit wird keine Chance haben.
Tatsächlich findet sich der verliebte Student bald als Krimineller in ganz üblen Machenschaften wieder. Seiner Geliebten und ihm bringt das erst die Verbannung in eine Strafkolonie ein und dann den Abschied für immer: durch den Tod des Mädchens.
Diese traurige, dennoch erotische und vor allem auch sozialkritische Geschichte der „Manon Lescaut“ ist von Abbé Prévost 1731 in Frankreich, wo sie auch spielt, erdacht worden.
Zahlreiche Opern haben den Stoff längst für bühnentauglich erklärt.
Außer Kenneth MacMillan hat zudem Xin Peng Wang 2007 beim Ballett Dortmund eine Choreografie nach der Literarvorlage geschaffen – in Dresden sieht man allerdings die berühmtere Fassung des Briten MacMillan aus den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts.
Die erste Szene zieht bereits in den Bann: Man meint, einer auf die Bühne gebrachten Filmszene beizuwohnen. Ein dörflicher Gasthof bildet den Hintergrund, bei sommerlicher Stimmung mischen sich hier im Freien die Standesschichten.
Ehrbare Damen sind da und auch Kokotten. Bettler, Halunken und Bürgerliche geben sich ein Stelldichein: mit munteren, sprungstarken Tänzen.
Houston Thomas ist hier unbedingt hervorzuheben, aber auch das Ensemble insgesamt bezaubert mit vollem Einsatz und seinen synchron getanzten wie auch solistischen Partien.
Bis Manon auftaucht.
Chiara Scarrone tanzt sie betont jung und frisch, mit einer natürlichen Noblesse. Sie springt umher wie ein Fohlen beim ersten Auslauf auf der Wiese, sie tanzt mit jedem Schritt, den sie geht, als wolle sie den Boden unter ihren Füßen adeln. Das hat schon Klasse, das hat Sympathie: So ein süßes Ding, denkt man, diese niedliche Manon wird schon was aus sich zu machen wissen. Sie sprüht ja nur so vor Lebensfreude, ist ganz verliebt in das Leben an sich.
Dumm nur, dass ihr Bruder ein charmanter Gauner ist, hervorragend getanzt von Jón Vallejo.
Und es hat wohl Gründe, dass sein Schwesterchen ins Kloster geschickt werden soll. So aufgedreht und „angeknipst“, wie sie ist, hat sie sicher viel Talent zum Flittchen.
Lescaut, ihr Bruder, der hier keinen Vornamen hat, erkennt hingegen auch ihre sexuelle Attraktivität als Geldeinnahmequelle. Prostitution – mit Lescaut als Kuppler und Zuhälter – als Alternative für Manon, nicht ins Kloster zu müssen.
So ganz christlich sind beide Geschwister nicht gestimmt!
Aber da ist ja noch etwas: die Liebe. Sie entsteht hier im Spannungsfeld einer Gesellschaft, in der es nur Armut und Reichtum gibt, oben und unten, Herren und Knechte – das feudale System, kapitalistisch durch und durch, lässt keine Ausnahmen zu.
Als Gegenwelt firmiert der Student Des Grieux, der die Zukunft verkörpert. Er hat Esprit, Klugheit, Witz – aber kein Vermögen, keinen Reichtum. Er ist ein wandelndes Versprechen, aus seinen Kenntnissen einst eine bürgerliche Karriere zu schmieden. Aber noch ist er – ein Nichts.
Zu Manon sieht er nur einmal hin – und er ist sofort verknallt, mit allen Alarmglocken, auf Leben und Tod. Amor hat ihn voll erwischt.
Aber wie! Václav Lamparter tanzt und spielt diese erste große Liebe mit fantastischer Hingabe. Ganz naiv guckt er zu dem hübschen „It-girl“ Manon hinüber – und seine Kulleraugen werden immer größer, sein jungmännlicher Körper immer geschmeidiger, seine eleganten Beine immer länger…
Und wie er es genießt, für sie ein Solo zu tanzen!
Seine Armarbeiten – die Ports de bras und auch die Kopfneigungen – sind so delikat, dass aus ihnen nur die Liebe zu sprechen vermag.
Die langen Balancen en arabesque tanzte auch schon Lescaut, der Bruder der Manon. Aber Des Grieux darf dabei hemmungslos flirten und scherzen und werben – und mit unerbittlicher Liebenswürdigkeit das Herz der jungen Dame glattweg erobern.
Der erste Pas de deux der beiden ist denn auch schon das fühlige Glück pur; von Takt zu Takt erblüht hier die Liebe als ein Gefühl der innigen Verbundenheit, der starken Sehnsucht nacheinander.
Natürlich sind diese beiden Künstler Scarrone und Lamparter selbst noch sehr jung und von daher auch nicht so versiert in großen Partien wie Melissa Hamilton und Jiří Bubeníček, die im November 2015 die Dresdner Premiere tanzten.
Die Debütanten sind selbst noch Suchende, und sie hatten anscheinend längst nicht so viele Proben, wie sie für „Manon“ gebraucht hätten. Aber sie können den jugendlichen Schwung ihrer eigenen Persönlichkeiten problemlos mit in die Rollengestaltung aufnehmen – und überzeugen als Ausnahmemenschen, die sich auf den ersten Blick erkennen und einander verfallen.
Chiara Scarrone stammt aus Italien und wurde – wie Roberto Bolle – am Teatro alla Scala, der Mailänder Scala, ausgebildet. Seit 2011 tanzt sie in Dresden, derzeit im Rang einer Coryphée, also zwischen Corps-Mitglied und Solist.
Als Coryphée tanzt auch Václav Lamparter beim Semperoper Ballett. Seit 2014 ist er in Dresden, nachdem er in den Jahren 2011 bis 2013 sechs Preise auf internationalen Wettbewerben gewann. Nach seiner Ausbildung im Tanzkonservatorium Brno tanzte er außerdem in der American Ballet Theater’s Studio Company, also der Juniortruppe vom ABT, die der Jacqueline Kennedy Onassis School in New York angeschlossen ist.
Talent haben nun beide Nachwuchsstars zweifelsohne – aber wie weit sie sich in Dresden werden entwickeln können, bleibt abzuwarten. An genügend Auftrittsmöglichkeiten mangelt es der großen Balletttruppe der Semperoper nämlich ohnehin.
Und auch die Tycoon-Stars Melissa Hamilton und Jiří Bubeníček tanzen nicht mehr an der südlichen Elbe: Hamilton verließ – offenbar wutentbrannt – Hals über Kopf die Stadt, während Bubeníček mit der „Manon“-Premiere seinen wohlkalkulierten Bühnenabschied nahm, um fortan als freiberuflicher Choreograf zu wirken.
Will sagen: Diese beiden furiosen, absolut mitreißenden Ballettkünstler fehlen nun als Vorbilder und Inspiration für die Jugend in Dresden, und ein Ersatz ist nicht in Sicht.
Das ist umso bedauerlicher, als die Truppe von Ballettdirektor Aaron S. Watkin eine Vielzahl von überdurchschnittlich begabten Tänzern vereint. Aber Ballett braucht Übung, um sich zu entfalten, und das nicht nur in qualitativer Hinsicht, sondern auch in quantitativer.
„Manon“ indes ist nunmehr leider für diese Saison abgespielt in Dresden, und das Bühnenpaar Scarrone und Lamparter hatte nur zwei Mal das Vergnügen, seine Interpretation auf der Bühne zu zeigen.
Immerhin konnte es so zeigen, dass es was kann!
Der leichtfüßigen, frohgemuten Verliebtheit des ersten Akts folgt im zweiten die Offenbarung der sozialen Diskrepanzen zwischen den beiden. Und somit kippt die Stimmung der Liebe vom Heiter-Fröhlichen ins Bedrohlich-Bedrohte.
Da wird denn auch nicht mehr unter freiem Himmel gefeiert, sondern in einem Bordell. MacMillan kreierte hierfür ein Huren-Ballett mit Mieder und Spitzenschuhen (ganz schön frivol!), wobei alle, außer den Adligen, versuchen, möglichst viel Vornehmheit auszustrahlen.
So auch Manon, die schnell begriffen hat, dass das Kurtisanentum eine einträgliche Sache sein kann. Chiara Scarrone tanzt das Umwerben der Männer und das Eingehen auf deren Avancen mit der Selbstverständlichkeit einer großenVerführerin. Ihr Bruder hat sie anscheinend gut präpariert: Liebe und Sex meint dieses Mädchen leichthin trennen zu können.
Gar nicht schmeckt das ihrem Geliebten Des Grieux, der unsäglich leidet, als er Manon, mit der er kürzlich noch eine vor Glückshormonen nur so strotzende Schlafzimmerszene hatte, jetzt mit ihren geldpotenten Verehrern beim Duett und beim orgiastischen Pas de cinq mit akrobatisch-erotischen Hebungen sieht. Diamonds are a girl’s best friends – hier hat eine solche Szene zugleich den Beigeschmack des Verrats an der wahren Liebe.
Václav Lamparter spielt die Kränkung darüber herzzerreißend plausibel, und auch das betrügerische Kartenspiel, in das Lescaut ihn hineinzieht, spielt er mit der unheilvollen Naivität des Studenten, der im praktischen Lebensalltag noch ein Neuling ist.
Lescauts Position als Zuhälter, der allerdings ernsthaft vorhat, auch den studentischen Lover der Schwester mit durchzufüttern, damit seine „Stute“ bei Laune bleibt, ist denn auch grotesk.
Sein großes Solo der Trunkenheit im Puff ist allerdings ein theatral wirkungsvoller Auftritt, voll des Vergnügens, des Klamauks, auch der technischen Finessen. Wow!
Jón Vallejo begeistert fraglos, und mit der ebenfalls gut aufdrehenden Alice Mariani als seiner Geliebten legt er dann noch einen skurril-übertriebenen Pas de deux hin, der vor Inspiration nur so sprüht!
Lescaut als Sturzbetrunkener – der immer wieder wankt und schwankt, die Augen aufreißt, dann hinfällt und am Ende einfach ganz nach hinten überkippt – und seine Geliebte als ebenfalls ausgelassen Feiernde, sie legen da ein paar Tanzschritte hin, die man mit dieser schauspielerisch-tänzerischen Raffinesse ganz selten zu sehen bekommt. Bravo!
Da passt es nachgerade, dass das Diadem der Dame mitten beim Versuch, betrunken wunderschön auszusehen, verrutscht.
Doch ein fader Nachgeschmack bleibt, das muss so sein, nach dieser Szene. Die Stimmung ist weiterhin verdüstert, wird makaber. Und der Rest des Stücks versinkt im Tragischen, langsam, aber unaufhaltsam. Kenneth MacMillan hat genau austariert, wie er Akt für Akt das Stimmungsbarometer sinken lässt, bis am Ende des dritten Akts der Tod der Titelheldin sie erwartet.
Denn letztendlich flüchten Manon und ihr Geliebter vor Strafverfolgung in der amerikanischen Kolonie. Sie landen in den morastigen Sümpfen von Louisiana, wo noch einmal ihr kurzes gemeinsames Leben in tanzenden Bildern an ihnen vorbei flattert.
Völlig entkräftet und schockierend mitleiderregend ist die Manon von Chiara Scarrone hier. Heldenhaft verliebt und tapfer alles gebend ist Václav Lamparter als ihr treuer Gefährte.
Im Bühnennebel raffen sich die beiden noch einmal zu einem großen Paartanz auf; noch einmal erzählen sie einander darin von ihrer Liebe und ihren Gefühlen, sich gegenseitig verherrlichend und ihre ewige Liebe mit jeder Geste beschwörend.
Dann stirbt Manon, in den Armen ihres Liebhabers. Zum dramatisch-pathetischen Ausklang der Musik beweint er sie offenen Gesichts – Vorhang.
Ein Stück Weltballett ist somit in Dresden zuende gegangen.
Das bemerkte auch das Publikum: wohl kaum jemand war am Ende nicht erschüttert.
Und in der ersten Pause hatte ich einen Besucher sogar seufzend sagen hören: „So etwas Schönes habe ich überhaupt noch niemals gesehen.“ Damit dürfte mindestens ein neuer Fan fürs Ballett gewonnen sein – ein schönes Erfolgszeugnis für diese Besetzung in „Manon“.
Gisela Sonnenburg
Weitere Texte zu „Manon“ bitte hier:
www.ballett-journal.de/semperoper-ballett-manon-premiere/
www.ballett-journal.de/semperoper-ballett-manon-zweitbesetzung/
Und hier das große Interview mit Foto-Session im Museum mit Václav Lamparter:
www.ballett-journal.de/semperoper-ballett-vaclav-lamparter-dieter-goltzche/