
„Nurejew“ von Kirill Serebrennikov und Yuri Possokhov wurde 2017 am Bolschoi Theater in Moskau uraufgeführt – nachdem es zunächst im Juli 2017 kurz vor der Premiere wegen der darin dargestellten Homosexualität Nurejews durch die Zensur fiel. In einer überarbeiteten Version kam das Stück dann im Dezember 2017 zur Uraufführung in Moskau. Bei der jetzt angesagten Neueinstudierung in Berlin 2026 wird es aber voraussichtlich wohl noch schärfer werden. Quelle des Videostill vom Applaus nach der Bühnenprobe 2017: Youtube
Wer hätte das gedacht?! Terpsichore (die antike Göttin des Tanzes) hat gezaubert und ausgerechnet in Gestalt von Christian Spuck mein jahrelanges Flehen erhört: Spuck holt bald ein großes Werk des megabegabten Choreografen Yuri Possokhov nach Deutschland. Und zwar „Nurejew“, jenes collagierte Mammutballett, das 2017 am Moskauer Bolschoi Theater erst in der zweiten Version uraufgeführt werden konnte. Es ist eine Koproduktion von Possokhov mit dem für Skandale bekannten Regisseur Kirill Serebrennikov. Beide leben übrigens seit Jahren im Westen, sind aber geprägt von der russischen Kultur. Unumstritten interessant ist ihr Stück über den Jahrhunderttänzer und -Choreografen Rudolf Nurejew, und man freut sich selbstredend auf diesen fantastischen Event: Die Premiere mit dem Staatsballett Berlin steht am 21. März 26 in der Deutschen Oper Berlin auf dem Plan. Und auch beim Hamburg Ballett gibt es sozusagen „russische News“ für die kommende Spielzeit: Der gebürtige Russe Alexei Ratmansky, der ebenso wie Yuri Possokhov mal Primoballerino am Bolschoi in Moskau war, kreiert zum 20. Juni 26 die Uraufführung „Wunderland“ (nach „Alice im Wunderland“ von Lewis Carroll). Außerdem wird das Meisterstück „Die Möwe“ (nach dem Theaterstück von Anton Tschechow) von John Neumeier mit Musiken von Dmitri Schostakowitsch, Alexander Skrjabin und Peter I. Tschaikowsky wieder auf den Spielplan gesetzt, und zwar ab dem 21. September 25. Was schrieb ich 2002 über die Uraufführung dieses fabelhaften, so melancholischen wie satirischen Stücks? „Man wird es aufnehmen müssen in den Kanon der bedeutenden abendfüllenden Ballette.“ Erhoffen wir so ein Resümee für die in Deutschland neuen Stücke auch! Die anspruchsvollsten Ballett-Highlights in Berlin und Hamburg in der kommenden Spielzeit 2025/26 sind damit aber auch schon genannt.
Dennoch gibt es noch Einiges mehr, und manches davon prickelt und prickelt und prickelt…

Emilie Mazon als Nina, wie sie in Moskau ihren Träumen nachhängt… so zu sehen in „Die Möwe“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West
So hat das Hamburg Ballett außer der „Möwe“ von John Neumeier auch das folgende ikonische Stück von ihm in der kommenden Saison auf dem Plan: „Die Kameliendame“. Es wird, wie immer, für Ovationen sorgen.
Um mal die internationale Strahlkraft dieses Neumeier-Balletts ganz aktuell zu belegen: Soeben feierte dieses Werk beim Wiener Staatsballett in der sensationellen Besetzung des vom Hamburg Ballett kommenden Primoballerinos Edvin Revazov und der Wiener Starballerina Olga Esina Triumphe. Esina ist übrigens gebürtige Russin, Revazov in Moskau und in Hamburg ausgebildeter Ukrainer. Ob Olga Esina nun kommende Spielzeit in Hamburg gastieren wird, bleibt abzuwarten. Schön wär’s ja.

Das ist große Strahlkraft über Deutschland hinaus: Edvin Revazov und Olga Esina beim Wiener Staatsballett mit der „Kameliendame“ von John Neumeier im März 2025 – eine Sensation. Foto: Ashley Taylor
Des weiteren kommen aber auch Neumeiers „Der Nussknacker“ (mittlerweile unverzichtbar in der Weihnachtszeit), sein „Tod in Venedig“ (erst dieses Jahr wieder aufgenommen) und sein Megaballett „Nijinsky“ (das man dieses Jahr auch schon beim Semperoper Ballett sehen konnte) wieder auf den Hamburger Plan. Das klingt soweit ganz prima. Aber:
Fürs Hamburger Publikum ist es dennoch so, dass man mit diesen insgesamt 5 Stücken des langjährigen Hamburger Ballettchefs John Neumeier weiterhin zurück fällt, wenn man bedenkt, dass es dort viele Jahre lang 12 bis 13 abendfüllende Neumeier-Programme pro Saison gab.
Und auch die Quantität, in der Ballett dort angeboten wurde, bleibt wohl unerreicht.
2019/20 zum Beispiel stand exakt 100 Mal Ballett auf dem Hamburger Spielplan der dortigen Staatsoper (vier Ballett-Werkstätten und zwei Schul-Vorstellungen inklusive, aber ohne Vorstellungen des Bundesjugendballetts).
Und wie sieht es künftig aus? 88 Vorstellungen (wieder inklusive der vier Ballett-Werkstätten und zwei Schul-Vorstellungen) stehen auf dem Hamburger Plan 25/26. Das sind immerhin ein Dutzend Aufführungen weniger.

Für freiberufliche journalistische Projekte wie das BALLETT-JOURNAL, das Sie gerade lesen, gibt es keine reguläre staatliche Förderung in Deutschland. Wenn Sie selbst was für Meinungsvielfalt und Ballettkompetenz tun wollen, dann spenden Sie jetzt!
Neben den Neumeier-Stücken werden folgende Abende angeboten:
„Demian“ vom aktuellen, noch sehr jungen Hamburger Ballettintendanten Demis Volpi (nach dem gleichnamigen Roman von Hermann Hesse), den er noch in dieser Spielzeit (mit der Uraufführung am 6. Juli 25) fertig kreieren wird.
Des weiteren gibt es zwei modern ausgerichtete Premieren: „Surrogate Cities“, eine Düsseldorfer Arbeit von Volpi, und zwar am 7. Dezember 25, sowie der etwas bedrohlich klingende Ballettabend „Kein Zurück“ am 22. Februar 26 mit Stücken von Xie Xin, Angelin Preljocaj, Marcos Morau und wieder Hausherr Demis Volpi.
Das Zeitgenössische führt somit das Regiment des Tanzes an; ein neu einzustudierendes klassisches Werk ist in Hamburg ebenso wenig wie in Berlin eingeplant.
Beim Hamburg Ballett hat die noch neue, auf Zeitgenössisches ausgerichtete Intendanz von Demis Volpi indes schon einen tänzerischen Trumpf verloren: Alessandro Frola, seit 2019 in Hamburg und längst als vielbegabter Erster Solist eine Art tanzende Allzweckwaffe, hat sich entschieden zu gehen. Man wird ihn vermissen, und zwar sehr.
Der Mehrteiler „The Times Are Racing” mit Stücken von Volpi, Pina Bausch, Justin Peck und Hans van Manen bleibt derweil im Hamburger Programm, ebenso „Slow Burn“ mit je einem Werk von Aszure Barton und William Forsythe.
Zusätzlich tanzt das Bundesjugendballett (BJB), das John Neumeier 2011 gründete, an 11 annoncierten Hamburger Terminen – allerdings nur im Ernst-Deutsch-Theater und nicht in der Hamburgischen Staatsoper.

Von der Gruppe über die Paarbildung zum Individuum und vice versa – das ist „Dumbarton Oaks“, choreografiert und getanzt vom Bundesjugendballett. Foto: Kiran West
Man hörte schon, dass Demis Volpi eher bestrebt war, die achtköpfige Nachwuchstruppe, von der traditionell nicht wenige Talente ins Hamburg Ballett übernommen werden, aus dem Ballettzentrum Hamburg – John Neumeier auszulagern, als sie so stark dort zu integrieren, wie es John Neumeier mit Leidenschaft tat.
Mit den choreografierenden Tänzerinnen und Tänzern in den „Jungen Choreografen“, die sich dann vielleicht auch ihre Musiken wieder selbst aussuchen dürfen (dieses Jahr waren sie mit Hamburger Kompositionsstudenten zwangsverkuppelt) sind es dann immerhin 12 reguläre Programme, die das Hamburg Ballett 25/26 auffährt, plus die beiden Programme „Im Aufschwung XVII“ und „Shall We Dance?“ vom BJB.
Beim Staatsballett Berlin (das nicht um die 60 Tänzerinnen und Tänzer hat, wie das Hamburg Ballett, sondern um die 90) sieht es so aus: 10 reguläre Programme (inklusive zwei experimentellen Abenden in der „Tischlerei“ der Deutschen Oper Berlin) plus ein Abend des Education-Programms „Tanz ist KLASSE!“ sollen Abwechslung bieten.

Gruppenzwang mit Stuhl und zunächst in Militärstiefeln: „Minus 16“ von Ohad Naharin ist fetzig, aber äußerst derb. Insgesamt ziemlich mittelmäßig. Foto vom Staatsballett Berlin: Admill Kuyler
Allerdings reicht der Bogen von definitiv Hochkarätigem („Nurejew“ von Yuri Possokhov, welches in Bruchstücken auch schon mal online zu sehen war) bis zu ziemlich Mittelmäßigem („Minus 16“ mit Stücken von Ohad Naharin und Sharon Eyal, das erst im Oktober letzten Jahres in Berlin premierte).
Ein König des neuen Mittelmaßes verbindet dabei die Tanzmetropolen Hamburg und Berlin: Der Choreograf Marcos Morau darf in Berlin einen Abendfüller kreieren (zum Thema „Wunderkammer“, die Uraufführung ist für den 31. Oktober 25 angesagt), während er in Hamburg beim Mehrteiler „Kein Zurück“ mit dabei ist.
Es ist seltsam mit Marcos Morau. Er ist ein netter, fülliger, junger, kumpeliger Typ mit einem festen Willen zu einer gewissen Ästhetik, aber: Er hat für Tanz wirklich nur wenig Talent. Zumindest meiner nicht ganz kenntnislosen Meinung nach. Fotografie und Performance sind wohl eher seine Domänen. Dennoch ging der Spanier als Shooting Star der westlichen Tanzszene auch mit der von ihm nach einem gefährlichen Medikament benannten Truppe „La Veronal“ medienmäßig durch die Decke.
Als Hype baute ihn etwa auch der Kultursender arte auf. Dabei sind die Werke des Trägers des spanischen Nationalen Tanzpreises nicht wirklich ballettgerecht zu nennen. Morau interessiert sich eher für Tableaus und Kostüme auf der Bühne, für Aktionen mit Kulissenteilen, und auch für zwischen Scherz und Witz schwankende Slapstick-Situationen. So ein halb trauriger, halb grotesker Klamauk scheint viel stärker sein Interesse zu wecken als die Darstellung von Figuren und Charakteren. Warum also arbeitet er mit lebenden Menschen, mit Tänzern, statt mit Maschinen oder Zirkusrobotern?
Vielleicht hilft uns die kommende Saison ja, darauf eine Antwort zu finden.

Iana Salenko und Martin ten Kortenaar beim Pas de deux im „Schwanensee“ von Patrice Bart mit dem Staatsballett Berlin. Große Tragik! Foto: Serghei Gherciu
Das Staatsballett Berlin (SBB), wo Marcos Morau seit zwei Jahren als „Artist in Residence“ rangiert, zeigt außerdem (und außer den oben genannten Premieren): den unverwüstlichen, aber wuchtig-tragischen „Schwanensee“ von Patrice Bart. Ein klassisches Glanzstück des Corps de ballet ebenso wie für die Hauptsolisten und Primaballerinen. Es ist nach dem Abgang von „Giselle“ dann das einzige klassische Werk beim SBB in der kommenden Spielzeit.
Dazu kommt ein zum 30. Mai 26 neu kreiertes Stück von Hausherr Christian Spuck zur gleichnamigen Musik von John Adams unter dem Titel „Fearful Symmetries“: in Kombination mit der „Symphony in C“ des US-Meisterchoreografen George Balanchine (der übrigens der Herkunft und Prägung nach auch Russe war). Balanchine wird nun traditionell ganz hervorragend beim Staatsballett Berlin getanzt, sodass man mindestens einen Grund hat, sich auf diesen Abend zu freuen. Mal wieder eine gute Wahl, Herr Ballettintendant!
Unter dem Titel „Gods and Dogs“ sind außerdem (bekannte) Stücke von Jiri Kylián und Crystal Pite zu sehen. Beide mühen sich, wiewohl verschiedenen Generationen und Geschlechtern angehörend, an der Aufgabe ab, moderne Tanzästhetiken zu erfinden und zur Perfektion zu führen. Es gibt Leute, die das langweilig finden, weil einfach zu wenig Inhalt bei so viel Formalismus rüberkommt. Aber es gibt auch Menschen, die sich darin wiederfinden.
Einen rundum saftigen, opulenten, märchenhaften neuen Klassik-Abend werden die Götter und die Hunde jedoch nicht ersetzen können. Darauf muss Berlin weiter warten, obwohl gerade großartige Klassikproduktionen einen hohen Anteil an seinem international gesehen guten Ruf haben (außer für Michaela Schlagenwerth, Kritikerin der Berliner Zeitung, die so ziemlich gar kein klassisches Ballett mag).
Die Staatliche Ballett- und Artistikschule Berlin, die immerhin ihren Schwerpunkt im Klassischen hat, wird, sofern es Terpsichore oder auch einfach nur ihrer eigenen Leiterin in den Kram passt, am 2. Juni 26 im Schiller Theater unter der Obhut des SBB ein Programm zeigen. Wir erinnern uns: Letztes Jahr wurde die Gala der „Staatlichen“ einfach abgesagt. Da wünscht man inbrünstig für die Zukunft alles Gute!
Dominik White Slavkovsky darf zuvor noch einen „Tischlerei“-Abend als Kinder- und Jugendballett gestalten (am 20. September 25), und „Next Generation“ zeigt dortselbst, wie immer, neue choreografische Arbeiten von Tänzerinnen und Tänzern des SBB.
Und noch ein schwerer großer Brocken wartet in Berlin auf uns: Die „Winterreise“ von Christian Spuck, die mit dem Zürcher Ballett auch schon mal als Livestream zu sehen war. Sie benutzt, wie die legendäre „Winterreise“ von John Neumeier von 2001, nicht die Originalmusik von Franz Schubert, sondern die gehaltvoll-intensive, viel modernere Version von Hans Zender.

Ein Ausbund an Sinnlichkeit: Leroy Mokgatle als Puck in Edward Clugs „Ein Sommernachtstraum“ beim Staatsballett Berlin. Foto: Yan Revazov
Ein Lichtblick lockt in Berlin derweil weiterhin zur mehrfachen Ansicht: Die Köstlichkeit der Komödie in Form von „Ein Sommernachtstraum“ von Edward Clug mit der neuen Musik von Milko Lazar, kürzlich erst uraufgeführt.
Außerdem widmet sich das SBB kommende Saison den Kranken und Sterbenden, also dem bittersten Ernst des Lebens: mit einem Tanzprojekt in einem Kinder- und Jugendhospiz sowie mit einem Tanzkurs, der auch für Menschen mit Parkinson oder Multiple Sklerose geeignet ist.
Öffentliche Trainings und Gespräche vor Publikum, aber auch ein digitales Projekt zur Berliner Tanzhistorie namens „Zeitstrahl“ sollen der Anhebung des Wissensstands dienen.
Aber nur Lob kann man hier nicht verteilen. Mit Beauftragung der Fotografin Evelyn Bencicova wird die jüngere Berliner Tradition des schlechten fotografischen Geschmacks bei künstlerischen Fotos beim SBB unbarmherzig fortgesetzt: Nach Florian Hetz, der 2023 eine absurd-schlechte Werbecampagne fürs SBB ableistete, folgt nun mit Bencicova die ganz große Klitterei am Computer. Künstlich verfremdete Körper und Gesichter à la Roboterkunst erwarten uns. KI vor, noch ein Eigentor? Es macht vermutlich Spaß, solchermaßen auf Provokation zu setzen, ohne sich zu bekümmern.
Oder man verfolgt listig und lustig die Strategie des „Blauen Pudels“, wie sie DDR-Gebildeten noch bekannt sein dürfte. Um die in der DDR üblichen Zensurkräfte zu beschäftigen, bauten Theaterkreative gern einen „Blauen Pudel“ in ihre Arbeit ein, also etwas Auffällig-Abstruses, das sofort die Aufmerksamkeit der Zensoren einfing und von anderen Dingen ablenkte. Vielleicht soll heute auf diese Weise das Publikum dazu gebracht werden, sich gezielt über desolate Fotospiele aufzuregen, um dann den modernen Tanzstücken auf der Bühne etwas gnädiger gegenüber zu stehen.

Caspar Sasse und Louis Musin mit dem Ensemble vom Hamburg Ballett kurz vor Ende von „The Times are Racing“ von Justin Peck. Foto: Kiran West
Insgesamt versprechen beide Ballettintendanten aber glaubhaft, „gegen Gleichgültigkeit und Verödung“ (Christian Spuck) vorzugehen zu wollen und „die Perspektive sowohl des Ensembles als auch die des Publikums auf den Tanz“ (Demis Volpi) zu erweitern.
Na, dann mal zu!
Gisela Sonnenburg

Ana Torrequebrada und Louis Musin vom Hamburg Ballett in „Die Möwe“ von John Neumeier. Foto von der Nijinsky-Gala 2024: Kiran West