Leben und Sterben in Venedig Fulminant: Das Hamburg Ballett tanzt den „Tod in Venedig” von John Neumeier mit neuen Besetzungen

"Tod in Venedig" von John Neumeier beim Hamburg Ballett

Der Meisterchoreograf träumt sich erotische Erfüllung herbei: Edvin Revazov als Gustav von Aschenbach im Liegestuhl am Lido und Louis Musin als Wanderer in „Tod in Venedig“ von John Neumeier. Foto: Kiran West

Rudolf Nurejew hätte es gern getan, John Neumeier tat es: ein Ballett nach der Novelle „Der Tod in Venedig“ von Thomas Mann zu kreieren. Darin verfällt ein alternder Künstler dem Charme eines nichtsahnenden blutjungen Mannes. Und der Alte scheint an der Nichterfüllung seiner Liebe nicht nur zu scheitern, sondern sogar zu sterben. Nurejew entdeckte für die Uraufführung von Flemming Flindt 1990 in Mailand den späteren Superstar (und Gast-Neumeier-Tänzer) Roberto Bolle für die Rolle des geliebten Jungen Tadzio. John Neumeier hingegen ließ sich entfernt von seiner eigenen Liebesgeschichte für sein eher frei nach Thomas Mann entstandenes Werk inspirieren. Das Hamburg Ballett, das 2003 die Uraufführung tanzte, kann jetzt, seit der Wiederaufnahme am letzten Sonntag, zwei sehr sehenswerte Neubesetzungen dessen anbieten. Vor allem verkörpert Edvin Revazov, der 2003 in nur drei Monaten die Partie des Tadzio für die Uraufführung kreierte, und der 2020, kurz vor dem November-Lockdown, noch die Rolle des Friedrich II. in „Tod in Venedig“ tanzte, jetzt die Hauptperson, also den so genannten „Meisterchoreografen“ Gustav von Aschenbach. Er ist eine tolle Besetzung, macht die schwierige psychologische Situation der Figur fasslich. Ergreifend hebt und senkt Revazov am Ende des ersten Teils im Spotlight die Arme, zeigt in dieser Geste die vergebliche, nichtsdestotrotz überstarke Sehnsucht des alternden Mannes.

"Tod in Venedig" von John Neumeier beim Hamburg Ballett

Ein Pas de trois allererster Güte: Edvin Revazov als Aschenbach und Silvia Azzoni mit Alexandre Riabko als „Konzepte“ beim Hamburg Ballett. Foto von „Tod in Venedig“: Kiran West

Aschenbach ist hier – in Anlehnung an Thomas Manns Aschenbach, der ein Komponist nach dem Zuschnitt Gustav Mahlers ist – ein ironisch skizziertes Alter ego von John Neumeier, das schon zu Beginn des Stücks von einer Schaffenskrise befallen ist. Seine Assistentin (Anna Laudere) zieht ihm die Straßenschuhe aus und reicht den Kaffee zur Anregung, er hofft gleichsam, damit sei Inspiration verbunden. Und im weiteren Verlauf entsteht mit Silvia Azzoni und Alexandre Riabko als imaginierten „Konzepten“ ein elegant-geschmeidiger, gleichsam spirituell wirkender Pas de trois, der seinen heftigen, spontanen Szenenapplaus bei der Wiederaufnahme unbedingt verdient hat.

Es ist, als korrespondiere der Meisterchoreograf Aschenbach ein letztes Mal mit seinem eigenen inneren Genius, wenn er mit den beiden vorzüglich tanzenden „Konzepten“ agiert. Die Atmosphäre einer Probe im Ballettsaal ist damit  nicht nur eingefangen, sondern gleichsam erhöht zu einer transzendenten Meditation.

"Tod in Venedig" von John Neumeier beim Hamburg Ballett

Und so sieht die Szene bei einer Probe auf der Bühne aus: Edvin Revazov, Silvia Azzoni und Alexandre Riabko bei der jüngsten „Ballett-Werkstatt“ vom Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Dennoch wird Aschenbach nicht mehr glücklich mit seiner Arbeit. Er fühlt sich ausgebrannt, überfordert, wird zynisch und gefühlskalt. Kein Zweifel: Er schlittert in eine Depression hinein.

Auch mit den weiteren hervorragenden Tänzerinnen und Tänzern, mit denen Aschenbach für sein neues Ballett über Friedrich II. probt, kommt er schon in seiner eigenen Meinung nicht so richtig weiter. Mögen sie sich noch so anstrengen bei den Pirouetten und den Sprüngen im Corps.

Der Pianist auf der Bühne (David Fray, der in den Klavierauszügen des „Tristan“ nicht ganz die Süffisanz von Élizabeth Cooper erreicht und insgesamt zu glatt und emotionslos spielt) kann dem verzweifelnden Aschenbach auch nicht helfen. Dem Meister entgleitet sein eigenes Erfolgsprogramm.

Aschenbach bereitet so unbewusst seinen eigenen Abschied vom Leben vor. Dieses wird dann im zweiten Teil des Abends besonders deutlich.

"Tod in Venedig" von John Neumeier beim Hamburg Ballett

Wenn der Starchoreograf sich die Inspiration wie eine Tasse Kaffee reichen lassen möchte: Edvin Revazov und Anna Laudere in „Tod in Venedig“ von John Neumeier. Foto: Kiran West

EINE SEHNSUCHT, DIE VERBINDET

Hier flüchtet er sich aus dem unbefriedigenden Alltag in eine unerfüllbare Verliebtheit: mit dem viel zu jungen, viel zu unbedarften Burschen namens Tadzio (neu und toll in dieser Partie: Caspar Sasse, gebürtiger Hamburger und nun schon mit der zweiten Hauptrolle als Nachwuchstänzer ein richtiger Shooting Star). Tadzio ist aber noch fast ein Kind und liebt das unbedarfte Ballspielen in Badehose am Strand.

Aschenbach starrt ihn an, ist fasziniert von der jugendlich-männlichen Kraft – und verliert sich in einer aussichtslosen Begierde. Es ist nicht nur der knackige Körper des Jungen, der ihn anzieht. Sondern es gibt auch ein inneres Band, das beide verbindet: die Sehnsucht nach einer ungewissen Zukunft.

Dieses Gefühl hat auch Tadzio im Blick. Kilometerweit in die Ferne scheint er zu sehen, um Neues für sich entdecken zu wollen. Aschenbach hingegen hegt die Sehnsucht nach der Vergangenheit, nach seiner eigenen Jugend, und zugleich nach der Zukunft, gepaart mit der Hoffnung auf eine neue Liebe.

Aber als er ausrutscht und am Boden liegen bleibt, ist es Tadzio, der ihm die Hand reicht und ihn erst ein paar Meter in Sitzpose über den Boden schleift, um ihn dann hilfreich hochzuziehen. Diese kurze Szene wiederholt sich später in der Erinnerung von Aschenbach und also auch auf der Bühne.

Dass Aschenbach es heimlich genießt, sich von dem jungen Mann anfassen und ziehen zu lassen, ist ein so seltenes wie bemerkenswertes Bild im Ballett. Latente Homosexualität (oder Bisexualität) mag auch heute noch – trotz der Antidiskriminierungsgesetze – ein oft unausgesprochen großes Problem sein.

"Tod in Venedig" von John Neumeier beim Hamburg Ballett

Caspar Sasse als Tadzio und Edvin Revazov als Aschenbach im Clinch verhinderter Liebe… so zu sehen in John Neumeiers „Tod in Venedig“ beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Aber wie Revazov, der einst den sorglos-sinnlichen, körperbezogenen, die Jugend schlechthin personifizierenden Tadzio darstellte, jetzt den alternden, schwächelnden, überaus frustrierten und sich zunehmend in seine Illusionen zurückziehenden „Meisterchoreografen“ Aschenbach spielt und tanzt, gehört zu den absoluten Highlights, wie man sie so nur beim Hamburg Ballett erleben kann.

Lloyd  Riggins, der ebenfalls unvergessliche Aschenbach der Uraufführung, mag hier als Ballettmeister ebenso geholfen haben wie Neumeier selbst. Denn für die zehntägige Endphase der insgesamt nur dreiwöchigen Probenzeit für die Wiederaufnahme reiste John Neumeier (der ja seit letztem Sommer nicht mehr Ballettintendant in Hamburg ist) an und arbeitete mit.

Dabei mag es für einen Künstler wie Edvin Revazov, der im Laufe der letzten Jahrzehnte Dutzende von Malen mit dem äußerst produktiven choreografischen Genie John Neumeier kreierte, zunächst schwierig gewesen sein, einen schöpferischen Geist darzustellen, der ganz anders, nämlich am Versiegen ist.

Revazov aber schafft es, in seiner Darstellung das melancholische Leiden eines gefeierten, aber einsamen und unlustigen Starkünstlers zu einer alles umfassenden, für jede und jeden nachvollziehbaren Lebenskrise zu steigern.

Lesen Sie hier, was nicht in BILD und SPIEGEL steht! Und spenden Sie bitte! Journalismus ist harte Arbeit, und das Ballett-Journal ist ein Projekt ohne regelmäßige Einnahmen. Wir danken es Ihnen von Herzen, wenn Sie spenden, und versprechen, weiterhin tüchtig zu sein!

Selbstzweifel, Zweifel an der eigenen Leistung wie an der Leistung anderer, etwa beim Zerreißen der Fotografien des Portraitisten – die Skepsis summiert sich und gebiert das merkwürdige Flair eines unausgesprochenen Dauerversagens, an dem zuvorderst sein Produzent, also von Aschenbach, selbst zu leiden hat. Seine Gegenwelten, also einerseits die Fantasien in seiner Kunst, andererseits sexuelle Wunschvorstellungen, werden in seinem inneren Erleben immer stärker.

So wird Aschenbachs Traum einer Orgie und auch die Vorstellung, sich wundersam verjüngen zu lassen, von den Figuren der „Wanderer“ auf der Bühne fasslich. Louis Musin und Artem Prokopchuk verkörpern sie in der Wiederaufnahme-Besetzung, und man ist hingerissen von soviel zugleich lyrischer und dramatischer Kraft. Kreiert wurde diese Partie, die es nur im Doppelpack gibt, übrigens von den eineiigen Zwillingen Jiri und Otto Bubenicek.

Als rahmendes Paar umgarnen sie Aschenbach. Sie dienen ihm als Gondoliere, während er versonnen durch das Wasser streicht, als Gitarristen mit Hardrock-Sound und Kiss-Maske bei einer Party und als Friseure, die ihm eine Perücke und „verjüngendes“ Make-up besorgen.

"Tod in Venedig" von John Neumeier beim Hamburg Ballett

Für die Darstellung einer Gondel benötigt Neumeier im Ballett keine Requisiten. Die Tänzer spielen, sie seien im Boot – und können sogar sichtbar mit der Hand durch das Wasser streichen. Foto vom Hamburg Ballett: Kiran West

ERINNERUNGEN ALS LEITMOTIVE

Aber auch Erinnerungen an seine Jugend durchkreuzen und durchqueren Aschenbachs Dasein als unzulänglich gewordener Star. Sie bilden die Leitmotive im Stück. Anna Laudere als Aschenbachs Mutter, drei weitere Tänzerinnen als Schwestern und nochmals Anna Laudere als Mutter von Tadzio verweben sich zu einem Teppich aus collagierten Tanzszenen. Die starke Bühnenpräsenz der Laudere überstrahlt hier jeden Zweifel, den man an der Logik der Szenen haben könnte. Sagenhaft.

Aschenbach aber findet schließlich keinen Ausweg mehr aus dem psychotisch gewordenen Labyrinth aus seinen unerfüllten Wünschen – und es wird sein Untergang.

Daran kann auch die Ballerina (Xue Lin mit großer Grazie) nichts ändern, ebenso wenig das harmonische Miteinander mit den Gästen im Luxushotel in Venedig, unter denen sich auch die Familie von Tadzio befindet.

In der Novelle stirbt Aschenbach an der Cholera, die er sich fahrlässig mit dem Verzehr von überreifen Früchten in Venedig zugezogen hat. Thomas Mann lässt ihn statt auf dem Scheißhaus oder im Bett malerisch auf einem Liegestuhl am Lido dahin siechen und mit Blick auf den vor Kraft nur so strotzenden Tadzio ersterben.

Letztlich geht es um das Schwinden der Lebenskraft an sich – die Cholera scheint hier nur der Auslöser des Todes, nicht die Ursache.

"Tod in Venedig" von John Neumeier beim Hamburg Ballett

Louis Musin und Artem Prokopchuk als Wanderer im Doppelpack – Helfershelfer, um Aschenbach in „Tod in Venedig“ die letzten Tage zu versüßen. Foto: Kiran West

Im grandiosen Film „Tod in Venedig“ (auch schon ohne grammatischen Artikel) von Luchino Visconti von 1971 ist das Leben und Sterben des Aschenbach in Venedig ebenfalls Ausdruck weniger nur des körperlichen als auch des geistigen Verfalls.

Aschenbach übergeht im Film wie in der Novelle Warnhinweise auf die Cholera und verlässt Venedig nicht, obwohl er weiß, dass er damit der Propaganda der Stadt, die den Ausbruch der Cholera nicht zugeben will, Folge leistet. Er riskiert sein Leben damit – und verliert es dadurch.

Warnungen vor der Cholera gab es in Neumeiers Ballett nie. Aber: In der Neueinstudierung von Neumeiers „Tod in Venedig“ tragen die Tänzerinnen und Tänzer in einer Party-Szene ebensolche Masken, wie sie in der Corona-Zeit getragen wurden.

"Tod in Venedig" von John Neumeier beim Hamburg Ballett

Tanzt die Party mit Corona-Masken: eine Neuerung in John Neumeiers Totentanz-Ballett „Tod in Venedig“ beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

CORONA STATT CHOLERA

Die Neudeutung ist klar: Der Corona-Virus statt der Cholera mäht hier die Menschen nieder. So ziehen denn auch gleich drei Todesfiguren („Totenträger“) in Weiß mit schwarzer Henkersmaske auf Leichentüchern gefallene Frauen hinter sich her. Niemand von den Tanzenden auf der Party des Lebens auf der Bühne stört sich an ihnen – sie durchqueren den Alltag der Feiernden, als sei das Leben sowieso zu kurz, um dem Tod etwas entgegenzustellen.

Nicht umsonst trägt Neumeiers Stück den Untertitel „Ein Totentanz“.

Thomas Mann schrieb sein Werk kurz nach dem Tod von Gustav Mahler 1911, und es beschreibt in absolut fiktiver Weise dessen angebliche letzte Lebenstage während eines Reiseaufenthalts in Venedig.

Warum Mann dem spätromantischen Komponisten sein eigenes heimliches Begehren in homosexueller Hinsicht andichtete? Vermutlich, weil er zu verklemmt war, um darüber in der Ich-Form zu schreiben.

Mann schiebt die Begierde, die er sich selbst auch rigoros verbietet, einfach dem vom Judentum zum Katholizismus konvertierten Mahler unter. Und schon hat er eine komplexe, spannende literarische Figur.

Thomas Mann hat sich übrigens in etlichen Passagen in seinen Tagebüchern sehr wohl mit seinen bisexuellen Neigungen auseinandergesetzt. Er hat sich aber, zumal sie pädophil geprägt waren, niemals erlaubt, sie auszuleben. Das unerfüllte Verlangen nach jungen Männern hat ihn aber lebenslang gequält.  Soweit der Kenntnisstand der Geisteswissenschaften.

"Tod in Venedig" von John Neumeier beim Hamburg Ballett

Der Wanderer mutiert zum brillant auftanzenden Hardrock-Gitarristen mit Kiss-Maske im Gesicht. Und all das uf einer Corona-Party. Schön schräg! Zu sehen in „Tod in Venedig“ von John Neumeier. Foto: Kiran West

Nun hat John Neumeier seit 1973 immer mal wieder zu Musiken von Gustav Mahler kreiert. Hier aber nicht. Sein „Tod in Venedig“ nutzt vielmehr Musiken von Richard Wagner und Johann Sebastian Bach.

Wagner passt insofern vorzüglich hierher, als er am 13. Februar 1883 tatsächlich in Venedig starb, und zwar während er an einem Essay mit dem Titel „Über das Weibliche im Menschen“ schrieb. Ob Wagner kurz vor seinem Ableben unbewusst seine eigene weibliche Seite entdeckt hat? Mit allem Drum und Dran, also auch in sexueller Hinsicht? Immerhin endet sein Aufsatzwerk mit dem Verweis auf „ekstatische Zuckungen“ während der „Emanzipation des Weibes“.  Und dann folgen noch die beiden Schlagworte „Liebe – Tragik“, die sich ebenfalls weit ausdeuten lassen.

Aber tatsächlich gibt es in Neumeiers Leben einen autobiografischen  Hinweis  auf eine neue Verliebtheit: Sie bezieht sich auf die damals neue Bekanntschaft mit Neumeiers heutigem Ehemann, dem Hamburger Herzchirurgen Hermann Reichenspurner. Der war schon damals ein großer Fan der Wagner-Opern und brachte Neumeier die Meisterschaft dieser Gesamtkunstwerke näher. Und so erfüllen Klavierauszüge aus „Tristan und Isolde“ und anderen Werken im Verein mit Einspielungen des Bacchanals aus dem „Tannhäuser“ (welches Neumeier 1978 in Bayreuth auch spektakulär choreografierte) das langsame Abschiednehmen eines gefeierten Künstlers.

Man merkt schon: John Neumeier hat sich hier die beständige Ironie, die Liebe zur Übertreibung, von Thomas Mann für das Stück angeeignet.

BACH STATT FRIEDRICH II.

Aber warum hat er als zweiten Komponisten Bach gewählt? Weil Aschenbach in Neumeiers Stück gerade an einem Ballett über den preußischen König Friedrich II. („Friedrich der Große“) arbeitet. Der war nun indes selbst auf Hobbybasis und neben der königlichen Berufsausübung Komponist. Friedrichs Werke erinnern auch an die von Bach, sie sind aber strukturell so simpel und etwas einfältig gehalten, dass sie sich nicht als Untergrund für einen großen Ballettabend eignen. So fiel die Wahl vor allem auf Auszüge aus dem „musikalischen Opfer“ von Bach, statt auf die Mickerkonzerte von Friedrich dem Großen.

Jacopo Bellussi tanzt den Friedrich mit Nonchalance und doch zugleich mit  traumwandlerischer Sicherheit. Im königsblauen Barockrock überm nackten Oberkörper steht er zugleich auch für eine erotische Fantasie des Anti-Helden Aschenbach.

Mal tröstet er ihn, mal tanzt er nach seinen Vorgaben. Aber wirklich frei fühlen sich weder der Starchoreograf noch der König in dessen Fantasie.

Am Ende steht der berühmte Pas de deux von Aschenbach mit Tadio: Ersterer sucht den Körperkontakt, sucht den Halt zwischenmenschlicher Beziehung dadurch ebenso wie durch gelebte Erotik.

"Tod in Venedig" von John Neumeier beim Hamburg Ballett

Beginn der berühmten Schlusspose: Caspar Sasse als Tadzio stehend, Edvin Revazov als Aschenbach sitzend, gerade noch lebend. Foto vom Hamburg Ballett: Kiran West

Doch Tadzio, der das Begehren nicht erwidert, ignoriert das Verlangen des Alten. Die Hände zu kreisförmigen Fäusten geballt, hält er sie sich als Fernglas vor das Gesicht. Und sieht auf uns, das Publikum, während Aschenbach auf Knien zu seinen Füßen langsam stirbt.

Stehende Ovationen bestätigen die hohe Qualität vom Hamburg Ballett. Zumal am Sonntagabend auch John Neumeier und Bühnenbildner Peter Schmidt (der Hamburger Designer, der auch das geschmackvolle Interieur etwa der Stifterlounge in der Hamburgischen Staatsoper entwarf) auf die Bühne kommen.

Neumeiers Nachfolge-Intendant Demis Volpi überreichte opulente Blumensträuße an sie. Alles eitel Sonnenschein?

Der Jubel in einem solchen Opernhaus ist durchaus nicht beliebig. Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass Erinnerungen eng mit Orten verknüpft sind. Das Gehirn speichert hier Dinge zusammen ab, die zusammen gehören. Schon von daher ist ein Umzug der Kunst aus dem Zentrum an den windigen Stadtrand – wie es der Hamburger Senat jüngst beschloss, was aber von der Bürgerschaft noch nicht bestätigt wurde – höchst fragwürdig.

Keine geringere als Marcia Haydée, die Neumeier-Muse, die in der Titelrolle sein berühmtestes Ballett „Die Kameliendame“ uraufführte, sagte mir, dass sie zum Beispiel im Stuttgarter Opernhaus, wo sie am häufigsten wirkt, die guten Vibrationen und die Energie bis zurück in die Cranko-Ära, die 1973 endete, regelrecht erfühlt.

Der Jubel eines Publikums würdigt auch diese gesammelten Energien an einem historisch bedeutsamen kulturellen Ort. Das sollten die Hamburgerinnen und Hamburger nie vergessen. Und darum hier  eine Petition pro Staatsoper am traditionellen Standort unterschreiben.
Gisela Sonnenburg

P.S. In einer weiteren neuen Besetzung tanzen Christopher Evans als Aschenbach (was er schon früher sehr erfüllend tat) und Lennard Giesenberg als debütierender Tadzio. Alessandro Frola gibt dann die Illusionsfigur von Friedrich II., und Ida Praetorius tanzt die beiden Mütter. Madoka Sugai und Jacopo Bellussi personifizieren die Konzepte, Florian Pohl und Matias Oberlin den doppelten Wanderer. Es herrscht kein Zweifel daran, dass auch diese Besetzungen absolut sehenswert sind. 

Demis Volpi, kommender Hamburger Ballett-Intendant

Christopher Evans, hier mit Atte Kilpinen als Tadzio, in „Tod in Venedig“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett in der Hamburgischen Staatsoper. Foto: Kiran West

www.hamburgballett.de

 

ballett journal