Es ist tragisch, was uns als Nachricht aus Sankt Petersburg ereilt: Am gestrigen Samstag, dem 16. November 2024, verstarb der weltweit beliebte Starballerino Vladimir Shklyarov. Er soll eine brennende Zigarette in der Hand gehalten haben, als er vom Balkon in den Tod stürzte. Er muss starke Schmerzen gehabt haben, denn er stand der russischen Presse nach kurz vor einer schweren Operation an der Wirbelsäule. Von seiner Ehefrau, der Ballerina Maria Shirinkina, und den gemeinsamen zwei Kindern lebte er schon längere Zeit getrennt. Ob er wie sein Freund Sergej Polunin private Probleme mit Suchtstoffen hatte, ist unbekannt. Aber die Liebe, die Vladimir so glorios und sprunggewaltig, so ausdrucksstark und hingebungsvoll auf der Bühne zu tanzen wusste, half ihm in seinen letzten Stunden offenbar nicht genügend. Welch ein Verlust! Auch im Hinblick auf kommende Generationen, denen der gebürtige Petersburger, der am Vaganova Institut ausgebildet wurde, ein lebendiges Vorbild hätte sein können. Vladimir Shklyarov war ein fantastisch sehnsuchtsvoller Solor in „La Bayadère“, ein hinreißend schmachtender Albrecht in „Giselle“ – auch und gerade mit der Berliner Startänzerin Polina Semionova am Mariinsky Theater in Piter – und in München beim Bayerischen Staatsballett tanzte er unter der Direktion von Igor Zelensky 2016/17 mit männlich-wildem Impetus unter anderem in „Spartacus“ und „Romeo und Julia“.
Shklyarovs zarte Seite, die ihm immer etwas schelmisch Bubenhaftes verlieht, kam in seinen Rolleninterpretationen zwar nie zu kurz – aber das Leben war offenbar zu hart für den sensiblen Künstler. Ob er tatsächlich durch Suizid oder sogar durch Mord oder aufgrund eines Unfalls starb, ist derzeit unklar. Man hat nur den Eindruck, dass der Freitod hier nicht ganz fern lag.
In aller Welt trauern jetzt seine Fans, und seine Videos kursieren stärker denn je durch die sozialen Medien. Wenigstens kommen die westliche und die östliche Ballettwelt sich durch dieses große Unglück einander wieder etwas näher. Man erinnert sich gemeinsam an Vladimir, denn sein Flair ist unvergessen: mit hoch disziplinierter Technik, gepaart mit harmonischer Musikalität und pointiertem Ausdrucksvermögen vermochte er rückhaltlos Sieg und Niederlage, Virtuosität und Menschlichkeit auf der Bühne darstellen.
Er konnte solistisch so stark leuchten und brillieren wie nur wenige, sich aber im Pas de deux auch ganz wie ein Gentleman zurücknehmen, um die Partnerin erstrahlen zu lassen. Shklyarov war ein echter Danseur noble, der uns viel zu früh verließ!
Während seine Familie und seine Freunde nun um ihn trauern oder noch ganz im ersten Schock erstarrt sind, hat die Dresdner Halbsolistin Zarina Stahnke allen Grund zur Freude, und sie darf sich auch freuen. Für ihre durchdachte, expressive Darstellung der Königin Zoe im durchgeknallten „Schwanensee“ von Johan Inger erhielt sie – ebenfalls just gestern – den „Faust“, also jenen deutschen Theaterpreis, der jährlich die Trends anzeigt und in den performativen Künsten von Staats wegen viele lobredende Punkte verteilt. Herzlichen Glückwunsch!
Die Preisverleihung fand übrigens im Theater Altenburg Gera statt, welches hier demnächst noch aus anderem Grund Aufmerksamkeit bekommen wird. Zarina indes ist US-Amerikanerin und tanzt seit 2012 im Semperoper Ballett. Ausgebildet wurde sie nicht nur an der von George Balanchine gegründeten School of American Ballet in New York, sondern auch im Elevenprogramm der Palucca Hochschule für Tanz in Dresden.
Trost für viele Andere bereitet derweil das Wiener Staatsballett vor. Am kommenden Dienstag, dem 19. November 24, steigt ab 19 Uhr online der kostenfreie Livestream mit der Premiere von „The Winter’s Tale“ („Das Wintermärchen“), frei nach William Shakespeare, von Christopher Wheeldon. 72 Stunden lang ist die Sendung dann großzügigerweise noch im Netz verfügbar. Es handelt sich bei der Premiere übrigens um eine Kooperation mit dem American Ballet Theatre in New York.
Nun wird in den kleidsamen Originalkostümen und leider auch mit dem schauderhaft toten, dennoch bunt geschmückten Plastikbaum auf der Bühne getanzt, die sich der Ausstatter Bob Crowley für die Londoner Premiere 2014 ausdachte. All das war auch schon beim Hamburg Ballett zu sehen, jetzt also werden die Stars der Wiener darin glänzen.
Die Live-Orchester-Musik von Joby Talbot, der häufig für Wheeldon-Ballette komponiert, ist das Hinhören unbedingt wert; ihr softer, dennoch rhythmischer Sound verbindet die Erde mit dem Himmel, die dunklen Gedanken mit der Hoffnung. Bei aller Vorfreude:
Eine Gedenkminute für Vladimir Shklyarov sollte jetzt drin sein, bevor man sich der Erinnerung an ihn als Tänzer hingibt.
Gisela Sonnenburg