Bretter, Bretter, Bretter: Wie ein überdimensional großer Verschlag aus kräftigen Holzbrettern mutet die Männerwelt hier an. Jägerszenen und Teufelsbünde finden wie vor Barrikaden statt, wenn Regiestar Andreas Kriegenburg für die Hamburgische Staatsoper den „Freischütz“ neu interpretiert. Waldromantik und Teufelsdüsternis, Wogen der Liebe und des Zorns: „Der Freischütz“, nach einer Erzählung von August Apel im „Gespensterbuch“ im frühen 19. Jahrhundert ersonnen, wurde bezüglich des Komponisten Carl Maria von Weber zum Inbegriff seines umfassenden Werks. „Die Jägersbraut“ war der ursprüngliche Titel dieser Oper, und Andreas Kriegenburg rückt in seiner Neuinszenierung die Perspektive auf die Gegensätze verschiedener Welten, etwa der Männer- und der Frauenwelt, in den Vordergrund. Die Dramaturgin Angela Beuerle begleitet die kompakte Inszenierung, die am kommenden Sonntag, also am 17. November 24, ihre Premiere haben wird, mit ihrem umfassenden Hintergrundwissen.
Das Libretto von Friedrich Kind, das Komponist Weber zunächst mit einer begrenzten Nutzungszeit von fünf Jahren ab 1821 kaufte, ist hier weitgehend beibehalten, so auch die Dialoge. Aber schon die mitreißende Ouvertüre wird es in sich haben: Eine von Kind konzipierte Szene – die die junge Heldin Agathe beim Eremiten zeigt, weil dieser eine Schreckensvision hatte und Agathe nun mit wörtlich zauberhaften weißen Rosen davor beschützen will, von ihrem eigenen Liebsten erschossen zu werden – wird wortlos gezeigt. Weber hatte diese Vorgeschichte der eigentlichen Story nicht mit aufgenommen in sein Opernwerk, aber Kriegenburg hat sie reaktiviert.
Und so steigt die Spannung. Denn Gut und Böse sind hier von Beginn an präsent: als für den Kampf miteinander prädestinierte Mächte.
„Man vergisst schnell, wie aktuell diese Oper ist, aber man sollte den ‚Freischütz‘ nicht als belangloses Schauermärchen abtun“, sagt Angela Beuerle. Sie, mittlerweile eine erfahrene Dramaturgin, die schon mit Peter Konwitschny und der wilden spanischen Truppe La Fura dels Baus arbeitete, hat über mittelalterliche Sprach- und Wissenschaftstheorien promoviert und begreift Kultur als einen fortlaufend werdenden Prozess, der sehr wohl auch schutzbedürftig ist.
Schutz finden in Kriegenburgs Inszenierung auf den ersten Blick die jungen Frauen. Heldin Agathe und ihre Freundin Ännchen besiedeln ein karges Zimmer, sozusagen den Prototypen eines bewohnten Raumes. Doch auch hier bricht das Grauen ein, das die Männerwelt da draußen mit ihrem auf Bretterwände reduzierten Wald und der Furcht erregenden Wolfsschlucht beherrscht.
Da fällt mal im falschen Moment ein Bild von der Wand, und statt eines grünen Brautkranzes findet Agathe eine silberne Totenkrone vor. Dabei will sie heiraten, ist verliebt – und muss doch befürchten, statt Liebesglück den Tod zu heiraten.
Max, der junge Jäger, dem ihr Herz gehört, hat nämlich eine Pechsträhne. Seit Wochen schießt er nur noch daneben. Und das, obwohl er sogar seine Braut mit einem so genannten „Probeschuss“ erringen muss. Der Termin hierzu rückt näher… und alle haben gute Laune, denn es steht eine Hochzeit an.
Das Paar aber hat einen erbitterten Feind: Caspar, der Rivale von Max beim Buhlen um Agathe. Er hat Verbindungen zu jenen finsteren Mächten, welche wiederum Max nach dem Lebensglück trachten.
Samiel, eine ländliche Version des Teufels, wird eine ernste Gefahr. Andreas Kriegenburg versinnbildlicht das, indem er zehn Doubles von Samiel auftreten lässt – das Böse ist somit nicht auf einen Satan beschränkt.
Max, naiv und nervös, lässt sich von Caspar zu einem Teufelspakt überreden. Sechs Freikugeln soll es geben, aber der letzte Schuss gehört dafür Samiel.
Am Tag der Probe soll Max auf eine weiße Taube zielen. Agathe zittert, sie hatte schon einen Alptraum, in dem sie als weiße Taube von Max abgeknallt wird. Und dann – zielt Max…
Was für ein Glück, dass der Eremit dazu gekommen ist. Er lenkt die böse Kugel um, und sie vernichtet, statt Agathe, den Bösewicht Caspar.
Der Schlusschor, so Dirigent Yoel Gamzou, ist „beinahe ein Oratorium“, so hell und opulent und spirituell.
Da schwingt in der Musik der Oper stets das Grauen ebenso mit wie die Hoffnung. Angela Beuerle: „Man muss diese Klangwelten von Weber, die zu seiner Zeit revolutionär waren, heute wieder neu hören. Seine Zeitgenossen hatten ja noch Beethoven im Ohr, nicht Richard Wagner.“ Letzterer war übrigens als junger Mann sehr beeindruckt vom „Freischütz“ – und wurde als Komponist von ihm geprägt.
So schließt sich ein Kreis, wenn man diese Oper als Standpunkt nimmt, um auf die Operngeschichte zu schauen. Carl Maria von Weber entwickelte weiter, was andere vorgaben, er setzte Emotion und Empfindsamkeit gegen die steife Klassik und bereitete so den Weg für die tiefe Romantik, die mephistophelisch auf der einen und läuternd auf der anderen Seite jubiliert. Beuerle: „Ohne das Böse gäbe es hier nicht das Gute. So erzählt es Andreas Kriegenburg. Darum lässt der Eremit es auch fast zur Katastrophe kommen, damit das Gute siegen kann. Ohne den Schock würde sich aber nichts ändern in dieser Gesellschaft aus Traditionen, Regelwerken und Konventionen.“
Und tatsächlich ändert sich was: Der Probeschuss wird Max erlassen, statt dessen wird vom Herrscher ein Probejahr der Liebe angesetzt. Das klingt schon fast nach wilder Ehe… ist aber im 19. Jahrhundert noch eine Probe der Keuschheit. Immerhin: Die Liebe hat eine reelle Chance, obwohl das Böse niemals endgültig besiegt sein wird. Geduld und Einsicht sind da verlangt, und Vernunft und Didaktik ersetzen das Prinzip vom Prüfungsschuss.
Die Erstfassung dieses Kunstmärchens stammt übrigens von August Apel und erschien 1810 im „Gespensterbuch“. Doch darin gibt es kein Happy End, sondern einen tragischen Ausgang der Geschichte: Max tötet Agathe mit dem verhängnisvollen Probeschuss und verfällt selbst dem Wahnsinn. Von so dunkler Ermahnung sind Friedrich Kind und Carl Maria von Weber aber weit entfernt.
Und auch wenn Heinrich Heine, der der Uraufführung vom „Freischütz“ im Schauspielhaus am Gendarmenmarkt in Berlin beiwohnte, sich über den Ohrwurmcharakter von Gesängen von „Wir winden dir den Jungfernkranz“ grotesk erboste, so becirct die melodisch-melancholische Musik dieser Oper doch noch heute uneingeschränkt.
Die Sängerinnen und Sänger, darunter Julia Kleiter als Agathe, Maximilian Schmitt als Max und Andrzej Dobber als Fürst, werden ihr Bestes geben, ebenso die Musiker. Das symbolträchtige, schon fast radikale Bühnenbild von Harald B. Thor und die überwiegend zurückhaltenden, die 1920er- und die 1950er-Jahre zitierenden Kostüme von Andrea Schraad – beide Mitarbeiter sind langjährige Weggefährten des Regisseurs – runden die Inszenierung ab. Schon seit 2019 tüfteln sie mit Kriegenburg am Konzept, denn Corona verschob die Premiere bis in unsere Tage.
Und wie weiß es der Regisseur selbst so gut zu sagen? „Theater“, sagt Andreas Kriegenburg, „ist eine Schule der Empathie“. In diesem Sinne!
Gisela Sonnenburg
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