Ballett und Natur – das ist ein bedeutendes Thema. Es führt sowohl zu den Ursprüngen des klassischen Tanztrainings als auch zu bekannten Klassikern als auch zu einigen interessanten Gegenwartsstücken. Ganz nebenbei kommen meines Wissens nach auch Einflüsse aus der Oper auf den Tanz zum Tragen, etwa aus dem „Freischütz“, aus „Robert le diable“, aus dem „Fliegenden Holländer“ und aus einer weiteren Wagner-Oper, nämlich „Lohengrin“. Es macht derweil nachdenklich, wenn ein wichtiger Beitrag bei einer Podiumsdiskussion ungefragt aus dem Publikum kommt. Wie am Dienstagabend im Rangfoyer der Deutschen Oper Berlin beim „Forum“ mit der Titelfrage „Zwischen Tanz und Natur: Wie viel Natur steckt im Ballett?“ Das Staatsballett Berlin (SBB) hatte zu der rund eineinhalbstündigen Podiumsveranstaltung für wenig Eintrittsgeld (fünf Euro) eingeladen. Der Zulauf war dennoch verhalten, was jedoch nicht am äußerst inspirierenden Thema liegen konnte.
Fangen wir mit dem Ende an, weil es so überraschend kam: Ein Zuschauer stand nach Schluss der Veranstaltung einfach auf und erklärte laut und deutlich, warum ihm das in Auszügen als Video gezeigte Werk eines anwesenden Nachwuchschoreografen so gut gefallen habe. Denn er kennt das Stück ganz. Und dessen Hauptperson sei ein Nerd, der viel vor dem Bildschirm sitze und der Natur gänzlich entfremdet sei. Flamingos kenne er nur aus Filmen, und darum bringe er am Ende so ein Tier einfach um. Die vorgeführten Videopassagen waren indes von der Kunst entfremdet: Sie zeigten nur die Revuetänze zu Clubmusik aus dem Stück.
Und so wurde der aufklärende Akteur aus den Zuschauerreihen, offenbar ein eingefleischter Tanzfan, von den anwesenden Expertinnen nicht mal bedankt. Obwohl er doch eine ganz wichtige Hilfestellung gab. Das hätte man eleganter machen können.
Die moderierende Dramaturgin Katja Wiegand und die von ihr eingeladene Tanzprofessorin Lucia Ruprecht von der Freien Universität Berlin sprachen zuvor vor allem über die Ballettklassiker „Giselle“ und „Schwanensee“. Beide Stücke befinden sich seit Jahrzehnten in den Versionen von Patrice Bart, der einst in Paris noch mit Rudolf Nurejew gearbeitet hat, im Repertoire vom Staatsballett Berlin.
Lucia Ruprecht nun versprach, auch über die „Kulturgeschichte des Tanzes“ zu sprechen. Von den Wurzeln des Balletts, die sich von französischer und italienischer Folklore über Qi Gong bis zum höfischen Tanz erstrecken, nannte sie aber nur die aristokratische Kultur.
Auch dass „Giselle“ von 1841 im ersten Akt in einem durchaus naturhaften Weinanbaugebiet spielt und im zweiten Akt mit seinem „ballet blanc“ an die tanzenden Geisterfrauen aus der Oper „Robert le diable“ von Giacomo Meyerbeer anknüpft, interessierte die Damen nicht.
Nur dieser zweite „Giselle“-Akt an sich, der die Wilis, also in weißen Tüll gehüllte, höchst attraktive weibliche Gespenster, nachts im Wald auftanzen lässt, fand ausgiebig ihre Aufmerksamkeit.
Videos zeigten Myrtha, die Königin der Untoten in „Giselle“, nebst ihrem Gefolge, darunter zwei Novizinnen, sowie die Titelheldin nachts im Wald: mit den typisch romantischen, hier auch kühl-majestätischen, dennoch weich fließenden Tanzkünsten.
„Mechanisch“ ist der romantische Tanzstil des Ballett aber sicher nicht, auch wenn Ruprecht das so sagte. Und als sie behauptete, die Arabesque, bei der das Bein hinten gestreckt erhoben wird, sei eine Bewegung ohne Ende, war das schlicht zu kurz gegriffen. Eine Arabesque ist vollendet, wenn ihr höchster Punkt erreicht ist, und das ist bei ihrer niedrigen Version bereits bei 45 Grad Hebung der Fall. Ganz klassisch endet sie bei 90 Grad, auch wenn viele Tänzerinnen und Tänzer sie heute höher präsentieren, weil Choreografen und Ballettmeister das wünschen. Aber mit der Unendlichkeit hat auch das nicht viel zu tun. Ein vertikaler Spagat wäre hingegen schon eine andere Bewegung, nämlich ein Penché. Das klassische Ballett hat eben Regeln.
Und wenn Tänzerinnen und Tänzer heute Arabesken vollführen, die eher an das Wirken von Schlangenmenschen erinnern, weil der weit nach hinten gebogene Oberkörper auf ein Bein trifft, das deutlich über 90 Grad erhoben ist, so hat das mit der Ästhetik des klassischen Tanzes nicht mehr viel zu tun. Um so modernes Ballett kann es aber bei einer klassisch-romantischen „Giselle“ nicht gehen.
Natur als Seelenlandschaft auf der Bühne kann aber, da liegt Katja Wiegand goldrichtig, „mal spirituell, mal gespenstisch“ sein. Die Wilis verströmen sowohl den märchenhaften Zauber überirdischer Wesen als auch die gruselige Rachsucht, mit der sie ihre Tänze begründen. Denn Myrtha ist nicht ohne Grund eine sehr strenge Anführerin: Die jungen Geisterdamen in ihrer Obhut haben die Mission, Männer dazu zu verführen, sich in den Erschöpfungstod zu tanzen.
Dominik White Slavkovsky, der junge Choreograf mit dem Disco-Revuetanz im Flamingo-Stück und zudem Tänzer beim SBB, bezeichnete dann allerdings den zweiten Akt aus „Giselle“ als „dream world“, als „Traumwelt“. Das hätte eine der beiden Expertinnen korrigieren sollen. Denn Märchen und Traum sind zwei Paar Schuhe – und auch, wenn es zum Beispiel im Ballett „La Bayadère“ ein weißes Ballett gibt, das der männlichen Hauptperson im Traum erscheint, so ist das ballet blanc in „Giselle“ keineswegs ein Traum.
Denn die Geisterfrauen im Stück gehören ihrer Erscheinung nach ganz real zur Bühnenhandlung. Nix da Traum. Sollte der junge Tänzer und Choreograf nun gemeint haben, dass der matriarchale Geisterwald seine ganz persönliche Traumwelt sei – wiewohl Männer darin zu Tode getanzt werden – so hätte er das ruhig so sagen können. Objektiv aber sind die Wilis wirklich keine Traumfrauen in diesem Sinn.
Dass sie von Heinrich Heine inspiriert sind, der sich in einem Essay den „Elementargeistern“ widmete, wie Lucia Ruprecht anbrachte, stimmt genau. Leider wurde nicht gesagt, dass Heine nahe legt, wie aus der naturhaften Landschaft im slawischen Raum nahe einer Straße solche Geisterfrauen entstehen: aus dem Nebel. Daher sind ihre wallenden Tutus weiß, und daher rühren die in der Luft Schlieren beschreibenden Armbewegungen. Auch ihr Tanz im Sitzen, also bodennah, soll an stilisierte Nebelschwaden erinnern.
Bei Patrice Bart tragen sie zunächst auch Schleier, die den ganzen Kopf bedecken und ebenfalls auf eine Art Vernebelung, also auf eine Herkunft aus dem Nebel, hindeuten.
Vorläufer haben die Wilis – das sei hier noch angemerkt – in den Sylphiden, also den Luftgeistern, die die Romantik 1832 in Paris mit „La Sylphide“ auf die Bühne brachte. Der aus Italien stammenden Ballerina Marie Taglioni wird zugeschrieben, hier erstmals den Spitzenschuhtanz zelebriert und also in die Tanzkunst eingeführt zu haben. Sie und ihre Mittänzerinnen brillierten mit Insektenflügeln (zweifelsohne ein Requisit aus der Naturwelt) und mit den in der Romantik unvermeidlichen wadenlangen weißen Tutus.
In nicht wenigen „Giselle“-Inszenierungen haben auch die Wilis solche kleinen Insektenflügel, was sie als Verwandte und direkt Nachfahrinnen der Luftgeister kennzeichnet. Ebenso gibt es sie aber auch ohne Beflügelung. Dass sie schweben können, wird allemal suggeriert. Dennoch brachte vor „Giselle“ eben „La Sylphide“ das Phänomen der luftigen jungen weiblichen Wesen, die in lang herabfallenden weißen Tutus tanzen, auf den Punkt.
Direkter Vorläufer dieses ballet blanc wiederum war das Ballett der toten Nonnen in der Meyerbeer-Oper „Robert le diable“ („Robert der Teufel“) von 1831. Sie machen sich die wilde Natur eines Friedhofs zu Nutze, um zu erscheinen – und sie verwandeln sich, ihren Gräbern entstiegen, in erotisch attraktive Mädchen. Als Robert auf dem Grab der heiligen Rosalie einen Zweig bricht, werden sie aber wieder zu alten Weibern – und lösen sich in Luft auf.
Die Magie wurde eben schon immer als in der Natur angesiedelt dargestellt.
Und schon geht es in diesem Sinne ab zu „Schwanensee“! Hier sind die langen Tutus aufgestellt, verkürzt und zu Teller-Tutus versteift, was den Eindruck erweckt, die Tänzerin würde sich permanent auf dem Platz im Kreis drehen. Die ersten Teller-Tutus waren dennoch recht schwer und lang, reichten knapp übers Knie, bis sie – erst im letzten Jahrhundert – zu regelrechten Mini-Tutus wurden. Im „Schwanensee“ aber strahlen sie vor allem Würde und Unnahbarkeit aus.
Berlins langjährige Starballerina Polina Semionova flimmert auf dem Monitor vorüber. Die Doppelrolle der Odette, also der weißen Schwanenprinzessin, und der Odile, des bösen schwarzen Schwans als ihrer Gegenspielerin, ist dank des eher unseriösen Kinofilms „Black Swan“ von 2010 weit über die Grenzen des Balletts bekannt geworden. Polina tanzt aber ein Solo aus der klassischen Version von Patrice Bart, und er wiederum übernahm bei den Schwänen die überlieferte Choreografie.
Der traditionelle „Schwanensee“, den Marius Petipa und Lew Iwanow 1895 choreografierten – leider erst nach dem verhängnisvollen Tod des Komponisten Peter I. Tschaikowsky – ist bis heute allerdings ein bedeutender Topos im Tanz.
Die Pantomime der Odette darin berichtet bekanntlich und auch in der in Berlin getanzten Version von Patrice Bart dem Prinzen Siegfried bei ihrem ersten Treffen, wie sie an den See kam. Dass sie eine Prinzessin ist, die der Zauberer Rotbart gefangen nahm. Die Tränen ihrer Großmutter bilden den See, auf dem Rotbart sie und weitere Mädchen in Schwäne verwandelte.
Mehr Verquickung von Mensch und Natur als in diesem Mythos – den sich übrigens Modest Tschaikowsky, der Bruder von Peter, für die Kinder der Familie ausdachte – ist ja kaum möglich.
Doch weder der Dramaturgin Wiegand noch der Professorin Ruprecht fiel diese wirklich seit 1895 überlieferte Pantomime der Schwänin ein. Mein Ballett-Journal-Interview zum Thema mit Aaron S. Watkin, der heute Chef vom English National Ballet in London ist und damals das Semperoper Ballett in Dresden leitete, haben sie offenbar auch nicht gelesen.
Aber auch John Neumeier und zahllose andere Koryphäen des internationalen Balletts haben sich zu diesem wichtigen Detail der Klassik entsprechend eindeutig geäußert. Wirklich schade, wenn die Bildungslücken bei staatlichen Bildungsträgerinnen da zu groß sind.
Und so rätselten die beiden hochbezahlten Damen, was der See in „Schwanensee“ eigentlich soll. Lucia Ruprecht vermutete, er sei „verschlingend“, denn tatsächlich ertrinkt der Prinz in der Version von Patrice Bart im See (nachdem er den bösen Rotbart im Kampf erwürgt hat). Die Schwäne ertrinken allerdings nicht im See, für sie war er nach ihrer Verzauberung das natürliche Lebenselement.
Wiegand und Ruprecht kommen dann noch drauf, dass das Ende von Siegfried auch als Strafe für seine Verfehlung mit Odile begriffen werden kann. Dann fragt sich allerdings, wieso gerade Rotbart, der Vater von Odile, der die beiden verkuppeln wollte, hier als böse Macht tätig wird. Rächt er sich mit dem See posthum für seine Tötung? Diese Frage blieb ungestellt und von daher offen.
Dass die Landschaft am See einen Gegensatz zum Schloss im „Schwanensee“ bildet und die Schwäne eine Gegenwelt zur höfischen Realität, musste sich das Publikum denken. Katja Wiegand befindet ihn vielmehr als einen künstlichen See, denn in Patrice Barts Version gibt es Kulissen mit Ornamenten, die auf einen Park hinweisen. Das wiederum ist ein Hinweis auf die „Schwanensee“-Fassungen von Rudolf Nurejew, der im Hintergrund vor dem See eine niedrige Mauer mit einigen Stufen errichten ließ. Der See, so die hinweisende Bedeutung, hat mit den Menschen zu tun.
Dafür katalogisierte Lucia Ruprecht die tanzenden Schwäne als „Zwischenwesen“, die sowohl Tiere als auch Menschen seien. So ist im Libretto nicht ganz geklärt, wann und wieso die Schwäne Schwäne sind und wann man sie als Menschen erkennen kann. Vermutlich ist es das liebende Auge, das unter den Feder-Tutus menschliche Seelen erkennt.
Wie die Wilis greifen auch die Schwäne bei aller Stilisierung naturhafte Bewegungen auf. Katja Wiegand nennt das Strudelhafte, den Sog der Wellen eines Sees, wenn der Corps de ballet sich in verschiedenen Formationen auf der Bühne ausbreitet und wieder zurückzieht. Im spiraligen Kreis umwirbeln die Tutu-Mädchen auch mal das verliebte Paar Siegfried und Odette – ähnlich verwirrend umkreisen die Wilis in „Giselle“ den glücklosen Hilarion, den sie damit in den Tanztod treiben.
Eine direkte Verwandtschaft der Schwäne mit den tanzenden Geisterfrauen in „Giselle“ kann aber nicht festgestellt werden. So sind die Schwäne im „Schwanensee“ auch keineswegs Geister, sondern höchst lebendige „Zwischenwesen“. Zwar nicht ganz von dieser Welt, sondern eben Verzauberte, aber sie haben die Hoffnung auf Rückverwandlung nicht aufgegeben.
In jenen „Schwanensee“- Fassungen mit einem Happy End klappt diese auch, und nach dem Tod Rotbarts sind dann nicht nur Siegfried und Odette in Liebe vereint, sondern auch die Schwanenmädchen haben ihre Freiheit und somit ihre menschliche Daseinsform zurück.
Bei Odette wird das am Kostümwechsel etwa in der auch an der Mailänder Scala getanzten Version von „Schwanensee“ des sowjetischen Ballettmeisters Vladimir Burmeister deutlich. Sie tanzt am Ende mit ihrem Prinzen ein „Fleckerl“, bis sich der Vorhang schließt, und zwar im lang wallenden Gewand, nicht mehr im Teller-Tutu.
Der Kampf zwischen Gut und Böse beherrscht den „Schwanensee“ aber immer.
Ganz andere energetische Bewegungen sind indes für das klassische Tanztraining grundlegend. Hier finden sich tatsächlich Einflüsse der Beschäftigung und Beobachtung der Natur, also von Bäumen und Büschen im Wind, von Blumen und Ranken beim Wachstum, von Bewegung gegen imaginären Widerstand.
Also: „Wieviel Natur steckt im Ballett?“ Dazu wird zu geeigneter Zeit mal ein weiterer Essay im Ballett-Journal erscheinen.
Bis dahin kann man sich gern und schier endlos mit „Giselle“ und „Schwanensee“ beschäftigten – und wer ein gutes Gedächtnis hat, erinnert sich auch an das anrührende Stück „Erde“ von Nacho Duato, das 2017 beim SBB in der Komischen Oper Berlin im Rahmen des Abends „Duato / Shechter“ seine Uraufführung erlebte.
Darin verenden zarte, in hellen Gewändern tanzende Seevögel an der Ölpest – höchst fragil und elegant, wie es im Ballett üblich ist – und in blauen, gewellten Anzügen verkörpert der Corps das Wasser. Die Energie der Erde selbst ist in hautfarbenem Kleid mit grün geschmückten Gefährtinnen unterwegs.
Blauviolette Laserstrahlen werden dagegen gesetzt – als Boten einer Welt der kalten Technik, die sich vor allem mit Unverständnis über die Natur hinwegzusetzen sucht.
Das sind Momente, in denen die Rache, die aus der Natur im klassischen Ballett erwächst, nicht unplausibel ist. Und wenn der „Schwanensee“ über die Ufer tritt und den Prinzen mit sich reißt, oder wenn Myrtha ihre Damen zur Jagd auf (treulose) Männer anstachelt, so steckt darin doch so viel psychologische Kraft, dass man nicht umhin kommt, die innere Natur des Menschen auch als Triebkraft auf der Ballettbühne zu erkennen.
Gisela Sonnenburg