Was für ein Coup! Hollywood und Bollywood treffen aufeinander, und die prunkvolle Ballettklassik findet sich Hand in Hand mit der dramatischen Stummfilmästhetik wieder. Fantastisch? Fantastisch! Hier ist nichts falsch, langweilig, schief oder banal: „La Bayadère“ („Die Tempeltänzerin“) in der Neuinszenierung und Choreografie von Xin Peng Wang steht und erfüllt mit dem Ballett Dortmund alle – auch wirklich sehr hoch gesteckte – Erwartungen. Es wurde ein Megaballett, in jeder Hinsicht. Anna Tsygankova und Giorgi Potskhishvili aus Amsterdam entführen als Stargäste in den Hauptrollen in den siebenten Tanzhimmel, begleitet vom bestens aufgestellten Ballett Dortmund mit seinen Stars und dem fabelhaft synchron tanzenden Corps de ballet. Kongenial gelingt die Verschmelzung des altbekannten Klassikers mit einer neuen, zweiten Handlungsebene, und das sowohl szenisch als auch musikalisch: Die Tragödie der Liebe spult sich ab, ewig gültig und ewig spannend wie ein ehrwürdiger Mythos.
Dabei entstammt das ursprüngliche Stück von 1877 der Fantasie des Meisterchoreografen Marius Petipa, der sich wiederum vermutlich beim nicht erhaltenen Tanzdrama „Sacountala“ seines Bruders Lucien Petipa, der in Paris wirkte, bediente. Der indische Dichter Kalidasa soll hierzu die Vorlage geliefert haben.
Die Exotik eines märchenhaften Indiens und die nicht minder exotische Backstage-Kulisse eines Filmsets aus Hollywood zur Zeit der Golden Twenties bilden heuer in Wangs neuem und wohl letztem Dortmunder Gesamtkunstwerk die Plattformen, auf denen die Handlungen stattfinden. Filmischer Märchentraum und traumindustrielle Realität sind da miteinander verwoben: Was zunächst nur ein Filmplot ist, wird bald das auch in der Rahmenhandlung vorherrschende Geschehen. Liebe, Eifersucht, Mord und Tod für die Liebe – all das springt sozusagen aus dem alten Bild heraus und wird als erneuerte Geschichte nochmals fasslich.
Das Corps de ballet bezaubert dabei – wie es sich für „La Bayadère“ gehört – vor allem in den weißen Tutus mit Schleiern an den Armen, wenn es heißt: Das Königreich der Schatten wird tänzerisch dargestellt. Dabei gibt es hier gar keine Könige oder andere Majestäten. Sondern nur die weiß gekleideten, surreal entrückten, wunderschönen jungen Damen, die allerbest Ballett tanzen können.
Es sind die Seelen verstorbener Liebender, die dieses Königreich der Schatten bilden, und sie sind so nebulös und glamourös, dazu so anmutig, wie man sie sich vorstellt.
Die Serpentinen, die sie über die Bühne tanzen, legen nahe, dass sie alle an einem Schlangenbiss verschieden (wie die Petipa’sche Nikija). Vor allem aber berauscht dieses Ballet blanc mit der schier endlosen Wiederholung einer kurzen Schrittfolge, die in einer Arabeske endet. Allein schon durch die Aufstellung der in Haarnadelkurven von hinten nach vorn tanzenden Frauen gwinnt die Szene so viel an Magie, dass man abwechselnd Gänsehaut und Tränen der Rührung durchmacht.
Solor (in der Premierenbesetzung von Giorgi Potskhishvili famos poetisch getanzt, aber man ist auch auf die Interpretation von Javier Cacheiro Alemán neugierig) ist hier der einzige Mann, und er sucht und findet unter den weißen Seelen seine Nikija (mit Starnimbus und einer Zartheit ohnegleichen in den Bewegungen: Anna Tsygankova), die kurz zuvor auf einer Party von ihrer Nebenbuhlerin und deren Vater umgebracht wurde.
Soli und Variationen einzelner Schattenköniginnen bilden zusammen mit dem Grand pas de deux weitere unvergessliche Erlebnisse in diesem Akt.
Das Treffen im Jenseits unter ballettösem Großaufgebot findet, wie in Petipas „Bayadère“ auch, übrigens als Traum von Solor statt, der, von Drogen berauscht, solchermaßen als Geist zum Geist der Liebe vorstößt.
In der Realität Hollywoods aber erwartet ihn nach dem Erwachen eine andere Frau, nämlich die Tochter des Filmregisseurs. Daria Suzi tanzt diese erbittert um ihren Verlobten kämpfende Rivalin von Nikija namens Gamzatti. Und obwohl man sich Suzi auch hervorragend als Nikija hätte vorstellen können, verleiht sie der Partie der „Bösen“ hier eine Menschlichkeit und Sinnlichkeit, die ihre temperamentvolle Seite sehr faszinierend in den Vordergrund rückt.
Während der Hochzeit von Solor mit Gamzatti kommt es aber zur Katastrophe. Im Originalstück zürnen die Götter ob des Liebesverrats und lassen ein Erdbeben alles zuschütten und alle sterben. Bei Wang fackelt der Studiomanager, der die Darstellerin der Nikija und den Filmstar, der Solor spielt, als Paar zusammen brachte, das Filmstudio ab. Er wird Solor dadurch ins Jenseits zu Nikija befördern, ist er doch eine Art Amor, allerdings mit einer düster-tödlichen Energie. Filip Kvacák tanzt diesen Puck mit Hingabe und dämonischer Eleganz.
Wie Nikija im Original, so könnte hier Solor dem Tod gerade noch entkommen, wenn er nur wollte. Nikija lehnt bei Petipa ein Gegengift ab, um aus Liebeskummer zu sterben. Hier bei Wang aber ist es Solor, der den Tod aus Liebe sucht: Er geht bewusst in die Flammen, um im Jenseits erneut zu seiner Nikija zu finden…
Motonori Kobayashi dirigiert die Dortmunder Philharmoniker mit allem gediegenen Pomp, der in die traditionelle „Bayadère“-Musik von Léon (Ludwig) Minkus gehört. Aber auch der etwas harte Klaviersound von Karsten Scholz mit Stummfilmmusiken passt zur jeweiligen Atmosphäre der Szenen.
Die Ausstattung von Jérome Kaplan, zum großen Teil vom Staatsballett Berlin, von ihrer Erstverwendung her, bekannt, begeistert umso stärker, als in Dortmund das Gesamtkonzept einer aufgebrezelten Lovestory mit Bollywood-in-Hollywood-Hintergrund nachgerade überwältigt.
Eingespielte Videos raffen und vergegenwärtigen die Handlungen und ihre Abläufe.
Tänzerische Highlights, mit all den spezifischen Posen und Hebungen, bilden nicht nur die Soli, Pas de deux und der Corps-Tanz, sondern auch das erst im 20. Jahrhundert in die überlieferte Choreografie eingefügte furiose Solo des „Goldenen Idols“, bei der Premiere von António Ferreira mit Verve dargeboten, sowie die starken Charaktere von Guillem Rojo i Gallego als Regisseur und Cyril Pierre als Filmproduzent.
Den Radscha, also den indischen Herrscher, gibt es hier übrigens extra, obwohl er rein theoretisch mit dem Filmregisseur und Vater von Gamzatti hätte identisch sein können. Aber wir befinden uns eben nicht in einer Eins zu Eins übersetzten Geschichte, sondern in einem wirklich neuen Libretto.
Xin Peng Wang gebührt größter Dank für diese köstliche Neufassung der „Bayadère“ – man ahnte es ja schon, dass man ihm, dem scheidenden Dortmunder Ballettchef, viele Tränen wird nachweinen müssen, aber nach dieser genialen Leistung werden es noch etliche mehr sein. Bravooooh!
Gisela Sonnenburg / Anonymous
P.S. Mehr dazu auch im Bericht von der hinführenden Matinee: Mit der Tempeltänzerin in Hollywood…