
Gruppenzwang mit Stuhl und zunächst in Militärstiefeln: „Minus 16“ von Ohad Naharin ist fetzig, aber äußerst derb. Foto vom Staatsballett Berlin: Admill Kuyler
Um die Frage der Kritikerin Irene Bazinger, ob am Ende von „Minus 16“ von Ohad Naharin unbedarfte oder eingeweihte Zuschauer auf die Bühne geholt werden, zu beantworten: Vor genau zwölf Jahren, im Oktober 2012, premierte beim Semperoper Ballett in Dresden eben dieses Stück, und ich wurde vorab gefragt, ob ich auf die Bühne geholt werden möchte. Damit dürfte hinlänglich deutlich sein, wie wenig „spontan“ das Werk agiert und wieviel Vortäuschung da eine Rolle spielt. Immerhin aber ist „Minus 16“ – ohne, dass der nach Frost und Winterhärte, nach Mathematik und Subtraktion klingende Titel irgendwie zu rechtfertigen wäre – fetzig und mitreißend: Es lässt Tänzer auf Klappstühlen im Halbkreis, nicht im Kreis, sitzend tanzen, sie aber auch ohne Requisite wild springen und in der Luft regelrecht um sich schlagen. Fröhliche Wut-Tänze, teils von Vorstellung zu Vorstellung improvisiert, teils penibel auf Synchronizität hin einstudiert, beschäftigen eine Gruppe Tanzprofis so lange zu wechselnder Musik – die laut ist, was hier wichtig ist – bis am Schluss einige Tänzerinnen und Tänzer ins Parkett kommen und sich Leute herauspicken, die sie mit auf die Bühne nehmen. Dort hoppeln dann alle zusammen ausgelassen zu trivialer Musik herum, haben viel Spaß, und die Tatsache, dass dieses ausgelassene, aber völlig sinnlose Spektakel aufhört, wirkt allgemein erleichternd. So, als habe man eine pflichtgemäß absolvierte Familienfeier hinter sich. Was für ein Gefühl der Erlösung von den Lasten irrelevanter Unterhaltungskunst – mit diesem von 1999 stammenden Stück endet auch der nach ihm benannte Abend „Minus 16“ beim Staatsballett Berlin. Zuvor, im ersten Teil des Abends, muss man jedoch noch deutlich mehr Geduld beweisen. Denn Sharon Eyal hat mal wieder eine ihrer ollen Techno-Kamellen nach Berlin verkaufen können, was gut für die Touristen ist, weil Berlin bekanntlich als Hauptstadt des Techno gilt. „Saaba“ stammt von 2021 und benutzt zur Abwechslung von Eyals choreografischem Einheitsbrei in der Düsternis der Bühne auch mal rubinrotes statt nur bleichgelbes oder fahlblaues Licht. Sexy wirken die pseudonackten, wie minimalistisch ausgerichtete Roboter sich spreizenden Körper deshalb noch lange nicht.

Rubinrotes Licht – mal was Neues bei Sharon Eyal, die jetzt mit „Saaba“ eine Arbeit von 2021 nach Berlin verkauft hat. Foto vom Staatsballett Berlin: Admill Kuyler
Es ist ein Tanzen für Non-Utopia. Die Richtung des zeitgenössischen Tanzes, die vom Staatsballett Berlin bedient wird, hat mit Kunst im Sinne von Metapher, Symbol und Allegorie, im Sinne von Utopie-Entwürfen und Gesellschaftskritik, im Sinne von kritischem Bezug zur Realität oder auch nur im Sinne von märchenhaften Gegenwelten zur Gegenwart absolut nichts zu tun. Es ist ein Tanz als Selbstzweck; Tanz als beliebiges Bewegungsmittel, zu Musik, die nicht allzu anspruchsvoll präsentiert wird, die Zeit totzuschlagen.
Kunst als Konsumismus. Da sind wir beim Staatsballett Berlin nun angekommen. Nicht mal zwanzig Tänzerinnen und Tänzer trippeln mit modernistisch verbogenen Armen und Oberkörpern auf der Bühne herum, und so manche Pose wirkt nachgerade pornografisch in dem Bestreben, das Becken minutenlang vorzuschieben oder die Oberweite entsprechend aufdringlich mit lang gehaltener Stehpose bei fortlaufendem Getrippel zu präsentieren.
Extravagant und dekadent, entmenschlicht und maschinenhaft wirken die Figuren, die uns Sharon Eyal serviert. Dass sie, wie Ohad Naharin, aus Israel kommt und bei der trampeligen Tanztruppe Batsheva Dance Company in Tel Aviv gelernt hat, die Naharin derzeit leitet, verleiht ihr leider keinen Heiligenschein.
Ori Lichtik besorgte ihr, wie so oft bei Eyal-Stücken, das musikalische Desaster, das mit Penetranz und Wiederholung für superlaute „Sound-Effekte“ sorgt, die das Trommelfell in bester Techno-Manier zu beschädigen geeignet sind. Ohne Ohrstöpsel sollten Menschen mit gutem Gehör hier nicht reingehen.

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Assistiert hat Eyal, wie immer, möchte man sagen, Gai Behar. Dass die Kostüme, die nicht wirklich aufregend sind, mit Dior-Weihen einherkommen, macht sie auch nicht schöner. Hier zählte wohl nur der Markenname. Aber immerhin vier Leute wurden für die Einstudierung der eher simplen Pulk-mit-Solo-Choreografie bezahlt. Somit konnten vier Assistenten der Choreografin saftig bei den Steuerzahlern absahnen.
Assistenten, „Stager“ statt „Coach“ genannt, allerdings nur zwei, ließ auch Ohad Naharin ans Werk gehen, bevor er nur für ein paar Endproben selbst in Berlin einschwebte. Er veränderte im Vorfeld aber schon das Musikprogramm für „Minus 16“ – bei dem erwünschten Gezappel ist es wohl tatsächlich egal, welche Klänge abgespielt werden. Eine künstlerische Veränderung oder gar eine Verschiebung der Aussage ergibt sich so oder so nicht.
Das Stück ist ein brachialer Knaller, wie ich schon einmal schrieb, als das Stück in Dresden lief. Wenn ein Solist hierin versucht, dem militaristischen Gruppenzwang zu entkommen, oder wenn sich am Ende nach Marushas Version von „Somewhere over the Rainbow“ alle von formalen Vorgaben lösen, so erscheint das zwar wie ein Traum von Freiheit. Aber zugleich ist es nur die Freiheit von etwas, nicht für etwas.
Es ist die Freiheit auf dem Schlachtfeld der Kunst, nachdem alles zerstört ist, was für Form, Stil und Schönheit stehen könnte.

Munter fliegen Hemden durch die Gegend, am Boden liegen Jacken und Militärstiefel. Feierabend in der Kaserne? Foto vom Staatsballett Berlin aus „Minus 16“ von Ohad Naharin: Admill Kuyler
Die viel beschworene „Gaga-Methode“ von Ohad Naharin entpuppt sich bei näherem Hinsehen übrigens nicht als Methode, sondern lediglich als Marketing-Gag. Nomen est omen: Improvisation, die nicht musikgelenkt, sondern impulsgelenkt ist, wird von Naharin unter dem Stichwort „Gaga“ auch in Workshops und Schulungen verlangt. Impuls und Instinkt als Auslöser von Bewegung zu Bewegung – das ist zwar ein mögliches Vorgehen bei Bewegung, ist aber keinesfalls als Methode zu bezeichnen. Eine Methode verlangt ein Regelwerk und ein Ziel.
Fakt ist, dass auch hier, wie so oft in der Popkultur, ein derber Spaßfaktor im Vordergrund steht. Sensibilisierung durch Tanz? Fehlanzeige. Achtsamkeit durch Tanz? Nein, gibt es hier nicht. Es gibt nur das Aufputschen und Aufpeitschen der Stimmung. Eine ähnlich destruktive Euphorisierung gab es vor dem Ersten Weltkrieg in den Künsten. Nicht umsonst tragen die Tänzer zunächst Militärstiefel, derer sie sich dann entledigen, ebenso wie ihrer Oberhemden, die munter durch die Luft fliegen dürfen. Feierabend in der Kaserne der Werktätigen.
Man könnte sagen, dass Techno die Marschmusik ersetzt hat. Nur hat zum Beispiel Gustav Mahler, der in seinen Sinfonien und Liedern oft den Marsch nutzte, auch eine Menge dagegen zu setzen gehabt.
Nachdem die Grenzen zwischen Hochkultur und Pop bis zur Unkenntlichkeit verwischt wurden, sollte unsere Kultur wieder lernen, zwischen ihnen zu unterscheiden. Hochkultur hat nun mal Ansprüche wie Läuterung, Katharsis und Erhabenheit. Pop hingegen bedient die unteren Etagen des Trieblebens, will Lust machen und stimulieren. Mehr nicht.
Und da stellt sich die Frage, ob Trivialkultur – wie Techno-Tänze es nun mal sind – überhaupt regulär ins Opernhaus gehören. Hinzu kommt der mangelhafte Anspruch an die Interpreten. Nahezu jeder auch nur angehende Profitänzer kann so etwas vorzüglich tanzen. Ist er damit auf dem Niveau der Opernchöre und Opernsolisten? Es hat ja seinen Grund, warum man Florian Silbereisen und seine Volksmusik oder all die lukrativen Rock-, Pop- und Schlagersänger auch nicht ins Opernhaus holt. Das hat kulturelle, nicht nur wirtschaftliche Gründe.

Fahles Blau im Licht ist nicht neu bei Sharon Eyal, aber auch in „Saab“ zu sehen. Man beachte die abgeknickten Handgelenke. Foto vom Staatsballett Berlin: Admill Kuyler
Immerhin bleiben bei so kleiner Tanzbesetzung wie bei „Minus 16“ mit dem größten staatlichen Ballettensemble Deutschlands, das über rund 90 Tänzerinnen und Tänzer verfügt, regelmäßig mindestens fünfzig Ensemblemitglieder vom Staatsballett Berlin pro Abend übrig, die man als Claqeure in die Vorstellungen setzen könnte. Es ist bekannt, dass Tänzerinnen und Tänzer gern mit verbilligten Karten ihren Kolleginnen und Kollegen zuschauen und sie dann auch kräftig bejubeln. Für Applaus ist also sowieso gesorgt.
Gisela Sonnenburg (Quelle: u. a. Presseschau nach der Premiere)
P.S. Mit dem kürzlichen Verkauf der opulent gelungenen Ausstattung zu „La Bayadère“ von Jérome Kaplan hat sich das Staatsballett Berlin einen weiteren Bärendienst erwiesen. Statt selbst mal eine neue Inszenierung damit zu wagen, reichte man diese Möglichkeit an das Publikum vom Ballett Dortmund weiter, die kostbar wirkenden Kulissen und Kostüme in einer spektakulär modernisierten Version des klassischen Balletts zu sehen (https://ballett-journal.de/ballett-dortmund-la-bayadere-hollywood-xin-peng-wang/).