Sie tragen kleine Flügel am Rücken, trippeln unter vielfach geschichteten hellen Tüllröcken und haben Blumenkränze im Haar: Die tanzenden Sylphiden – also höchst feminine Luftgeister – sind eine typische Ballettfantasie. Das erste Stück in der Tanzgeschichte mit ihnen, „La Sylphide“, war denn auch auf Anhieb ein sensationeller Erfolg. Das war 1832 in Paris. Es war zugleich der erste Triumph des Spitzenschuhtanzes in der Haupt- und Titelrolle sowie der erste große Aufmarsch eines weißen Corps de ballet, eines ballet blanc (wiewohl es als Operneinlage in „Robert le diable“ ein Jahr zuvor schon Ähnliches gegeben hatte). Eine magisch-verzwickte Liebesgeschichte, der Kampf zwischen männlichen Rivalen und eine waschechte böse Hexe sind die weiteren würzigen Zutaten von „La Sylphide“. Bis heute hält die Faszination an, die von den zierlichen Geisterfrauen und ihrem Schicksal ausgeht, wie die jüngste Premiere und eine weitere Debütvorstellung beim Bayerischen Staatsballett bewiesen.
In einen wahren Rausch, der mit Vorstellungsende noch längst nicht beendet ist, verfallen die heutigen Zuschauer allerdings eher selten. Und würde man heute eine Zeitschrift mit dem Titel „La Sylphide“ gründen, wie es im 19. Jahrhundert auf die Balletturaufführung hin geschah, das Projekt wäre wahrscheinlich kein Erfolg. Das Ballett-Journal jedenfalls erwägt keine Umbenennung. Aber mehrere Aufführungen dieser historischen Erquickung in München zu besuchen, ist empfehlenswert. Einerseits, um sich an den Details, die beim ersten Ansehen übersehen werden, zu erfreuen und sich in den französisch geprägten Stil dieser Romantik einzusehen, andererseits aber auch, um die verschiedenen Besetzungen der Hauptpartien zu würdigen. Vier sind es im Ganzen diese Saison.
Ksenia Shevtsova, die 2023 aus Moskau nach München kam, gibt in der Premierenbesetzung eine graziöse, kesse, verspielte, auch frivole, dabei aber immer durch und durch kontrollierte Sylphe ab. Ihr Partner Jakob Feyferlik fand von Wien über Amsterdam nach München, und er hat jenes unbändige burschikose Flair, das ihn für die Rolle des James geradezu prädestiniert. Zusammen ergeben sie ein appetitliches, glaubhaft von surrealer Energie gebrochenes Liebespaar.
In der zweiten Besetzung, die gestern debütierte, bezaubern die nicht nur dem Namen nach junge US-Amerikanerin Madison Young und der versierte chinesische Erste Solist Jinhao Zhang. Sie sind ein Traumpaar, wenn man so will: Young ist absolut erhaben, entrückt, wie schwerelos im Vortrag, ein zartes tanzendes Gespinst mit leuchtendem Gesichtchen und entzückenden Bewegungen. Jinhao Zhang hingegen verkörpert vollendet den unversehens Verführten, der sich vom Anblick des Luftgeists in seiner Bauernstube aus seinem Leben reißen lässt. Musikalisch und aufeinander eingehend, bilden sie ein überaus sehenswertes Bühnenpaar.
Auch die kommenden Besetzungen machen neugierig: Laurretta Summerscales, die rundum begabte „Allzweckwaffe“ als Primaballerina in München, mit dem virtuosen Julian MacKay und die stilsichere, elegante Margarita Fernandes mit dem Meisterspringer António Casalinho versprechen weitere begeisternde Interpretationen.
Wir befinden uns der Handlung nach in Schottland auf dem Land: unter Bauern, von denen die eine Hälfte rote Karos, die andere blaue Karos trägt. Die etwas simple Farbaufteilung entstammt der Uraufführung und kennzeichnet eine Hochzeitsgesellschaft: Die Leute der Braut Effie tragen Blau, die Großfamilie des Bräutigams James Rot. Hier könnte man die Ausstattung mal der abwechslungsreichen Detailfreude des Bühnenbildes anpassen, auch wenn die Aufteilung der Tanzenden im ersten Akt in Blau und Rot der Uraufführung entspricht. Für unsere verwöhnten Theateraugen heute ist das eine schlicht zu einfältige Bebilderung.
Das Licht von Christian Kass wiegt derweil viel auf. Dramatische Schlaglichter für die Solisten und eine warme Helligkeit für die Gruppentänze sowie zauberhaftes Mondlicht erfreuen und tauchen die ganze Bühne in die jeweils gewünschte Atmosphäre.
Zur ersten Szene: Der hübsche James, der im Feiertagsornat mit Schottenrock eine besonders delikate Figur darstellt, will sein Leben mit Effie, die sehr in ihn verliebt ist, vorbereiten. Aber die plötzlich auftauchende Sylphide stört sein Befinden: Sie flattert in sein Bauernhaus, betrachtet ihn liebevoll, als er im Sessel schläft, wohl um sich von den Strapazen der Brautwerbung auszuruhen; und als er erwacht, liegt sie ihm schmeichelnd zu Füßen; sie flirtet mit ihm, tanzt mit ihm, lässt sich von ihm durch den Raum verfolgen – aber sie entwischt ihm durch den Kamin. Und er kann sie fortan nicht mehr vergessen.
Die Handlung erstreckt sich keineswegs auf Tage und Wochen: Alles findet an einem einzigen Sommertag statt, der sich vom Morgen bis zum späten Abend erstreckt.
Der ebenfalls in Effie verliebte Rivale Gurn hat indes von James‘ zunächst platonischer Liebe zum Luftgeist Wind bekommen. Er verpetzt James bei Effie und könnte dessen geistige Untreue fast noch beweisen, als er sieht, wie die Sylphide sich in James‘ Sessel kauert, um sich zu verstecken. Doch die Sylphe ist schneller und löst sich unter einem Schottenplaid auf dem Sessel in Luft auf.
Statt nun Ruhe zu geben und sich seiner Braut zuzuwenden, sucht James seine neue Liebe La Sylphide. Sie ist bei aller Niedlichkeit eine Femme fatale, was ihre Wirkung auf manche Männer angeht.
Auf einer idyllischen Waldlichtung entdeckt er sie und tanzt mit ihr und ihren Schwestern, die allesamt liebreizende Wesen ihres Zuschnitts sind: mit Flügeln und fliegendem Tüllrock, mit Blumen im Haar und Spitzenschuhen zum Trippeln. Insektenähnlich werden sie von Theatertricks durch die Luft bewegt… James wähnt sich im Paradies. Nebel verleiht der Atmosphäre zusätzlich zauberhaften und mystischen Charakter. Doch auch in der freien Natur kann James seine Wunschgeliebte nicht halten – sie entfleucht ihm immer wieder.
Die Art und Weise, wie Erotik hier als Gegenwelt zur normalen Alltagswelt dargestellt ist, verdient besondere Aufmerksamkeit. Einerseits ist diese beflügelnde Leichtigkeit der ersten Verliebtheit stark präsent. Andererseits drängt der dunkle Sexus mit Unbedingtheit zu seinem irdischen Recht.
In diesem Fall allerdings ohne viel Aussicht auf Erfolg. Küsse mit der Sylphide sind in den verschiedenen Ballettversionen dieses Stoffs überliefert. Aber zu viel mehr wird es mit einem Luftgeist wohl nie kommen, wenn man selbst ein etwas einfältiger Bauer und keineswegs ein mit Raffinesse geflügeltes Wesen ist.
Sylphiden verkörpern apollinische Kräfte – sie erkennen das Dionysische und spielen damit, aber sie selbst sind unerreichbar in ihrer Sphäre aus Luftigkeit.
Sylphiden sind nun aber keine vergeistigten Menschenseelen und auch keine unsterblichen Gottheiten. Sie sind Zwischenwesen, wenn man so will, die allein dem Äther, der Unendlichkeit der Luft, zuzurechnen sind.
Zudem haben sie mit ihren Flügeln animalische Attribute, und ihre Ähnlichkeit mit Tieren erstreckt sich auf ihren Charakter: Ohne Argwohn richten sie Unheil an. Ohne nachzudenken, also in aller Unschuld und insofern wie ein Tier, stiften sie Unruhe, ganz wie gelangweilte Kätzchen oder Raben und andere Vögel, und ohne jede böse Absicht stürzen sie Menschen, die ihnen nicht gewachsen sind, ins Unglück. Sie sind halt mythische Wesen.
Ihre starke sexuelle Attraktivität speist sich aus dieser jenseitigen, mystischen Naturwelt, aus der sie ab und an zu den Menschen herüber kommen. Wären sie normale Frauen mit Flügeln, so wären sie in erotischer Hinsicht vermutlich rasch langweilig, zumal sie ohne die Erfahrungen, die Menschen machen, deutlich weniger lernfähig sind als flügellose Damen.
Als ätherische Wesen mit stark ausgeprägtem Spieltrieb, die keinerlei Zwang der Schwerkraft noch den gesellschaftlichen Konventionen unterliegen, strahlen sie jedoch eine große Faszination aus.
Bei James, dem unbedarften Jungbauer, verfängt diese sofort.
Die schöne Parole „Gegensätze ziehen sich an“ ist hier gewissermaßen versinnbildlicht. Und doch muss man sich James keineswegs als rohen oder gar stumpfsinnigen Gesellen vorstellen. Vielmehr weckt die Sylphide in ihm jene Seite der Männlichkeit, die zuvor noch kaum ausgeprägt war. Ihre Freude darüber ist kaum zu übersehen.
Und auch sie ist in ihn viel stärker verliebt, als ihr zuträglich ist. Schließlich wird sie sogar ihr Leben für den heißen Flirt mit dem Jungmann geben müssen…
All das lässt sich mit dem klassisch-romantischen Bewegungsrepertoire des Balletts vorzüglich darstellen. James hat schnelle, kleine Sprünge, aber auch hohe und durchaus knifflige Sprungdrehkombinationen, die ihn fast in den Stand eines fliegenden Lebewesens erheben. Pierre Lacotte hat zudem absichtlich hohe technische Schwierigkeitsgrade für die Tänzer eingebaut, mit denen sie sich profilieren sollen und die ganz sicher so nicht in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stattfanden, die aber das Flair des überraschend schnellen Handlungsablaufes vermitteln.
Die Sylphiden begeistern dann mit vornehm-zarter Weiblichkeit, mit flüssigen Armbewegungen, neckischen Kopfhaltungen und animierenden Posen. Gleitende Sprünge, aber auch viele Arabesken und Attitüden beherrschen die Beinarbeit. Vieles ist von historischen Bebilderungen abgeguckt und in Bewegung übersetzt. Manches ist da vielleicht übertrieben worden, aber auf jeden Fall poetisch und stilbildend.
Bei Madison Young stimmen jeder Blick und jede Neigung des Kopfes, jedes Spreizen der Finger und jeder Schritt, der sie vom Boden in die Luft erhebt. Sie ist ein Geschöpf aus unerklärlicher Anmut – und genau das soll eine Sylphe im Ballett sein.
Übermäßiges Lächeln ist da gar nicht nötig: Das Gesicht der Sylphide erstrahlt in Anmut und Spielfreude, nicht in ausgestellter Gefälligkeit.
Das Gegenbild der Sylphe ist das Mädchen Effie, das ganz bodenständig ist und zwar ebenfalls sinnlich, aber keineswegs transzendierend oder spirituell agiert. Ihre Tänze sind sanft an Folklore angelehnt, bedeuten aber vor allem Temperament und Gegenwärtigkeit.
Elvina Ibraimova füllt diese Rolle (in der Zweitbesetzung) mit so viel Charme und lächelnder Hingabe, dass man sie als Optimalbesetzung titulieren kann. Ohne Befürchtungen freut sie sich auf ihren Bräutigam – und will zunächst gar nicht verstehen, was passiert und warum er sich von ihr abwendet.
In der in München zu sehenden Fassung von Pierre Lacotte gibt es zudem einen zauberhaften Pas de trois, in dem James zwischen beiden Frauen hin- und hergerissen ist. Nur er sieht beide Mädchen, die Sylphe ist hier für alle anderen Anwesenden auf der Bühne unsichtbar. Was deren Verwirrung über James‘ Verhalten perfekt macht. Vor allem aber versteht man die zwei Seelen in einer Mannesbrust, die zu unterschiedlichen Damen nebst Welten streben.
James hat nun mal auch viel Herz, und nur darum lässt er sich von der Sylphide so vereinnahmen. Ein kalter Fisch, also ein verwöhnter Prinz aus einem Märchenballett, wäre hier fehl am Platze. James lässt sich die Sinne rauben von der Liebe – und das ist eine ganz andere Geschichte als die eines Eroberers.
Dass er die luftgeistige, dennoch auch frivole Elfe bei allem eifrigen tänzerischen Miteinander nicht zu packen bekommt, verbittert James allerdings und stachelt seinen Trieb noch mehr an. Immer wieder muss er ihr nachlaufen – umsonst. Sie ist, mit ihren Flügeln sowieso, schneller als er und findet ihr Vergnügen daran, mit ihm zu spielen.
James indes versäumt es, darüber nachzudenken, welcher Art das geliebte Geisterwesen ist. Er fragt weder sie noch sich, ob sich eine simpel triebhaft geprägte menschliche Liebe sich überhaupt mit der zarten Materie einer Sylphide verträgt. Er will sie einfach nur noch besitzen.
Die böse Hexe Madge weiß da Rat und verspricht ihm einen glitzernden Schal als Liebesgeschenk, der die Sylphide begeistern und ihrer Flügel berauben soll. Dann gehöre sie ganz ihrem James, so die Verheißung.
Gemeinsam mit anderen Hexen rührt sie in einem dampfenden Sud, um das Zaubergespinst zu fabrizieren. Tatsächlich wirkt der Schal, den Madge aus der nebligen Brühe zieht, äußerst anheimelnd auf die Sylphide.
Doch die Femme fatale aus der Luft stirbt, als James ihr mit dem Umlegen und Festzurren des neuen Schals die Flügel abbricht. Sofort vernichtet er damit auch das Leben in seinem schönen Mädchen, und wenn erst der eine Flügel fällt, dann die Sylphide in sich zusammenknickt, dann der zweite Flügel fällt und ihre Kräfte zusehens schwinden, sie schließlich einen Flügel hochhebt und mit der Wange liebkost, sie James dann noch mit letzter Kraft seinen Ring geküsst zurückgibt, um zu sterben – dann ist das schon ein sehr anrührender Bühnentod.
Für James ist es ein böses Erwachen: Statt der Zähmung seiner wilden Geliebten und Umwandlung der Sylphide in eine für ihn praktikable Menschenfrau sieht das Schicksal ihren Tod vor. Was für ein Alp.
Aber James hätte gewarnt sein müssen. Madge hat im ersten Akt einen Auftritt, in dem sie unverblümt die Zukunft prophezeit. Demnach wird nicht James der Ehemann von Effie, was er damals noch sein wollte, und Madge deutete eine herabsetzende Prognose für ihn an. Damals macht ihn das wütend und es hätte ihm später ein Alarmsignal sein müssen. Zumal James die unfreundliche Magde unsanft rauswirft. Da musste er mit der Rache der alten Frau rechnen. Aber später glaubte er wohl, völlig verblendet von den eigenen Liebesgefühlen, er könne sich einen Luftgeist als Weibchen zu eigen machen – was für ein Wahn, was für eine Hybris.
Die Luftbestattung der liegenden „heiligen“ Toten durch die anderen Sylphiden, die sie empor heben wie bei einer Prozession und zu einem Emblem in der Luft halten, ist dann ein weiterer ergreifender Höhepunkt der Handlung.
Im Hintergrund führt derweil Gurn – in der Zweitbesetzung von Florian Ulrich Sollfrank mit viel Hingabe gespielt und getanzt, wobei ihm die Choreografie schlicht zu wenig Spielraum lässt – die von James sitzen gelassene Effie zum Traualtar.
Die Normalität hat über den Zauber gesiegt – die schwarze Magie tötete die weiße.
Die hämisch-zerstörerische Madge erscheint jetzt noch einmal, pantomimisch böse, derb und dreckig lachend, weshalb sie meistens mit einem Mann besetzt wird (was bei der Uraufführung noch nicht der Fall war). Allerdings hört man ihr triumphierendes Lachgeheul hier nicht; es ist vielmehr eine Grimasse, die sie mit ihrem ganzen Körper zieht.
Alexey Dobikov verkörpert in der Zweitbesetzung eine vorzügliche Madge – aber auch die anderen Besetzungen sind wohl wirklich sehenswert, schließlich ist die Madge für Charakterdarsteller en travestie eine Superrolle.
James bricht am Ende bühnenwirksam und gleichsam unter der Last der etwas schwülstigen Musik zusammen: Er hat alles verloren, was er liebte.
Myron Romanul dirigiert den Abend mit dem Drive eines erfahrenen Ballettdirigenten. Gegen die etwas oberflächlichen Melodien kann er nichts machen, er versucht, soviel Theatralik wie möglich rüberzubringen.
Die Musik von Jean-Madeleine Schneitzhoeffer schwelgt nun mal in romantisch-verschwommenen, aber sehr einfachen Mustern, und sie lässt kaum Raum für ein Abschweifen der Gedanken. Schneitzhoeffer war kein Genie. Die zwar nicht aufregende, aber immerhin mitreißende Partitur findet sich ergänzt von Klängen von Ludwig Wilhelm Maurer, welcher in Potsdam geboren wurde, in Sankt Petersburg starb und ebenfalls eher sowas wie ein Gebrauchsmusiker war. Der deutsch-russische Maurer war übrigens vor allem Dirigent, im Nebenberuf aber eben auch Komponist. Es ist alles ganz hübsch, was er hervorbrachte, aber für einen großen Ballettabend reicht es einfach nicht.
Schneitzhoeffer – den seine Zeitgenossen liebten und bewunderten – wurde in Toulouse geboren und starb in Paris als hoch renommierter Bühnenkomponist. Er hinterließ vier komplette Ballette, wirkte in seiner Karriere aber auch als Paukist im Opernorchester und später als Leiter des Opernchores. Theatralische Effekte waren für ihn also so etwas wie das täglich Brot. Dabei ist er dem Zeitgeschmack aber etwas sehr zu Diensten gewesen.
Die Überlegung, „La Sylphide“ mal mit aus heutiger Sicht wirksameren Musiken und einer passend modernisierten Choreografie auf die Ballettbühne zu bringen, liegt da im Grunde auf der Hand.
Man denkt zwar zunächst an die dänische Version von Auguste Bournonville mit Musik von Herman Severin Lövenskjold, die musikalisch etwas weniger kindlich und penetrant, aber eben auch kein Non plus ultra ist; man denkt zudem an das erste abstrakte Ballett der Tanzgeschichte namens „Les Sylphides“ von Mikhail Fokine von 1909, das einen Vorläufer in Fokines „Chopiniana“ von 1906 hatte. Hierin tanzt ein Schwarm von Sylphiden mit Flügeln, weißem Tüll und Spitzenschuhen mit nur einem Galan mit romantisch weißem Hemd im Wald: zu Klaviermusik von Frédéric Chopin. Die hochkarätigen Kompositionen von Chopin sind für unser heutiges Gefühl weit romantischer und viel eher tauglich für Illusionen von Geisterwelten als die noch den strengen Beethoven-und-Humtata-Schemata verpflichteten Stücke der Original-Sylphiden.
Der Stil von Felix Mendelssohn Bartholdy würde eher auch passen, wiewohl er zuckrig und süß ist – möglicherweise raubt das den Sylphiden ihre wilde Naturhaftigkeit. Aber einen Versuch sollte es wert sein. Ebenso könnte Carl Maria von Weber, der mit seiner „Aufforderung zum Tanz“ als Musik für „Le Spectre de la Rose“ ohnehin im Ballett präsent ist, außerordentlich gut passen, um tanzende Luftgeister akustisch zu begleiten. Allein schon die Ouvertüre zum „Freischütz“ enthält so viel helle und dunkle Romantik, dass die Poesie der Sylphiden-Geschichte gut dem entsprechen würde.
Auch Franz Liszt oder Saint-Saens kämen als Sylphidenmusik vielleicht in Frage oder sogar Hector Berlioz – und sogar ein Zurückgehen in den stark strukturierten Barock, hin zu Bach, Händel oder Lully sollte möglich sein. Zartheit und Transzendenz findet man da nämlich auch. Und immerhin hat die Damenmode jener Zeit, als „La Sylphide“ kreiert wurde, mit der Wespentaille zum Barock bzw. zur Barockfigur zurückgefunden, nach Jahrzehnten der hochgezogenen Taille im klassizistischen Flatterkleidstil.
Die Musik im zweiten Akt sollte also auf jeden Fall das Schweben der Luftgeister betonen, auf welche Weise auch immer.
Für den ersten Akt empfiehlt sich hingegen ein Rückgriff auf schottische Folklore. Dudelsackmusik ist ohnehin assoziiert, wenn der Bräutigam im Schottenrock durchs Stück tänzelt. Und die etwas derbe Bäuerlichkeit, mit der hier Frohsinn und Schalk, aber auch Rivalentum und Hektik verbreitet werden (Effie will und muss an diesem Wochenende heiraten, denn nach dem Feiern steht die Ernte an, man hat auf dem Land nicht übermäßig viel Zeit), sollte in der treibenden, abwechslungsreichen Musik Entsprechung finden. Die Sylphide und die Hexe Madge bringen hingegen Gegenwelten mit. Dafür könnte man sich schon noch ganz andere Klänge vorstellen.
Eine Neukomposition für „La Sylphide“ wäre also keine schlechte Idee.
Doch das sind Luftschlösser, also ungebackene Brötchen. Die aktuelle Kulturszene in Deutschland ist oftmals erstarrt im Sparzwang einerseits und in Verschwendungssucht, was Stargagen und technische Ausstattungen angeht, andererseits. Den Mut, eine „Sylphide“ neu zu machen – ganz neu oder historisch neu oder als Mischform – hat da wohl niemand bzw. will niemand bezahlen.
Zurück also zur Uraufführung. Der Librettist der Pariser „Sylphide“ namens Adolphe Nourrit war wie der Komponist Schneitzhoeffer ein erfahrenes Kind der Bühne: Er war im Hauptberuf Opernsänger, nämlich Tenor, liebte aber die Tanzkunst sehr. Die literarische Vorlage, die ihn inspirierte („Trilby“ von Charles Nodier), hat indes einen geisterhaften männlichen Helden und eine irdische Frau als unmäßig Liebende zu bieten. Nourrit erkannte das Potenzial einer solchen Geschichte: für die deutlich einfacher zu vermarktende vorgeblich flatterhafte erotische Weiblichkeit als Sensation.
Alles an der Uraufführung war nun aber maßgeschneidert für die Ballerina, die mit dieser Partie berühmt werden sollte. Als „La Sylphide“ gewann die damals mit Ende 20 schon nicht mehr ganz junge Marie Taglioni in der Choreografie ihres Vaters Filippo Taglioni von Paris aus Weltruhm. Unzählige Stiche und etliche zeitgenössische Bilder geben die elegant-graziös schwebende Anmutung von La Taglioni mit ihren kleinen Flügeln, der Wespentaille über dem langen Tüllrock, den großen Blumen auf dem Kopf und am Busen sowie den extrem spitz zulaufenden Spitzenschuhen an den Füßen wieder. Sie war ja die Erste, die in solchen Schuhen Furore machte!
Ihre Schuhsohlen bestanden dabei aus mehreren Schichten Pappe und Leder, die eigenhändig von ihr und ihrem Vater zusammengeleimt waren. Erstmals bestieg eine Frau ein ganzes Ballett lang immer wieder die eigenen Zehenspitzen. Mit der Technik, die uns heute als Spitzentanz bekannt ist, hatten die Anfänge noch nicht so viel zu tun. Es ging vor allem darum, immer mal wieder einige Sekunden lang auf den Zehenspitzen zu stehen.
Die anderen Sylphiden hatten diesen schmerzhaften Bonus damals noch nicht. Der Erfolg und der Effekt waren damit ganz auf Seiten der Heldin Marie Taglioni.
Vielleicht sollte man bei einer neuen historischen Rekonstruktion oder auch bei einer Neuschöpfung des Werks – wie damals bei der Uraufführung – auch nur die Liebe mit Spitzenschuhen tanzen lassen.
Die zweigeteilte Welt, die zum Einen die Bäuerlichkeit, zum Anderen die Natur zeigen, setzt sich später in „Giselle“ (1841) fort. In „La Sylphide“ sind die beiden Sphären aber noch stärker voneinander getrennt und im Libretto nur durch die in die Irre führende Liebe von James und der Sylphide verbunden.
Das Stück war ab 1832 in ganz Europa und Russland so erfolgreich, dass der dänische Ballettmogul Auguste Bournonville, der es auf seinen Reisen durch Europa sah, 1836 eine Art Plagiat herstellte. Dank der steten Überlieferung beim Königlichen Dänischen Ballett in Kopenhagen existiert diese Version des Balletts ohne allzu große Verluste noch heute.
Johan Kobborg schuf zudem 2005 für das Londoner Royal Ballet eine Fassung à la Bournonville, die ihren poetischen Weg vom Bolschoi in Moskau über Atlanta in den USA bis nach Prag sozusagen in alle Welt schaffte. Zehn Compagnien haben bisher diese Version einstudiert, mit viel Erfolg.
Denn Kobborg hat ein Händchen auch für die großartigen erotischen Spannungen und die exaltierten Posen der Leidenschaft, die in der französischen Lacotte-Version, aber auch in der dänischen von Frank Andersen, die international als Rekonstruktion gehandelt wird, fehlen.
Eine ebenfalls betont emotionale und von daher berührende Version nach Bournonville schuf schon 1979 Peter Schaufuss. Das Stuttgarter Ballett und das Staatsballett Berlin haben sie im Repertoire, und es ist nie ein Fehler, sie zu reanimieren. Warten wir darauf, ob es in Berlin oder Stuttgart dieses kleine Wunder eines Tages wieder geben wird. Schaufuss selbst tanzte das Werk übrigens mit Carla Fracci, und an Ausdruck war dieses Team kaum zu überbieten.
In Paris war das getanzte Kunstmärchen allerdings einige Jahrzehnte nach der Uraufführung schon wieder vom Spielplan verschwunden – und wurde regelrecht vergessen. Erst 1971/1972 erweckte es Pierre Lacotte – der später als Großmeister der historischen Rekonstruktion in die Ballettgeschichte einging – mit angemessen großem Aufwand zum zweiten Leben und führte es zu einer neuen Blüte.
Man mag es ja kaum glauben, aber schon im Alter von zehn Jahren – als er in der Bibliothek von Marie Taglioni las – träumte Lacotte davon, das Stück zu sehen, im Grunde strebte er schon damals eine Rekonstruktion an. Auf der Suche nach Unterlagen durchforstete er später, als er als Etoile wegen einer Verletzung weniger tanzen konnte, das Haus und die Archive der Pariser Opéra. Und wurde in einer Rumpelkammer fündig: Ganz oben auf einem Schrank befanden sich Utensilien, die noch den Taglionis selbst gehört hatten. Darunter war eine Rechnung für die Zutaten ihrer „Spitzenschuhe“, die damals noch gar nicht so genannt wurden.
Lacotte, der 2023 von uns ging (https://ballett-journal.de/paris-pierre-lacotte-verstarb/), war nachgerade besessen davon, möglichst detailgetreu zu rekonstruieren und „La Sylphide“ mit denselben Ingredienzen, die das Stück im 19. Jahrhundert auszeichneten, zu einem Erfolg zu machen.
Bevor die Sache 1972 auf die Bühne in Paris kam, wurde sie allerdings verfilmt, mit Ghislaine Thesmar, der Gattin von Lacotte, in der Titelrolle. Später ging die Inszenierung um die Welt. Unter anderem hat das Hamburg Ballett sie im Repertoire, aber auch das Boston Ballet in den USA, das Wiener Staatsballett und auch das Ballett in Novosibirsk in Russland haben es im Repertoire.
Und nur auf eine Sache musste Pierre Lacotte, der im ersten Beruf selbst ein Starballerino in Paris war, verzichten: Als er das Stück 2004 für eine Neueinstudierung in Paris fit machte, wollte er den Tänzerinnen der Sylphiden Korsetts und Oberteile aufzwingen, die den Originalen aus dem 19. Jahrhundert nachempfunden waren.
Für die Proben war das teilweise auch nützlich, etwa, wenn die Ballerinen die Arme gegen den starken Widerstand von sehr fest gezurrten Oberarmärmeln heben mussten. Aber die Balance konnten die jungen Damen nicht sicher halten, wenn sie derart maximal stark eingeschnürt waren, und das nicht nur an den Armen, sondern durch Corsagen auch am ganzen Leib. Das Corps und die Solistinnen, darunter die spätere Ballettdirektorin Aurélie Dupont, protestierten noch vor der Generalprobe und lehnten die makellose historische Kostümierung aus Sicherheitsgründen ab. Die im 19. Jahrhundert bei Frauen begehrte Wespentaille gab es darum später nie wieder im Ballett.
Auch in München verzichtet man darauf, päpstlicher als der Papst zu sein. Man will Ballett sehen, das schön ist, aber keine Folter für die Darbietenden.
Laurent Hilaire, Münchens Ballettdirektor, tanzte selbst den James in Paris und fühlte sich logischerweise prädestiniert, das Stück selbst einzustudieren. Fachliche Unterstützung holte er sich bei Anne Salmon, die unter anderem „La Fille du Pharaon“ von Pierre Lacotte am Bolschoi mit einstudiert hat.
Vieles ist dem Coach-Team gelungen, sowohl bei den Solisten, als auch bei dem makellos synchron auftanzenden Corps de ballet.
Und allein schon für die Stückwahl gebührt Hilaire großer Dank. „La Sylphide“ ist ein maßgeblicher, grundlegender Baustein der Ballettgeschichte, und wer die später produzierten Ballette begreifen will, sollte sich mit der historischen Herkunft dieser Kunst aus der Bühnenromantik auseinander setzen.
Nur die Darstellung der großen Passion – also der Funken sprühenden Lust am Tanzen sowie die damit verbundene surreale Liebe als abgedrehtes Lebensgefühl – berührt in München manchmal nicht so ganz, obwohl gerade die Lebendigkeit dieser Company eigentlich ihre Spezialität ist. Vielleicht kommt das noch mit den Folgeaufführungen.
Natürlich ist Lacottes Version auch ein bisschen steif oder der Form und Oberfläche stark verpflichtet. Aber beim heutigen Einstudieren sollte versucht werden, den Dekorationseffekt nicht zu sehr zu strapazieren. Pierre Lacotte hat das durch seine Detailbesessenheit geschafft, benötigte dafür aber auch viele Proben. Im heutigen Theaterbetrieb muss es hingegen oftmals schnell gehen (was ein generelles Problem geworden ist).
So hat man beim Bayerischen Staatsballett den Eindruck, es liege an den Solisten selbst, ob und in welchem Ausmaß sie das Maximum nun bringen oder nicht. Was für ein Glück fürs Publikum, dass die Tänzerinnen und Tänzer sich anstrengen und alles geben!
Gisela Sonnenburg / Anonymous