Die Gala aller Galas John Neumeier moderierte zum Abschied von seinem Hamburg Ballett die „49. Nijinsky-Gala“ 2024 – mit einem lachenden und einem weinenden Auge

John Neumeier nahm Abschied

Hochstimmung trotz Abschiedsschmerz: John Neumeier (vorn mittig), Alina Cojocaru (links), Edvin Revazov (rechts) und das Hamburg Ballett nach der 49. Nijinsky-Gala 2024. Foto vom Schlussapplaus: Gisela Sonnenburg

John Neumeier ist eine ästhetische und moralische Instanz. Das wird er bleiben. Wo auch immer er lebt und arbeitet. Außer Genie hat er Anstand – und den Bogen raus, sein Publikum grundsätzlich weder zu deprimieren noch zu hysterisieren. Noch es zu langweilen. Man ist nie wie erschlagen nach seinen Stücken, dafür zuverlässig entspannt, nachdenklich und beseelt. Mit Charme und Humor, aber doch auch mit der nötigen Ernsthaftigkeit bringt Neumeier seine künstlerische Vision unters Volk. Er ist der Intellektuelle unter den Ballettchoreografen, und zugleich ist er der sinnlichste unter ihnen: John Neumeier schrieb nicht nur Tanzgeschichte, er ist auch der letzte Titan des Balletts, der seine Vorstellungen von Kunst mehr oder weniger Eins zu Eins in mehrfacher Hinsicht umsetzte. Er leitete 51 Jahre lang sein Wunschensemble, das Hamburg Ballett; er gründete seine eigene Ballettschule, um Nachwuchs aus Tänzerinnen und Tänzern speziell für seinen Stil und sein Werk zu erhalten; er leitet auch weiterhin das von ihm ins Leben gerufene Bundesjugendballett, das vor allem gesellschaftliche Kreise anspricht, die sonst mit Ballett nicht viel zu tun haben. Knapp hundert Ballettveranstaltungen leistete allein das Hamburg Ballett in den letzten Dekaden jährlich – und auch dieses Jahr ist die Arbeit noch nicht getan: Die Truppe reist diese Woche mit „Ein Sommernachtstraum“ zum Gastspiel nach Genua. Aber Eines wurde bei der fast sechsstündigen 49. Nijinsky-Gala 2024 am gestrigen Sonntag mal wieder unter Beweis gestellt: John Neumeier macht glücklich.

Als sich der Vorhang zur letzten Hamburger Gala mit dem Ballettdoyen hebt, ist die Hamburgische Staatsoper bis auf den letzten Platz besetzt. Vor der Tür wurden vorab noch privat Karten gesucht – und oft gefunden.

John Neumeier nahm Abschied

Javier Martínez und Filipe Rettore aus der Ballettschule des Hamburg Ballett – John Neumeier tanzen hier „Yondering“. Foto: Kiran West

Zunächst lässt das Konzept von John Neumeier – das er dieses Mal nicht mit einem Motto oder Thema benannt hat, das aber eindeutig auf Abschied weist – seine zeitlose Kunst der Jugend für sich sprechen. Vier Songs aus dem Erfolgsstück „Yondering“, für Schülerinnen und Schüler von Neumeier 1996 in Kanada kreiert, zeigen zunächst drei Jungs, dann weitere Jungs und zwei Mädchen.

Es ist Poesie pur, die da ins Publikum strömt: bei perfekt ausgeleuchteter Bühne, die im Hintergrund ein vergrößertes Aquarell von Neumeier – das stilisierte Büsche darstellt – mal in Grün, mal in Blau changierend leuchten lässt.

Welch hohes Niveau hier in Hamburg eben schon die Schülerinnen und Schüler haben, ist für Außenstehende verblüffend, aber auch für Insider höchst zufrieden stellend.

Der melancholischen Suche nach sich selbst und Freundschaften folgt im Handwerker-Song „That’s What’s the Matter“ zünftig-clownesker, nichtsdestotrotz aber hoch ästhetischer Ensembletanz.

Was für ein Stimmungsbringer dieser Jugendtanz doch ist!

John Neumeier nahm Abschied

Blumen und noch lange kein Ende: John Neumeier mit Alina Cojocaru und Edvin Revazov und – Blumen. Foto vom Schlussapplaus der Nijinsky-Gala 2024: Gisela Sonnenburg

Dann erscheint Neumeier auf der Bühne, im weißen Stehkragenhemd unter einem nachtblauen, fast schwarzen Anzug mit kurzer Jacke – wohl eigens von sich für sich designt – so elegant wie ein Modechef aus Paris.

Offen erklärt er, dass er dieses Jahr zum ersten Mal auf illustre Stargäste, die man sonst selten in Deutschland sieht, verzichtet hat. Um seine letzte Gala ganz der Company zu widmen, mit der er seit 51 Jahren am meisten gearbeitet hat.

John Neumeier nahm Abschied

John Neumeier mit seinen Getreuen beim letzten Gala-Schlussapplaus in Hamburg für ihn. Foto: Gisela Sonnenburg

1973 begann sein Hamburger Werk. 1989, fast gleichzeitig mit dem Mauerfall, wurde das Ballett-Zentrum John Neumeier in Hamburg-Hamm eingeweiht, in einer umgebauten Mädchenschule, deren rote Ziegel und hochwertige Kunstausstattung (unter anderem mit einem Wandbild von Anita Rée zum Orpheus-Thema) noch heute unnachahmliches Flair verbreiten.

Die Generationen sollen hier voneinander lernen; manche ehemalige Schüler werden später Lehrer an der Schule; es entstand „eine Art Mikrokosmos“ des Neumeier-Balletts.

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Alessandro Frola und Olivia Betteridge in „Spring and Fall“ von John Neumeier. Foto vom Hamburg Ballett: Kiran West

1994 entstand dann „Spring and Fall“ zu Musik von Antonin Dvorak, für Gigi Hyatt, die heutige Ballettschul-Leiterin, und Manuel Legris, der derzeit das Ballett der Mailänder Scala leitet.

Der so vielseitige wie elegante Alessandro Frola und die mädchenhafte Olivia Betteridge interpretieren einen mal optimistischen, mal skeptischen Pas de deux daraus, der bereits in Sankt Petersburg und in Tokio, in London und auch in Kiew getanzt wurde. Francesco Cortese und Emiliano Torres begleiten sie tänzerisch dabei.

Dann spricht John Neumeier einfache, aber rührende Worte: „Ich wünsche Ihnen einen sehr, sehr schönen Abend!“ – So freundliche Wünsche lässt man sich nicht zwei Mal sagen, zumal, wenn die Darbietungen so unter die Haut gehen wie bei dieser Gala.

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John Neumeier und seine Künstler beim Schlussapplaus nach der Nijinsky-Gala am 14. Juli 24. Foto: Gisela Sonnenburg

John Neumeier verzichtete nämlich überraschenderweise ganz auf tänzerische Gassenhauer und die üblichen Gala-Highlights.

Kein „Sommernachtstraum“, kein „Schwanensee“. Kein „Dornröschen“, kein „Nussknacker“. Kein „Opus 100 – for Maurice“. Kein Black Pas de deux aus der „Kameliendame“. Kein „Liliom“.  Und fast nichts aus „Romeo und Julia“ war zu sehen.

Sondern ausschließlich sensible, tiefsinnige Werke des Meisters, die mal humoristische, mal kämpferische Elemente aufweisen.

Zwei Episoden aus „Préludes CV“ etwa zeigten den Geschlechterkampf mit hoch artistischen, dennoch erotisch aufgeladenen Formen.

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Yun-Su Park und Lizhong Wang nahmen mit „Préludes CV“ von Hamburg Abschied. Foto: Kiran West

Yun-Su Park und Lizhong Wang, die beide nunmehr das Hamburg Ballett verlassen, waren von den Ersttänzern des Stücks, Silvia Azzoni und Alexandre Riabko gecoacht worden: Expressive, dramatische Posen einer Beziehung waren zu sehen.

Zur Musik von Lera Auerbach kam Neumeier übrigens über den nachgerade privaten Hinweis des Violinisten Vadim Guzman, der für ihn allein ein Konzert im Opernhaus zur Probenzeit arrangierte, bei dem Neumeier sich fühlte „wie Ludwig II.“

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John Neumeier und das Hamburg Ballett nach der Nijinsky-Gala 2024. Foto: Gisela Sonnenburg

Ida Stempelmann und Christopher Evans tanzen einen weiteren Beziehungskampf aus „Préludes CV“.

Ein rosa Luftballon, der hier aus dem Schnürboden schwebt, ist einem Zufall bei einer Probe geschuldet – und blieb als Element im Stück. Eignet er sich doch vorzüglich, um der Tänzerin von ihrem Partner übergeben zu werden.

Zugrunde liegen in „Préludes CV“ übrigens die ganz realen Paarbeziehungen, die sich im Hamburg Ballett gefunden hatten. Da geht es manchmal schonungslos zu.

So muss Stempelmann muss hier ihr Shirt ausziehen und eine nicht kurze Passage oben ohne tanzen – furios und ohne Koketterie meistert sie das, zieht ihr Shirt dann wieder an, mit dem Impetus zum Partner: Ich hab’s dir gezeigt!

John Neumeier nahm Abschied

John Neumeier – und der Schlussapplausreigen nach der Nijinsky-Gala 2024 beim Hamburg Ballett. Foto: Gisela Sonnenburg

Wenn andere Künstler so etwas inszenieren, wirkt es rasch etwas sexistisch oder reißerisch. Bei John Neumeier aber scheint alles sichtlich inhaltlich motiviert – man kann sich mit seinen Tänzen auseinander setzen, ohne in eine negative oder voyeuristische Haltung gedrängt zu werden.

Gegen so eine De-luxe-Choreografie, die mit wenigen Bewegungen eine große Spanne an Facetten von Emotionen und Spannungen erfasst und vermittelt, hat es ein nicht ganz so genialer Choreograf natürlich schwer.

Von daher kann das jüngste kreative Werk des Tänzers Edvin Revazov namens „Unbound“ („Ungebunden“), vom ausschließlich aus Ukrainern bestehenden „Hamburger Kammerballett“ sowie von Ida Stempelmann und Alexandre Riabko getanzt, da nicht ganz mithalten. Etwas mehr sollte Revazov auf das Zusammenspiel der Bewegung mit der Musik achten, denn hier wirkten die Beethoven-Eroica-Klänge oft doch zu pathetisch für das Hin-und-Her einer Paarbeziehung, die man zu sehen bekam.

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Madoka Sugai und Alexandr Trusch in „Hello“ von John Neumeier – auf der Nijinsky-Gala 2024. Foto: Kiran West

Mit „Hello“ von John Neumeier aus dem Jahr 1996 zu Musik von George Couroupos (der auch die Partitur für Neumeiers „Odyssee“ komponierte) kommt dann wieder überraschende Qualität auf uns zu:

Es ist mehr ein Kampftanz als ein Liebestanz, den Madoka Sugai und Alexandr Trusch da voller Elan zelebrieren.

Zunächst scheint er der Gewinner, wenn sie erschöpft in seinen Armen ruht, von ihm bedeckt wie eine Beute.

Dann erwacht sie unvermittelt, rennt los, will das Terrain der Beziehung verlassen – aber er holt sie ein, bindet sie mit tänzerischen Bewegungen an sich, und das Voneinander-nicht-lassen-Können nimmt seinen Verlauf.

John Neumeier nahm Abschied

Gemischte Gefühle gab es auch bei diesem Abschied nach einer legendären Zeit. Applausfoto vom Hamburg Ballett: Gisela Sonnenburg

Wenn er dann ihren auf ihrem Oberkörper ruhenden Arm streichelt, obwohl er sie von hinten fast im Klammergriff hält, damit sie auf Spitzenschuhen eine Balance verteidigt, dann sieht man: Liebe und Beziehung sind harte Arbeit, auch im Tanz.

Es zählen sowohl der Einfallsreichtum als auch das Fingerspitzengefühl des Choreografen, um das elegant rüberzubringen – ein Neumeier’sches Kerngeschäft.

Mehr als 170 Ballette kreierte Neumeier bisher, darauf weist er hin, und manche – wie eben „Hello“ – geraten da unverdient fast in Vergessenheit.

Das Bühnenbild ist übrigens bestaunenswert: Drei große rote Paneele, die jeweils ein unterschiedliches Rot aufweisen, bilden die angedeutete Rückwand.

John Neumeier nahm Abschied

Das Hamburg Ballett applaudiert seinem scheidenden Chef: nach der Nijinsky-Gala 2024. Foto: Gisela Sonnenburg

Rot wie die Liebe, aber eben doch keineswegs einheitlich – einfach kompliziert ist das Thema. Und es ist so schön, dass man das sieht, in einem aufklärerischen Sinn.

Liebe gibt es aber nicht nur zwischen Menschen. Das tägliche Training im Ballett, so John Neumeier, sei „Labor of Love“, also „Arbeit aus Liebe“. Ohne die völlige Hingabe ist der hoch anstrengende Balletttanz tatsächlich nicht möglich, das unterscheidet ihn von Yoga und diversen Sportarten.

Aber: Zur Belohnung entfesselt gerade diese Muskel-und-Seelen-Arbeit „eine unbändige Freude“, wie JN es sagt. Und die hält die hart arbeitenden Liebenden an der und bei der Stange des Balletts.

Ein Auszug aus dem „Beethoven-Projekt II“ von Neumeier, erst 2021 uraufgeführt, zeigt, wie spritzig und überbordend die Lebensfreude ist, die durch Balletttanzen hervorgebracht wird.

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Alexandr Trusch und Karen Azatyan in „Das Lied von der Erde“ von John Neumeier auf der Nijinsky-Gala 2024. Foto: Kiran West

Da schaut Alexandr Trusch auf seine imaginäre Armbanduhr, sie scheint stehen geblieben. Aber die Damen, die später anrücken, tragen Sonnengelb – nicht nur mit der Kleidung, sondern offenbar auch im Herzen. Wer fragt da noch nach der Uhrzeit?

Und da tauchen, völlig unverhofft, die Newcomer Azul Ardizzone und Louis Musin als „Romeo und Julia“ auf, gemeinsam mit dem Beethoven-Ensemble und doch wie separiert, wie in einer anderen Sphäre, tanzend.

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Schier überirdisch hebt Romeo seine Julia, und wenn sie sich vorn an der Rampe küssen, mutet auch dieser Kuss an wie nicht von dieser Welt.

Schließlich scheint es das Paradies auf Erden, miteinander und füreinander zu tanzen. Paradise now!

Aber vorher bitte noch kurz in die Pause gehen…

John Neumeier erinnert sich zu Beginn des zweiten Teils an 1973, als er das erste eigene Stück in Hamburg namens „Rondo“ zeigte. Er hatte es aus Frankfurt am Main, wo er zuvor Ballettdirektor gewesen war, mitgebracht.

Ich bin der Welt abhanden gekommen“, dieses herzzerreißende Liebeskummer-Lied von Gustav Mahler war damals eine der Musiken dafür, gepaart mit einem Song von Simon & Garfunkel, die sich – wie Mahler – durch das Werk von JN mäandern.

Eine andere Mahler-Arbeit Neumeiers entstand zu Ehren von John Cranko für eine Stuttgarter Gala: „Nacht“, der vierte Satz der späteren „Dritten Sinfonie von Gustav Mahler“, ein Pas de trois von hoher mystischer Qualität.

John Neumeier nahm Abschied

Die weißen Pfingstrosen sind die Lieblingsblumen von John Neumeier – auch beim Abschiedsapplaus nach der Nijinsky-Gala 2024. Foto: Gisela Sonnenburg

In mehr als 30 Ländern wurde die „Dritte Mahler“ übrigens bis heute gezeigt. Und das, obwohl es sich um ein immer noch hochmodernes Ballett handelt.

Ausführliche Rezensionen des innovativen Stücks finden sich natürlich hier im Ballett-Journaletwa hier

Auf der gestrigen Gala aber zeigte Neumeier zunächst das 2015 in Paris entstandene, dann für die Hamburger Version überarbeitete „Lied von der Erde“ (bzw. einen Auszug dessen).

Klaus Florian Vogt, der erfolgreiche Heldentenor, unterbrach dafür die Probenarbeit bei den Bayreuther Festspielen, um auf der Gala live zu singen.

Zumal Simon Hewett das Philharmonische Staatsorchester Hamburg vorzüglich durch den Abend führte – ein herzhaftes Bravo auch an die Musiker des Abends! Und ein Lächeln mit Tränen in den Augen dazu, denn Simon Hewett – der viele Jahre auch als Erster Ballettdirigent für John Neumeier in Hamburg wirkte – verlässt das Hamburg Ballett.

Dennoch gehörte das Gros der Aufmerksamkeit hier sowieso dem Tanz.

John Neumeier nahm Abschied

„Das Lied von der Erde“ wurde 2015 in Paris uraufgeführt und fürs Hamburg Ballett überarbeitet. Hier der Applaus dafür von der Nijinsky-Gala 2024. Foto: Gisela Sonnenburg

Xue Lin, Alexandr Trusch und Karen Azatyan sowie zwölf Paare entführen an einem anderen grünen Hügel als nach Bayreuth – das Bühnenbild zaubert eine entrückt-versponnene Atmosphäre.

Der Abschied“ ist dieses Teilstück betitelt… nicht ohne Hintersinn wählte Neumeier es aus, zumal es in ein Tableau mündet, in welchem mal weiße, mal schwarze Silhouetten sich langsam ins Aus bewegen, ganz so, als rollten hier die ewigen Meereswellen unendlich verzögert in eine Zeitschleife.

Zu Azatyan ist zu sagen, dass er in Hamburg fehlen wird, denn die Zusammenarbeit mit Cathy Marston, die ihn als Hauptfigur in ihrer Hamburger „Jane Eyre“ besetzte, war offenbar so erfüllend für ihn, dass er zu ihr ans Zürcher Ballett (das sie leitet) wechselt. Wer wird dann den Muschik in Neumeiers „Anna Karenina“ tanzen? Wir werden es zu gegebener Zeit erleben. Alles Gute erstmal für Karen Azatyan!

Brigitte Lefèvre hatte übrigens das „Lied von der Erde“ bei Neumeier als ihre letzte Auftragsarbeit als damalige Chefin des Balletts der Pariser Opéra bestellt. Auch insofern ist es ein Abschiedsstück.

Man ahnt in der Pause, dass man sich sein Leben lang nach dieser Gala zurücksehen wird.

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John Neumeier beim Abschiedsapplaus nach der Nijinsky-Gala 2024 mit dem Hamburg Ballett. Foto: Gisela Sonnenburg

Der dritte Teil des Abends setzt stilistisch das Surreale fort. „In the Blue Garden“, mit viel Dynamik und Verve vom Bundesjugendballett getanzt, zusammen mit Stuttgarts Ex-Startänzer Marijn Rademaker, ist ein Kunstmärchen, das jedes Mal, wenn es aufgeführt wird, neu erfunden werden kann.

John Neumeiers Urversion ist längst überholt von all den Versionen, die das Bundesjugendballett unter der künstlerisch-pädagogischen Leitung von Kevin Haigen schon daraus entwickelt hat.

Der Anfang ist berückend vielfältig, bunt, dennoch stilistisch ergreifend: In Kostümen, die aus verschiedenen Stücken zu kommen scheinen, finden sich die acht JungtänzerInnen zusammen, eine jede und ein jeder muss dabei seinen Weg gehen bzw. tanzen.

Der Titel bezeichnet die Szenerie und hat zugleich eine metaphorische Bedeutung. Mit dem blauen Garten könnte ein nächtlicher Garten, ein Naturraum der heimlichen Sphäre, gemeint sein. Darum spielt das Motiv der Blindheit, des Nichtsehens, hier eine große Rolle, auch in der Choreografie.

Im übertragenen Sinn ist damit die verborgene Seelenlandschaft gemeint, die jede und jeder in sich trägt: das Unbewusste wird sichtbar gemacht.

Damit ist auch die Verbindung zur Traum-Arbeit, durchaus auch im Freud’schen Sinne, gegeben.

John Neumeier nahm Abschied

Ayumi Kato und Moisés Romero vom Bundesjugendballett in „In the Blue Garden“ von John Neumeier. Foto: Kiran West

Aus dem Off erklingt dann John Neumeiers Stimme: „Who will find me – Who wants to find me – Who will know me – Why?” und:„Moving on, always moving on!” ist die definitive Aufforderung, das Leben als Tanz, als Bewegung zu betrachten. Um dann einen Moment der Ruhe zu genießen: „Only resting a little in the blue garden…”

Die Musik von Maurice Ravel erschafft dann einen Kosmos aus Fantasie und Natur, berauschend und mitreißend. Am Ende scheint es, als seien einige Paukenschläge und der letzte Akkord aus Gustav Mahlers „Dritter“ hinzugemischt. Tatsächlich hat sich Ravel hier wohl stark von Mahlers Sinfonie inspirieren lassen. Dazu passt, dass die verschiedenen Fassungen der Musik zwischen 1908 und 1911 entstanden – 1911 war das Todesjahr Mahlers, Ravel könnte ihn also durchaus als Hommage zitiert haben.

John Neumeier nahm Abschied

Konfettiregen und Stürme mit Applaus – John Neumeier und sein Hamburg Ballett nach seiner letzten Nijinsky-Gala. Foto: Gisela Sonnenburg

Mahlers Dritte wurde übrigens 1902 erstmals komplett aufgeführt. Damals aber leider noch ohne Neumeiers Tanz, der erst 1975 dazu kam – als erstes abendfüllendes Werk Neumeiers, das er in Hamburg kreierte. Wir werden später mehr dazu sehen und hören.

Zum Bundesjugendballett (BJB) versetzte John Neumeier uns einen kleinen Schock, als er mitteilte, Demis Volpi habe beschlossen, die kleine Truppe vor die Tür zu setzen. Man sei nun heimatlos, habe im Opernhaus und im Ernst Deutsch Theater (EDT) Unterschlupf gefunden und suche aber ein neues Haus.

Ganz so arg ist es derweil nicht: Um das BJB zu stärken und selbständiger werden zu lassen, wird es tatsächlich nicht mehr regulär, sondern nur noch nach Terminabsprache im Hamburger Ballett-Zentrum trainieren und proben.

John Neumeier nahm Abschied

Kevin Haigen (mittig rechts) und Mitglieder vom Bundesjugendballett beim Applaus nach der 49. Nijinsky-Gala 2024. Foto: Gisela Sonnenburg

Der neue Vertrag, den John Neumeier mit der Hamburgischen Staatsoper und dem EDT erstmal auf immerhin drei Jahre abschloss, dient der Autonomie der achtköpfigen Truppe, die mit einigem logistischen Aufwand die Botschaft des Balletts tanzend durch die Lande trägt.

Eine Idee transportiert derweil auch ein ganz besonders schönes abendfüllendes Stück aus dem 21. Jahrhundert von John Neumeier.

Die Möwe“ von 2002, frei nach dem Theaterstück von Anton Tschechow, gehört nicht nur zu meinen, sondern erfreulicherweise auch zu John Neumeiers Lieblingsballetten.

John Neumeier nahm Abschied

Applaus mit Blumen für John Neumeier auch von seinen Künstlern – nach der Nijinsky-Gala am 14.07.24. Foto: Gisela Sonnenburg

Auf der Neumeier’schen Abschiedsgala erfreute uns daraus ein Pas de deux, der mit einem Solo der Hauptperson Kostja, hier ein junger Choreograf in der russischen Provinz, beginnt.

Das Licht – John Neumeier ist im Lichtdesign ebenfalls ein Künstler und schafft es, stimmungsvolle Lichtbilder zu erzeugen, ohne uns in dämmrige Dunkelheit zu stürzen, die oft ein Problem im modernen Ballett ist – das Licht hier in der „Möwe“ also ist pudrig blau, so blau, dass man es besingen möchte.

Azzurro – und doch wirkt der Himmel zum Greifen nah! Ist das die Sehnsucht, die ihn so vertraut erscheinen lässt?

Mit Musik von Dmitri Schostakowitsch brilliert am Piano Ondrej Rudcenko.

John Neumeier nahm Abschied

Ana Torrequebrada und Louis Musin nach ihrem Tanz aus „Die Möwe“ von John Neumeier. Foto vom Applaus: Gisela Sonnenburg

Louis Musin sitzt dann da, versonnen mit dem gebastelten, weißen Papierflieger als Möwe in der Hand – und es reißt einen mit, zieht einen hinein in die Welt dieses jungen Mannes, der von Kreationen und Erfolgen träumt.

Leichtfüßig tänzelt er über das Holzpodest, das hier eine Outdoor-Bühne darstellt, und es ist der Traum vom Theater, den so viele junge Menschen seit der Erfindung des Theaters träumen, den er tänzerisch formuliert.

Neumeier erschuf mit der „Möwe“ ein Handlungsballett, das zugleich theaterwissenschaftliche Kommentarfunktionen erfüllt. Theater als Traum, als Avantgarde, als Revue, auch als Satire – all diese Formen werden spielerisch in die Handlung mit eingebracht und vorgestellt.

Es wertet die Partie des Kostja selbstverständlich auf, zu sehen, dass er nicht nur für sich steht, sondern für ein ganzes Utopia.

John Neumeier nahm Abschied

Ana Torrequebrada und Louis Musin in „Die Möwe“ von John Neumeier. Foto von der Nijinsky-Gala 2024: Kiran West

Als Ana Torrequebrada als Nina dazu kommt, erfüllen zwei hoch begabte Seelentänzer gemeinsam die Sphäre. Wie wunderbar ist es, jung zu sein und ähnliche Träume zu haben!

Dieser Paartanz ist schlicht mit das Beste, was im Ballett überhaupt zu haben ist.

Wer die Corona-Situation bedenkt, in der „Ghost Light“ kreiert wurde,  bewundert John Neumeieraber auch dafür, trotz all der widrigen Umstände und Maßregeln 2021 ein so hervorragendes Stück kreiert zu haben.

In Anlehnung an das Geisterlicht benannt, das auf US-amerikanischen Bühnen des nachts brennt, wenn niemand die Bühne betreten soll, zeitigt „Ghost Light“ Soli und Paartänze, die ans Herz gehen, weiß man doch nicht, ob sie Fantasie oder Realität, Geistertanz oder teilweise sogar Alptraum sind.

Silvia Azzoni (mit extravaganter Frisur: ein Dutt hoch oben und hinten unten ein langer geflochtener Zopf) und Alexandre Riabko sowie Mathias Oberlin und Alessandro Frola bieten hier Beziehungsgedönse vom Feinsten an.

Die Intensität des Aufeinanderzurückgeworfenseins – sie findet sich selten so stark formuliert wie hier.

John Neumeier nahm Abschied

Olga Smirnova und Jacopo Bellussi in „Lento“ von John. Neumeier. Foto: Kiran West

Ein Höhepunkt ist dann der Paartanz „Lento“ von 1999, den Olga Smirnova als Gast und Jacopo Bellussi vom Hamburg Ballett wie einen delikaten Beziehungsclinch zelebrieren.

Er beginnt damit, dass die Tanzpartner versetzt voreinander stehen, sich im großen Lichtkegel neu aufstellen, sich dann erst einander tänzerisch zuwenden – um schließlich in eine Pose zu münden, in der Smirnova sich kerzengerade, aber kopfüber an Bellussis Körper entlang schmiegt.

Ein fantastisches Werk und die eigentliche Entdeckung auf dieser Gala!

Es zeigt, wie nah und fern sich Menschen doch zugleich sind, wenn sie glauben, viel miteinander zu tun zu haben.

John Neumeier nahm Abschied

Olga Smirnova und Jacopo Bellussi nach dem Glanzstück „Lento“ von John Neumeier auf der Nijinsky-Gala 2024. Foto: Gisela Sonnenburg

Und John Neumeier macht darauf aufmerksam, dass es vor Corona schon mal eine Epidemie gab, die heute als solche fast vergessen ist: Aids. Jeffrey Kirk, einer der Hamburger Solotänzer, war schon schwer krank, aber ungeheuer willensstark, als John Neumeier 1989 für ihn und Gigi Hyatt einen Pas de deux kreierte.

Des Knaben Wunderhorn“ („Wo die schönen Trompeten blasen“) aus den „Soldatenliedern“ von Gustav Mahler wird seither bei jeder Benefiz-Ballett-Werkstatt, also jährlich, im Andenken an Jeffrey getanzt.

Jetzt zeigen Anna Laudere im weißen Jungfrauenspitzenkleid und Edvin Revazov in Soldatentanzuniform, wie vielschichtig dieser Tanz ist.

Ist es ein Flirt mit dem Tod, wenn von den Trompeten die Rede ist?

Oder ist es vielmehr die Hoffnung auf Leben, die sich hier durchsetzt?

Katja Pieweck singt mit eindringlichem Mezzosopran, und das Tanzpaar entwickelt zu zweit eine ganze Welt aus dem Spiel mit Kontrasten.

John Neumeier nahm Abschied

Katja Pieweck, Edvin Revazov, Anna Laudere nach „Des Knaben Wunderhorn“ auf der letzten Nijinsky-Gala, die John Neumeier als Ballettintendant moderierte. Foto vom Applaus: Gisela Sonnenburg

Le Spectre de la rose“ nach Musik von Hector Berlioz ist dann eine Referenz an Vaslaw Nijinsky, eine der vielen, die John Neumeier schuf.

Anknüpfend an „Vaslaw“ tanzt Aleix Martínez, begleitet von Ida Praetorius und Mathias Oberlin.

Annelie Sophie Müller besticht mit ihrem schönen Sopran gesanglich, am Flügel begleitet von Michal Bialk.

John Neumeier nahm Abschied

Katja Pieweck, Alina Cojocaru und John Neumeier mit dem Hamburg Ballett beim Gala-Applaus. Wow! Foto: Gisela Sonnenburg

Viele Stränge der Ballettgeschichte kommen hierin zusammen, um doch zu einem deutlichen Fazit zu gelangen: Der Mensch muss im Mittelpunkt stehen, wenn es um Ballett geht.

Nijinskys tragisches Schicksal indes hinderte ihn durch seine Erkrankung an Schizophrenie daran, als Künstler sein Leben zur weiteren Erfüllung zu bringen. John Neumeier widmete ihm, der als Tänzer und auch als Choreograf zu Beginn des 20. Jahrhunderts Furore machte, aus Ehrerbietung den liebsten und schönsten Ballettsaal im Ballettzentrum Hamburg – John Neumeier in Hamburg-Hamm.

John Neumeier nahm Abschied

Die Protagonisten aus „Le Spectre de la rose“ von John Neumeier hier beim Applaus auf der 49. Nijinsky-Gala. Foto: Gisela Sonnenburg

Die erste Nijinsky-Gala in Hamburg war übrigens in der Tat Vaslaw Nijinsky gewidmet – und der Name blieb, als in den folgenden Jahrzehnten die Themen variierten.

Für den Tanzschöpfer Neumeier war und ist im Leben dabei vor allem Eines wichtig: „Ich will etwas machen, etwas hervorbringen – Tanz.“

Bei all seinen Helfershelferinnen und Helfershelfern, vor allem im Opernhaus und in den technischen Werkstätten, bedankt er sich dann. Und bricht mitunter bewegt ab, fasst sich neu – und man bewundert und liebt John Neumeier umso mehr, als er zeigt, dass auch ihn sein Abschied von seinem wichtigen Amt zutiefst anrührt.

John Neumeier nahm Abschied

Ida Praetorius, Aleix Martínez und Matias Oberlin vom Hamburg Ballett in „Le Spectre de la rose“ von John Neumeier. Foto: Kiran West

Für sein Hamburg Ballett hat er schlicht höchstes Lob parat: „Es ist die tollste Company der Welt.“ Das will hier auch niemand bestreiten. Bestimmt nicht.

Und John Neumeier hat recht, wenn er sagt:

„Eine Company ist wie ein Garten, den man pflegen muss. Und was für einen prachtvollen Garten hinterlasse ich Hamburg!“

John Neumeier nahm Abschied

Danksagungen und Verbeugungen – der Schussapplaus ist beredt auch ohne Worte. Foto vom Applaus nach der Nijinsky-Gala: Gisela Sonnenburg

Er dankt aber auch seinem Publikum: dafür, dass es „so neugierig“ und so „fidele“, also treu, war. Und: „so ehrlich“ .

Im typischen Neumeier-Deutsch, das liebenswert ist, weil er kein Muttersprachler ist, entlässt er uns dann sozusagen in die Freiheit, die wir gar nicht haben wollen:

„Ich wünsche Sie alle für die Zukunft alles Gute. Danke.“

John Neumeier nahm Abschied

Alina Cojocaru und Edvin Revazov in der „Dritten Sinfonie von Gustav Mahler“ von John Neumeier auf seiner letzten Nijinsky-Gala in Hamburg. Foto: Kiran West

Es kann daraufhin nur ein Stück von ihm auf der Bühne kommen: Es heißt „Was mir die Liebe erzählt“ und ist der letzte Satz aus Neumeiers „Dritter Sinfonie von Gustav Mahler“.

Es ist schon eine Tradition, dass John Neumeier seine Nijinsky-Gala mit diesem Stück enden lässt.

Alina Cojocaru im roten Engelsgewand, kindhaft-geschmeidig und traumverloren schön tanzend, erweckt tänzerisch Edvin Revazov zu neuem Leben – und der Pas de deux, der sich entspinnt, gewinnt mit jedem Mal, wenn man ihn sieht. Auch nach gefühlt hunderten von Malen noch…

John Neumeier nahm Abschied

John Neumeier und das Ensemble des Hamburg Ballett in „Was mir die Liebe erzählt“ aus der „Dritten Sinfonie von Gustav Mahler“ in der Gala vom 14.07.24. Foto: Kiran West

Als das Ensemble dazu kommt, steht auch John Neumeier auf der Bühne, wie am Ende seiner Collage „The World of John Neumeier“. Staunend wandelt er durch seinen lebenden Tänzerwald, während die Jungs die Mädchen in unendlich schöne Posen heben.

Neumeier übernimmt mit seinen 85 Jahren die Hauptpartie – und als Alina Cojocaru rechts am Bühnenfeld ihre lange, langsame Schrittreihe beginnt, steht er mit dem Rücken zum Publikum am Horizont. Langsam dreht er sich um, biegt den Oberkörper vor, streckt die Arme aus – und sehnt sich nach der Schönheit und Wahrhaftigkeit des Tanzes, vom Engel verkörpert.

Die letzten Paukenschläge aus dieser Sinfonie vergisst man so nie…

Danke, John Neumeier, für alles!
Gisela Sonnenburg

John Neumeier nahm Abschied

Blumen über Blumen auf der Bühne für John Neumeier… so zu sehen beim Schlussapplaus nach der Nijinsky-Gala 2024. Foto: Gisela Sonnenburg

www.hamburgballett.de

P.S. Wenn Stardirigent Kent Nagano einen Extra-Flieger von Tokio nach Hamburg nimmt, dann, um John Neumeier zu seinem Abschied vom Hamburg Ballett zu beschenken. So ist es gestern geschehen – und auf dem Empfang nach der Gala überreichte Nagano Neumeier mit einer freundlichen Rede ein großes Blumenbouquet auch im Namen des Orchesters. Blumen über Blumen, Zuspruch und Erfolge sollen Neumeiers Weg auch weiterhin säumen!

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