An Pauken und Trompeten herrscht hier kein Mangel, und dennoch durchströmt pure Poesie das Werk: Das erste abendfüllende sinfonische Ballett von John Neumeier, die „Dritte Sinfonie von Gustav Mahler“, erlebte fast auf den Tag genau vor 49 Jahren – am 14. Juni 1975 – seine Uraufführung in Hamburg. Seither profilieren sich ganze Tänzergenerationen in den prägnanten Parts. Zuletzt, in der vergangenen Woche, brillierte Neumeiers Muse und Gastsolistin Alina Cojocaru beim Hamburg Ballett als Neubesetzung: in der Partie des „Engels“ im fünften und sechsten Satz. Mit ihr beginnt das Stück auch im Prolog: Langsamen Schritts überquert die kindhafte Person im weinroten Leotard von links nach rechts, vorn an der Rampe entlang, die Bühne. Sachte in die Stille hinein, die hier den Auftakt bildet. Aber hinter ihr stehen, im dämmrigen Dunkel, schon die muskulösen Männer für den weiteren Tanz mit Hochspannung bereit. Die ersten Töne, einer Fanfare ähnelnd, stacheln auf. Der Rest des Stücks ist Legende: Die „Dritte Sinfonie von Gustav Mahler“, von Neumeier seit jeher ohne Artikel im Titel benannt, ist ein Monolith und Meilenstein in der Tanzgeschichte. In zwanzig Ländern der Erde wurde es schon gezeigt, bestaunt, bejubelt: von Deutschland, der DDR, Belgien, Italien und Frankreich über Polen und Russland bis nach China und in die USA.
Erzählt wird mit tänzerischen Mitteln ein Menschheitstraum, eine Menschheitsgeschichte, die nur angedeutet ist und die sich der Rezipient durch aufmerksames Zuschauen erarbeiten muss.
Erst im Rückblick ergibt sich dann der Sinn einer großen, letztlich nicht erfüllten Liebesgeschichte, auf die alles hinausläuft.
Aber ebenso ergeben sich auch deutlich die Diskrepanzen zwischen den einzelnen Teilstücken. Und somit eine Entwicklung, die man vielleicht eher in einem Geschichtsbuch erwartet hätte als in einem Ballett.
Ein Mann kommt aus dem Krieg – dem ersten Satz – und sucht die Frau fürs Leben. So einfach könnte man die Handlung zusammen fassen. Doch die Orte, an denen er sucht und findet, sind so disparat – obwohl nur Licht das Bühnenbild ausmacht – dass man sich fragen muss: Ist der Held ein- und dieselbe Figur durch das ganze Stück?
Oder handelt es sich nicht vielmehr um eine Symbolgestalt, die Jahrhunderte oder sogar Jahrtausende überdauert?
Der Mensch an sich ist hier auf der Suche nach etwas, das seinem Leben mehr Sinn verleiht als das bloße Überleben seiner Spezies. Mit Gewalt kommt er nicht weit, das merkt er im ersten Satz, und darum besieht er sich die verschiedensten Gruppen.
So, wie die Geschichte der Menschheitsentwicklung sich durch viele verschiedene Modelle vollzogen hat und vollzieht.
Die Liebe als angestrebtes Prinzip ist aber immer allgegenwärtig – und steht wiederum als Symbol für eine Art Nächsten- und Gottesliebe, die mehr als nur die Erotik umfasst.
Es handelt sich also bei genauerem Hinsehen um ein zutiefst christliches Werk.
Den vierten Satz dessen, von Neumeier „Nacht“ betitelt, kreierte er denn auch schon 1974, also ein Jahr vor der Aufführung des ganzen Stücks, und zwar als Trost-Stück und als Referenz: fürs Stuttgarter Ballett und seinen damals schon verstorbenen Gründer John Cranko. Es ist ein herzzerreißender Pas de trois von einer Frau mit zwei Männern, deren wechselhafte Beziehungen untereinander einen ganzen Kosmos an Emotionen und Interaktionen bebildern.
Man kann jedoch nicht sagen, die weiteren Teile des Stücks würden sich um diesen vierten Satz herum ranken. Vielmehr ergibt sich beim fertigen Werk eine chronologische Entwicklung ab dem ersten Satz. Dabei steht, wie auch in der Musik, hier jeder der insgesamt sechs Sätze separat für sich.
In der Urversion dieses choreografischen Werks war dieser Eindruck besonders prägnant.
Da hätte man sich nach dem ersten Satz mit seinen exotisch-aufregenden Sprüngen halbnackter, oft auf dem Platz marschierender Männer auch eine Pause vorstellen können. Der Komponist Gustav Mahler sah sogar volle fünf Minuten Stille danach vor. Ob er Neumeiers grandios-transzendierende Tänze zu seiner Musik verstanden hätte, sei dahin gestellt. Aber es ist Fakt, dass die überwältigende Wirkung gerade des ersten und letzten Satzes der „Dritten Mahler“, wie das Stück im Hause Neumeier gekürzelt wird, nie verblasst.
2011 überarbeitete der Choreograf sein so oder so geniales Meisterwerk. Da war es schon ein weltbekannter Knüller, auch in dem USA gefeiert. Nochmals Hand anzulegen, schien beinahe etwas wagemutig. Aber John Neumeier vermisste so etwas wie einen roten Faden, der die Geschichte sinnfälliger machen und zusammen halten könnte.
Der rote Faden ist hier ein Mensch, ein Mann, ein Tänzer. Er steht jetzt vom ersten Satz bis zum Ende mit nur wenigen Ausnahmemomenten als Held stets mit auf der Bühne.
In der Urversion gab es pro Satz einen neuen Helden. Die Menschheitsgeschichte wurde dadurch als langwierige Entwicklung sehr gut fasslich. Man sah, wie sich Zivilisation in ihrer Emotionalität darstellt. Aber auch, dass sich letztlich eine Liebesgeschichte anbahnte, wurde deutlich.
Im ersten Teil gab es in der Urfassung zudem eine Hauptperson, die so etwas wie ein General war, ein offenkundig militärisch agierender Anführer (erstmal getanzt von Max Midinet), um den sich der Rest der Gruppe scharte.
Edvin Revazov (gerade genesen von einer schweren Fußverletzung) tanzte ihn zuletzt, auch letzte Woche, und da trug er die langen Haare zum Pferdeschwanz im Nacken zusammen gefasst. Es ist hier der Mann schlechthin, den Neumeier meint.
Aber auch Jacopo Bellussi und Alessandro Frola, Florian Pohl und Christopher Evans zeigen im ersten Satz das Prinzip Männlichkeit, gepaart mit der Idee des Kampfes, und beinahe knüpft Neumeier hier auf seine Art an „Agon“ von George Balanchine an (das er übrigens 1986 auf den Hamburger Spielplan setzte): Die Mannsbilder hier wirken auch in der statischen Pose noch mit äußerster Dynamik aufgeladen.
Die Füße sind oft im Flex, die Arme nicht selten neben dem Körper spitz gewinkelt. Die Männer marschieren in Zeitlupe, oft fast auf dem Platz – das hatte man so noch nie zuvor auf einer Bühne gesehen. Auch die vogelartigen großen Sprünge und Aufbauten der Tänzer zu Türmen oder Pulks waren in dieser Stilart brandneu.
Das Spiel mit Licht und Schatten, Silhouetten, Halbsilhouetten und Lichtkegeln ersetzt hier die Natur, in dessen Umfeld – auf dem freien Felde, würde Goethe sagen – das Tanzdrama angesiedelt ist.
„Gestern“ hat Neumeier das atemberaubende erste Teilstück der „Dritten Sinfonie von Gustav Mahler“ benannt.
Und gestern war Krieg. Lasst es uns ein Mahnmal sein.
Stilistisch inspiriert ist es zudem einerseits von den Männertänzen von Neumeiers französischem Freund und Kollegen Maurice Béjart, der mit seinen Scharen von jungen Tänzern, die er oben ohne und nur mit einer Hose bekleidet aufs Bühnenfeld schickte, berühmt geworden war.
Zufällig choreografierte Béjart im Jahr 1974 auch Mahler, auch die dritte Sinfonie, allerdings nur die letzten drei Sätze. Unter dem Titel „Ce que l’amour me dit“ („Was mir die Liebe sagt“, also nach dem letzten Satz der Sinfonie benannt) kam das Stück zur Aufführung. Neumeier, ganz der generöse Freund, lud Béjarts Truppe damit zu den Hamburger Ballett-Tagen 1975 ein und ließ es das Publikum noch vor der Uraufführung der „Dritten Sinfonie von Gustav Mahler“ – einige Tage zuvor – sehen.
Beide, Béjart und Neumeier, waren aber offenkundig von einem weiteren französischen Choreografen inspiriert, der sich, ebenfalls 1974, dem Thema Kampftanz gewidmet hatte, und zwar mit einem Männer-Paartanz in „Proust, ou les Intermittences du coeur“. Hierin verschwimmen bereits die Grenzen zwischen Freundschaft, Liebe, Rivalität, Gegnerschaft, Feindschaft.
Bei John Neumeier wird es dann in der „Dritten“ vor allem um die Suche nach Schutz und Geborgenheit, nach Liebe und Vergebung gehen.
Eine dritte Quelle der Inspiration für Neumeier (und auch für Béjart und Petit) kommt jedoch aus dem Osten, aus der Sowjetunion: 1968 hatte Yuri Grigorovich mit „Spartacus“ erstmals tanzende Männergruppen auf die Bühne gebracht, die Kampf und Erotik gleichermaßen versinnbildlichen.
Diese Verschmelzung von Krieg und Liebe im tanzenden männlichen Corps de ballet hat John Neumeier übernommen, es abstrahiert und weiter entwickelt.
Seine Urgesellschaft in der „Dritten“ ist das Erotisch-Kriegerische, das sich rechtzeitig auflöst, bevor es sich selbst zerstört. Zuvor aber bilden die Männer Reihen, Kreise, kleine und große Gruppen, sie türmen sich aufeinander, fallen aufeinander, manche bleiben liegen.
Ursprünglich trugen auch alle Tänzer hier helle Leggings, Schläppchen – und sonst nichts. Seit 2011 trägt ein Teil des Corps aber zu Beginn Pullover und Hosen wie im Trainingssaal – und einige der getragenen Leggings nahmen eine olivfarbene Farbe an. Die Horde Mensch, die wir hier sehen, trägt sozusagen zunehmend zivile, aber auch militärische Charakteristika. Das ist logisch, denn der Krieg verlagerte sich vom Schlachtfeld zunehmend auch in das Wirtschafts- und Arbeitsleben, in das Gegeneinander von Menschen im Alltag.
Wir sehen in der „Dritten“ allerdings keinen Kampf zwischen zwei verschiedenen Mächten, sondern befinden uns immer nur in einem Lager. Der Feind bleibt unsichtbar. Dennoch ist es deutlich, dass die Männer marschieren, flüchten, angreifen. Sie sind im Siegesrausch, kämpfen, fallen, verlieren. Schließlich lösen sie sich als Gruppenverband auf, zerstreuen sich.
Der General allerdings hat 2011 auch weite Teile seiner tänzerischen Sprache abgeben müssen. Viele Passagen dessen tanzen jetzt andere als dieser eine Führer, den es in der immerhin 36 Jahre lang getanzten Ursprungsversion von Neumeiers „Dritter“, also von 1975, gab.
Heute ist von der großen Generalskraft vor allem ein ergreifendes Solo übrig geblieben. Aleix Martínez tanzte es zuletzt, nein: Er tanzt es nicht, sondern er wirft sich hinein, als gelte es, die letzten Reserven zu geben. Ein Mann kämpft ums Überleben, ist auf sich zurückgeworfen, legt sich Rechenschaft ab, schöpft Kraft aus sich selbst. Es ist das Après nach einer Niederlage. Man fühlt so mit ihm.
Einfühlung ist sowieso bei den Stücken von John Neumeier ein wichtiger Aspekt. Ein anderer ist die Spiritualität. Auch hier, in der „Dritten“, in der es zunächst um den Krieg geht, der nicht gewonnen werden kann, und aus dem sich alle am Ende zerstreuen, dämmert am Horizont des Gefühls stets das Göttliche.
Mit der Musik von Gustav Mahler, dem zum Katholizismus konvertierten Juden, harmoniert dieser Drang nach Metaphysik hervorragend.
Und so strotzen auch die beiden folgenden Sätze, in denen es vor allem um die Paarfindung geht, nur so vor Bezügen zum Überirdischen. Hier ist es aber nicht mehr die erdige Kraft, sondern eine liebliche Sanftheit, die von den Tanzenden ausgeht.
Zunächst sind da die Frauen. Die weibliche Kraft wird entdeckt und vorgeführt, angeführt von Ida Praetorius, die mit stummen Ronds de jambes par terre eine Art Selbstvorstellung vor dem Helden, hier weiterhin von Edvin Revazov gegeben, zelebriert. Doch bald ist klar, dass sie nicht diejenige ist, nach der er sucht…
Wenn die Musik des zweiten Satzes beginnt, ist es schon eine große Gruppe schöner Frauen im sommergelben Röckchen, die Kraft und menschliche Wärme in ihrem Tanz vereint.
Es bilden sich zwei Paare: Ida Praetorius mit Christopher Evans sowie Ana Torrequebrada – die mal eine der ganz Großen vom Hamburg Ballett zu werden verspricht – mit Alessandro Frola. „Sommer“, so der Titel dieses Teilstücks, und glückliche Sorglosigkeit verströmen diese hochbegabten vier Tanzenden mit Leichtigkeit.
Im „Herbst“, dem dritten Satz dann, versucht Xue Lin zunächst, Edvin Revazov zu gefallen, doch er zieht sich zurück und begnügt sich damit, aus der passiven Haltung heraus zuzusehen. Florian Pohl wird der Tanzpartner von Xue Lin – bereitet mit ihr schon den großen letzten Satz vor.
Doch zuvor bricht das Trio aus „Nacht“ in die Gesellschaft der angenehmen Konventionen ein. Anna Laudere zeigt ihre großen Stärken, tanzt das, was Marcia Haydée einst mit Neumeier kreierte, in ihrer eigenwilligen, großartigen Stilart. Die Hände vorm Gesicht, beginnt ihre Partie mit Entsetzen und Trauer, um dann zu einem Musterstück der Kooperation und Nächstenliebe zu werden. Die beiden Männer Edvin Revazov und Jacopo Bellussi sind einerseits miteinander beschäftigt, nehmen aber auch die Ballerina in ihre kleine Gruppe auf, heben sie, tragen sie, drehen sie. Mal zu zweit, mal als klassischer Tanzpartner. Sie tragen aber vor allem an der Last ihrer eigenen Probleme – was choreografisch höchst subtil und dennoch unübersehbar umgesetzt ist.
Hilfe und Trost spenden sich diese drei Figuren gegenseitig, und wie deutlich hier manchmal die erzählte Situation ist, berückt.
Dieser vierte Satz ist begleitet von dem Lied „O Mensch! gibt Acht!“, für das Mahler sich einige Zeilen aus Friedrich Nietzsches „Also sprach Zarathustra“ suchte. Die Mezzosopranistin Katja Pieweck singt dieses sehr ernste, mystische, auch ermahnende Mitternachtsgebet, das die Gefahren der Lust und der Todessehnsucht abhandelt, eindringlich.
Es wird Zeit, dem Dirigenten Simon Hewett für seine einerseits zurückhaltende, andererseits sich glasklar steigernde Interpretation zu danken. Selten wird Musik von Gustav Mahler meines Erachtens nach so gut verstanden und so werktreu gespielt wie unter Hewett – und doch oder gerade deshalb geht sie wunderbar unter die Haut.
Sensibel in den feinen Melodiesträngen der Violinen, streng und doch warm im Klang bei den Bläsern, exakt und wohl dosiert mit den Pauken kommt diese „Dritte“ ohne exaltierte Bruchstücke aus. Simon Hewett ist derjenige von den lebenden Dirigenten, der am expressivsten mit den ganz feinen, zarten Klängen umgehen kann. Er braucht keine Übertreibungen, keine künstlichen Übersteigerungen, keine harten Antreiber.
Wo andere mit der Axt die Partitur zerschlagen oder zumindest etliche Noten in Untiefen verfallen lassen, zeichnet Hewett unerbittlich anmutig jeden Aufschwung und jede Grundierung nach. Die komplizierten Dreh- und Kippfiguren, die musikalisch entstehen, oft kontrapunktisch herbei geführt, lassen einen nachgerade schweben. Fantastisch, soviel „Realismus“ in Mahlers Musik hören zu dürfen.
Das gilt auch für den „Engel“, den vorletzten Satz. Der Hamburger Knabenchor unter Luiz de Godoy und der Damenchor der Hamburgischen Staatsoper unter Eberhard Friedrich sind sowieso vorzüglich aufgelegt. Aber für dieses Solo muss auch das Orchester, also das Philharmonische Staatsorchester Hamburg, alle Sinne konzentrieren und mit höchster Konzentration die Sänger begleiten. Komisch-skurril ist das Stück mit seiner Mischung aus Gottesfurcht und komödiantischer Schelmerie ohnehin.
Tänzerisch ist das Solo von Alina Cojocaru als Engel dazu einfach eine köstliche Sensation.
Es ist die Rolle einer werdenden Frau, die zunächst noch so unbefangen und keck ist wie ein Kind. Cojocaru biegt und ziert sich, lockt und kokettiert ganz so, wie Kinder es tun, wenn sie in der Gesellschaft von Erwachsenen beste Laune haben. Da ist nichts Sperriges und nichts Anzügliches in ihrem Tanz – es ist die pure Unschuld, die reine Neugier, der absolute Spaß am Dasein. Zauberhaft wirkt das – und sprüht nur so vor quirligem Vergnügen.
Der Held, Edvin Revazov, hatte schon die Hoffnung aufgegeben, die große Liebe, als Inspiration und Sinn des Lebens überhaupt, noch zu finden.
Aber als Alina sich auf einem Bein, auf den Zehenspitzen kreiselnd, das Spielbein im Einwärts-Passé am Knie in der Hand haltend, ins Off bewegt, geht nicht nur etwas zu Ende. Es beginnt etwas Neues…
Der sechste Satz dann, den Neumeier wie Mahler „Was mir die Liebe erzählt“ nennen, schwelgt in der Utopie größtmöglicher positiver Emotionen.
Edvin Revazov liegt – hoffnungslos und beinahe tot – am Boden, als Alina Cojocaru ihren Arm nach oben ausstreckt, scheinbar Energie tankt und dann mit ihrer Hand die des Mannes berührt. Sie erweckt ihn damit sofort zum Leben.
Der große Pas de deux der beiden, am Boden beginnend, dann aufstrebend und sehr moderne, tollkühne Hebungen umfassend, ist ein Stück Tanzgeschichte für sich. Kaum ein anderer „Schritt zu zweit“ wurde von bedeutenden Folgechoreografen wie Christopher Wheeldon so oft zitiert.
Edvin Revazov und Alina Cojocaru tanzen ihn, als hätten sie ihn gerade erst kreiert; mit der nötigen Nonchalance und Ruhe – es handelt sich ja um ein Adagio – und auch mit der nötigen Tiefe und Innigkeit.
Doch die Liebe zwischen zwei Lebewesen währt nicht immer ewig.
Der Mann verliert die Frau, obwohl zunächst das gesamte Corps de ballet in weinroten Leotards den Liebestanz der beiden übernimmt und unterstützt.
Sie kommt ihm abhanden, die Liebe, die Frau, diese Einzige…
Langsam geht er nach hinten, als ginge er vor Trauer ins Licht.
Die Tänzerinnen und Tänzer des Ensembles lassen ihn allein. Es gibt keinen Kontakt mehr zwischen ihm und dem Rest der irdischen Welt.
Und er dreht sich nach vorn, beugt sich vornüber, biegt sich zur Seite, streckt seine Arme in eine weltberühmt gewordene Sehnsuchtspose… und seine Geliebte geht, wie ein Geist und ohne von ihm Kenntnis zu nehmen, vorn an ihm vorbei. Sie wurde unerreichbar, zugleich aber auch ein unsterbliches Ideal von Güte und Göttlichkeit, geboren aus der Einheit von Körper, Geist und Seele.
Dresden, Semperoper, Mai 1981. Eine Frau geht im Takt schwerer Paukenschläge an der Rampe von rechts nach links. Ganz langsam sind Takt und Tanz. Einfach und unverziert ist dieser letzte Gang in der „Dritten“ – aber in ihm kulminiert die gesamte sinfonische Schönheit des Abends.
Das Dresdner Publikum war ebenso ergriffen wie noch heute jedes Publikum der „Dritten“ ergriffen und beseelt ist. Der Applaus toste, und der aus dem Westen angereiste Choreograf John Neumeier, unprovokativ in einen Anzug mit Krawatte gewandet (obwohl er sonst offene Hemden oder solche mit Stehkragen bevorzugt), nahm mit dem Ballett der Hamburgischen Staatsoper – wie das Hamburg Ballett damals noch hieß – beim ersten Gastspiel in der DDR strahlenden Blicks die Ovationen und Blumen entgegen.
Noch heute schwärmen diejenigen, die dabei waren, von dieser kulturellen Berührung zwischen Ost und West.
Dieses Ballett ist aber auch in der Tat eine Erschütterung:
Zwei Stunden lang sucht ein Mann den Sinn des Lebens, probiert das Dasein in der Gruppe, als Solist, als Kämpfer, als Ergebener – und findet in einem engelsgleichen weiblichen Wesen die Liebe seines Lebens.
Doch der Tod kommt ihm dazwischen, vielleicht auch nur das Leben mit sienen Irrungen und Wirrungen – und zu spät besinnt er sich aufs Wesentliche.
Er verlor, was er am meisten liebte und wird sich für den Rest seines Daseins danach zurücksehnen. Und der Engel, der unbeirrbar die Rampe entlang geht, wird ein Symbol für Frieden und Liebe. Der Menschheitsträum – er erfüllt sich als Ideal. Dennoch sind die mächtigen, aufwühlend aggressiven Fanfaren aus dem ersten Satz in der Erinnerung noch präsent.
„Meine Träume sind Alpträume“, sagte John Neumeier damals im Kontext seiner Arbeit über den Komponisten Gustav Mahler, der von 1893 bis 1896 an seiner dritten Sinfonie schrieb. Das Zitat lässt tief blicken, bietet sich vor allem für die düster-dynamischen Teile des Stücks als Interpretationsschlüssel an. Es kommt eben nichts einfach so als Idee zum Künstler, zum Kreativen, herangeflogen. Alles ist harte Arbeit, zeugt von intensiver emotionaler und intellektueller Auseinandersetzung. Die Triebfeder ist der Abgrund, in den wir stets zu stürzen in Gefahr sind.
Alpträume sind aber nur auf Ballettbühnen von so großer Poesie und Ästhetik.
Gisela Sonnenburg