Verschmelzende Traumwelten Zum letzten Mal für unbestimmte Zeit tanzte das Hamburg Ballett – in üblicher Bestform – die „Illusionen – wie Schwanensee“ von John Neumeier

Madoka Sugai und Alexandr Trusch als Natalia und König, einmal gemeinsam träumend – in „Illusionen – wie Schwanensee“. Foto: Kiran West

Schwäne, Liebeszauber und Noblesse: Sogar das Opernhaus in Hamburg selbst mutierte am Freitagabend zum Teil des großen Ganzen. Schon der spezielle Vorhang für die Inszenierung „Illusionen – wie Schwanensee“ von John Neumeier zeigt vor Aufführungsbeginn eine Motivik, die dem zuarbeitet: Weiß auf Blau erblickt man eine Schar stilisierter Schwäne, die stolz um ein neckisches, güldenes Emblem, bestehend aus zwei Posaune blasenden Putti, herum schwimmt. Wenn sich der Vorhang hebt, rollt eine bildmächtige Geschichte ab, die all das Glück, aber auch all die Verzweiflung eines Königs, bishin zu seinem Sturz und sogar Tod, darstellt. Drei Stunden lang kann man sich in eine schier cineastisch gestaltete Welt hineinziehen lassen, die verschiedene Mythen und Traumwelten miteinander verschmilzt: zu einer gesellschaftskritischen Anti-Utopie. Was für eine fulminante Neudeutung des weltweit als Klassiker geliebten Balletts „Schwanensee“! Und dann tanzt das Hamburg Ballett auch noch derart engagiert und formvollendet, seelenvoll und charismatisch, dass man in den schönen Linien und Posen, in den hoch fliegenden Sprüngen und auch in den gezeigten Emotionen regelrecht vor Wonne badet.

Natalia will Trost spenden, aber der König kommt über bildschöne Hebungen nicht mit ihr hinaus… Madoka Sugai und Alexandr Trusch in „Illusionen – wie Schwanensee“ von John Neumeier. Foto: Kiran West

Alexandr Trusch als König, Madoka Sugai als seine Verlobte Natalia, Jacopo Bellussi als Mann im Schatten und Matias Oberlin als Graf Alexander mit Xue Lin als Prinzessin Claire machen zudem aus den ihnen zugeteilten Rollen wahrhaft lebendiges Personal, das facettenreich und psychologisch schlüssig zeigt, wie diese zu erzählende Geschichte vonstatten geht. Das vorzügliche Corps de ballet erfüllt dann die Schwanen-Tänze ganz in Weiß, und zwar in fluffig-fedrigen nagelneuen Tutus mit Straußenfeder-Armschmuck sowie mit Anna Laudere als brillanter Prinzessin Odette.

"Illusionen - wie Schwanensee" von John Neumeier 2024

Xue Lin als bezaubernde Prinzessin Claire mit Mathias Oberlin als ihrem Verlobten Graf Alexander. So sieht die naive, glückliche Verliebtheit aus: in „Illusionen – wie Schwanensee“. Foto vom Hamburg Ballett: Kiran West

Sie weiß von der klassisch-russischen Pantomime über die hehre Lew-Iwanow-Choreografie bis zu den modernisierenden Schritten alles zu leisten, was diese schwere Partie verlangt. Man kann und will gar nicht entscheiden, ob sie oder Madoka Sugai als Natalia die Königin des Abends ist. Sugai toppt ihre 32 Fouettés im Grand Pas de deux von Marius Petipa mit formvollendeten Ports de bras während der Pirouetten, indem sie die Arme nach oben aufsteigen lässt, als wäre sie eine antike Priesterin. Der Stil und der Geist von Maya Plisetzkaya erfüllen beide Damen beim Tanz wie eine Mission. Alexandr Trusch hingegen lässt die Erinnerung an Max Midinet, den ersten Neumeier’schen König hier, aufleben; mitreißend, virtuos und doch wie zum Anfassen nah erscheint seine Darstellung.

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Da ist zunächst die Rahmenhandlung, in der das Schicksal dieser Figur schon besiegelt ist. Der König oder vielmehr der ehemalige König ist bereits ein Gefangener des Staates, weggesperrt in einer Abstellkammer im Rohbau von Schloss Neuschwanstein. Was für ein Kindheitstrauma: in den Kohlenkeller, die Wäschekammer oder auch nur für einen Hausarrest eingesperrt zu sein.

Dass man hier angesichts eines Kunstwerks aber nicht jede Szene auf die historische Goldwaage legen darf, versteht sich von selbst: Es geht nicht um die Umsetzung einer wahren Geschichte nach Tagebüchern und Geschichtsbüchern, sondern um das Aufzeigen wahrhaftiger Vorgänge – und dafür eignet sich die Kulisse eines im Stück nie vollendeten Schlossgebäudes wie keine zweite, um das innere und äußere Drama von Ludwig II. von Bayern verständlich tanzbar zu machen.

Der König legt sein Kostüm ab. Er war auf einem Maskenball, er war als Schwanenritter Lohengrin gekleidet, als man ihn festnahm. Jetzt ist er ein Verstoßener, ein Degradierter. Ein einsamer Mensch. Ein rechtloser Mensch. Doch er spürt jemanden hinter sich – den Mann im Schatten. Ist er der Fantasie des Königs entsprungen? Oder verkörpert er eine dunkle Energie, die man mit „Tod“ übersetzen kann?

Nur die Gebetsbank, eine Schwanenritter-Statue und das Modell von Schloss Neuschwanstein geben dem machtlosen König jetzt noch Halt. Die Wirklichkeit (so sind die Szenen in der Abstellkammer, die zum Gefängnis wurde, von Neumeier betitelt) – sie ist wie der ärgste Alptraum für ihn.

John Neumeiers Version von Schwanensee ist ein Phänomen.

Der weiße Rausch: Als Ballett im Ballett tanzen die weißen Schanenmädchen auf, und der König in „Illusionen – wie Schwanensee“ macht eine existenzielle Erfahrung mit ihnen: Er wird zum Künstler. So war es auch schon zu sehen beim Bayerischen Staatsballett. Foto: Wilfried Hösl

Er erinnert sich an das Richtfest des Schlosses. Ein prächtiges Fest war das, freiluftig wurde getanzt und ausgelassen kommuniziert. Im Hintergrund bildet ein Gestänge das hölzerne Gerüst des Schlosses. Frauen in Dirndln, Kinder mit Blumendekor, Handwerker in Lederhosen und Trachten – und auch mal oben ohne unter den Hosenträgern – bieten Tanz vom Feinsten: einen Tanz, der Spiel, Spaß und Spannung vereint.

Und kein Narr bringt dem König Boxhandschuhe, sondern das ist tatsächlich ein selten beschriebenes, historisch überliefertes Detail: Ludwig II. ließ sich eine zeitlang vom aus England kommenden Boxkampf faszinieren. Hier im Ballett boxt er aus Spaß mit seinem Freund, dem jungen Grafen Alexander, der mit seiner Verliebtheit zu seiner Verlobten Claire stets ein Anblick der Freude für den leicht sentimentalen König ist.

Doch der Mann im Schatten – er taucht auch hier auf.

"Illusionen - wie Schwanensee" von John Neumeier 2024

Fantastisch bunte Szenen beleben das Richtfest in „Illusionen – wie Schwanensee“ von John Neumeier. Foto vom Hamburg Ballett: Kiran West

Zurück in seinem Kerker stolpert der ehemalige König über das Bühnenbildmodell zu „Schwanensee“. Statt einer Passion für die Opern von Richard Wagner, wie der historische Bayern-Ludwig sie hatte, hat dieser König hier eine Leidenschaft fürs Ballett „Schwanensee“ entwickelt – und er erinnert sich an eine Privatvorführung, in die er als einziger Zuschauer sogar selbst begeistert eingriff.

Dieser Anlass für den ersten so genannten weißen Akt am See ist raffiniert erfunden, es ist ein Kunstgriff, wie er typisch ist für die Dramaturgie von John Neumeier: eine Erinnerung, ein Gedanke, eine Assoziation leitet über in eine andere Welt.

Florian Pohl tanzt dann mit viel Geschick die leicht parodistisch gestaltete Neumeier’sche Siegfried-Figur, die sich in das Schwanenmädchen Odette verliebt. Auch Siegfried steht hier für die Verschmelzung verschiedener Mythen, die ins Werk eingeflochten sind. Tatsächlich erinnert er mit einer übertriebenen blonden Haartracht hier sowohl an den germanischen Sagenhelden Siegfried, auf den auch Richard Wagner sich in seiner Ring-Welt beruft, als auch an das mutmaßlich von Modest Tschaikowsky, den Bruder des Komponisten, zunächst als familiäres Kinder-Puppenspiel erfundene Libretto von „Schwanensee“. Der unzufriedene, ja unglückliche Prinz Siegfried trifft hier am nächtlichen See auf die zu Schwänen verzauberten Mädchen, die vom Zauberer Rotbart solchermaßen gefangen gehalten werden.

John Neumeiers Version von Schwanensee ist ein Phänomen.

Der Clown zeigt dem König sein Gesicht – später sogar ohne Maske. Es ist der Mann im Schatten! Hier getanzt von Carsten Jung vom Hamburg Ballett, auf der DVD „Illusionen – wie Schwanensee“. Videostill: Gisela Sonnenburg

Die acht rot-braun-grün gekleideten Jäger, die den melancholischen, zugleich verwöhnten Siegfried mit der Armbrust begleiten, dürfen teilweise mit jeweils zwei Schwäninnen schmusend posieren – das ist ein Anklang an historische Fotografien, der woanders kaum zu finden ist. Und dennoch ist er so stimmig: In dieser Aussöhnung von Jägern und Gejagten wird der Charakter der Versöhnung durch den Schwanenzauber noch betont. In Momenten wie diesen ist „Illusionen – wie Schwanensee“ tatsächlich eine Utopie.

Der Schwan symbolisiert gerade in der Opern- und Ballettwelt die Unschuld, die Reinheit, den Zauber des Guten.

Das weiße Ballett an sich, also der Tanz des weiß gekleideten und auch weiß geschminkten Corps de ballet, ist dann ein Augenschmaus für sich.

Dass die Tutus hier nicht aus Tüll, sondern aus Straußenfedern montiert sind, macht sie „realistisch“ für Schwanenkostüme. Zudem haben sie die historisch verbürgte Länge des Overknee. Das lässt die sanftmütigen Schwäne trotz ihres Sexappeals mit nackten Schultern auch ein Stück weit keusch erscheinen.

John Neumeier ließ im letzten Jahr neue Schwanentutus nach den vorhandenen Designs anfertigen – und die Mühe lohnte sich. Natürlich-weiß und natürlich-leicht wirkt dieses fedrige Outfit der jungen Damen.

Wenn sie dann entweder in Reihenformationen oder im Kreis, in Kleingruppen oder auch paarweise auftanzen, geht jeden Ballettomanen vor Zuneigung das Herz auf.

Die vier Kleinen Schwäne am letzten Freitag waren sogar die besten, die ich jemals gesehen habe: absolut präzise, aber nicht roboterhaft, was in dieser Nummer eben die Schwierigkeit ist. Olivia Betteridge (die auch einen vorzüglich flatterhaften Schmetterling in der Szene „Maskenball“ tanzt), Lormaigne Bockmühl, Greta Jörgens und die kürzlich mit dem Förderpreis des Hauses, dem Dr.-Wilhelm-Oberdörfer-Preis gekürte Ana Torrequebrada erreichen unbestreitbar höchstes Niveau mit ihrer Darbietung, in der jede Kopfbewegung und jeder Blick, jede Arm-, Bein- und Fußbewegung und jeder Abstand zwischen ihnen sowieso stimmen. Sehr elegant und doch niedlich im Ausdruck. Bravi!

Dagegen haben es die beiden Großen Schwäne Charlotte Larzelere und Yun-Su Park (es gibt bei Neumeier nur zwei statt der üblichen vier) direkt schwer, aber auch sie wissen, wie es ist, mit Geschmeidigkeit und Musikalität die hoch geworfenen Beine zur Kunst zu machen.

Hier auf dem Foto tanzen Patricia Friza und Yun-Su Park als Große Schwäne in „illusionen – wie Schwanensee“ von John Neumeier. Foto: Kiran West

Dass die Schwanenprinzessin Odette hier zunächst als Menschenkind zu sehen ist, das vom Zauberer Rotbart mit seinem flügelähnlichen Vorhang entführt wird, ist ein Hinweis auf die Version von Vladimir Burmeister von 1953, die auch beim Ballett der Mailänder Scala im Repertoire ist.

Burmeisters Version hat allerdings ein Happy Ending – und Tschaikowsky hat das Meisterstück fertig gebracht, seinen „Schwanensee“ so pathetisch-überhöht enden zu lassen, dass dazu sowohl das höchste szenische Glück als auch der tragischste Bühnentod möglich sind. Darin hat er Richard Wagner, der durchaus als Tschaikowskys Vorbild zu bezeichnen ist, noch überflügelt.

Vor allem aber sehen wir bei Neumeier aber auch viel vom Original von 1895, das Marius Petipain den bunten und Lew Iwanow in den weißen Akten choreografiert haben. Die Figur des Prinzen Siegfried, der dort am Hof nicht seinen inneren Frieden und erst bei den Schwänen seine wahre Liebe finden kann, ist bei Neumeier indes aufgelöst und modifiziert: Sie ist zum König einerseits geworden und zum Theater-im-Theater-Siegfried andererseits, der mit übertrieben blondiert-toupierter Tarzan-Tolle aussieht wie ein Held aus einem Comic oder einem Movie.

Zentral steht im Ballett die Figur des Königs, der von schwarz gekleideten so genannten „Staatsbeamten“, also dubios agierenden Tätern aus dem staatlichen System, argwöhnisch beäugt und schließlich ihr Opfer wird.

Nach allem, was man heute weiß, war Ludwig II. tatsächlich nicht verrückt. Er hatte, seinen Beratern folgend, zwar die politische Unabhängigkeit Bayerns geopfert, aber gerade das war im historischen Kontext ein Beweis für seine Befähigung zur pragmatischen Politik. Es war auch nicht seine Idee, so zu agieren, sondern seine damals mit ihm noch loyalen Berater stimmten für diese Annäherung und Eingliederung ins Deutsche Reich.

"illusionen - wie Schwanensee" von John Neumeier

Auch diese Besetzung gab es schon zu sehen: Edvin Revazov als König und Christopher Evans als Graf Alexander an seiner Brust: Der König wird festgesetzt, entmachtet, entmündigt. Wie einst Ludwig II. von Bayern. Foto: Kiran West / Hamburg Ballett

Später wollte man Ludwig II. loswerden, aber das war den Machtinteressen einiger eher uninteressanter historischer Figuren geschuldet, die ein Komplott nach dem anderen gegen den „Kini“ schmiedeten. So hätten die teuren Schlossbauten, die Ludwig II. immer wieder vorgeworfen wurden, Bayern nicht ruinieren müssen, sondern sie hätten von einer willigen Privatbank finanziert werden können, wenn nicht einige Minister und Beamte aus dem Umfeld des Königs dieses zielgerichtet verhindert hätten. Darüber gibt es Unterlagen, deren Auswertungen heute keine anderen Behauptungen zulassen.

Dass der „Kini“, beim Volk damals wie heute ungebrochen beliebt, heimlich homosexuell war und dieses in von Untergebenen organisierten Orgien auch drastisch auslebte, gefährdete seine Regentschaft nicht. Die Bande des Schweigens waren damals so stark, dass kein Whistleblower, der von diesen Parties mit hübschen Bauernburschen etwas erzählt hätte, damit auch nur ansatzweise durchgekommen wäre. Man hätte den Zeugen selbst angeklagt, nicht den König – so stark war Schwulsein damals tabuisiert.

Die heterosexuellen Capricen von Ludwig I. von Bayern, der wegen seiner Affaire mit der Tänzerin Lola Montez abtreten und den Thron abgeben musste, waren weitaus riskanter für den damaligen Königsjob. Wie Ludwig II. war sein Vorgänger übrigens ein großer Freund der Künste und hat, so mit dem Bau und der Bestückung von Museen wie der Glyptothek, dadurch Bayern größte Dienste geleistet.

Die abgöttische und wohl nicht nur platonische Liebe, die Ludwig II. zum Komponisten Richard Wagner empfand, blieb indes mehr oder weniger unerwidert. Wagner schätzte an Ludwig II. vor allem dessen Geld. Und so kostete Wagner, den Ludwig in weiten Teilen finanzierte, die Bayern schon ein Vermögen. Nur hat sich das – wie auch die Schlossbauten von Herrenchiemsee, Linderhof und Neuschwanstein (das zu Lebzeiten von Ludwig II. noch „Neue Burg Hohenschwangau“ hieß) – noch Jahrhunderte später ausgezahlt.

Rückblickend sind nicht nur die Bajuwaren Ludwig II. für die Ermöglichung zahlreicher Wagner-Opern und natürlich auch für den Bau seiner drei „Märchenschlösser“ dankbar. Dass der König nervös wurde, als er bemerkte, dass die Widerstände gegen ihn wuchsen, man ihn anlog und nicht mehr mit ihm, sondern gegen ihn kooperierte, war der Situation geschuldet. Warum also sollte Ludwig verrückt im Sinne einer schizophrenen Psychose gewesen sein?

Madoka Sugai und Alexandr Trusch in der Schlusspose des Grand pas de deux in „Illusionen – wie Schwanensee“, den sie mit so viel Grandezza tanzen, dass es einem ganz warm ums Herz wird. Foto: Kiran West

Es ist nicht belegt, dass der „Kini“ Stimmen hörte, wirres Zeug redete oder andere ernsthafte psychopathologische Krankheitssymptome aufwies. Er litt allerdings unter depressiven Verstimmungen, und er bevorzugte es, vermutlich in diesem Zusammenhang, nachts wach zu sein und tagsüber viel zu schlafen. Er aß übrigens auch ungezügelt, ungesund und viel zuviel. Und er war sicher auch kein begeisterter Realpolitiker, zumal er das Alltägliche und „Gewöhnliche“  verabscheute. Aber mental krank im Sinne einer manifesten Psychose war er nicht. Auch die „Ärzte Zeitung“ kam schon zu diesem Schluss.

Verrückt war Ludwig II. wohl also wirklich nicht, nur halt schwul, was er nach außen verheimlichen musste – und er war, mit seiner außergewöhnlichen Lebensführung und seinen visionären Prioritäten „a wegen spinnert“, wie das einfache fränkische Gemüt vielleicht befinden würde.

Sein heute längst als erlesen anerkannter Geschmack galt damals manchen als überkandidelt, und seine körperlichen Krankheiten wie schmerzhafte Zahnfäule und auch Symptome wie Wassereinlagerungen, die womöglich von einer Nierenkrankheit rührten, wurden indes zu wenig als Problemquellen wahr genommen.

Zahllose Psychofachleute arbeiten sich nach wie vor an seinem Gesundheitszustand ab. Die Beweislage ist allerdings mager. Paranoia und Geistesschwäche wurden ihm lediglich von denen angedichtet, die Ludwig II. entmachten wollten.

Der König – Alexandr Trusch – und Prinzessin Natalia – Madoka Sugai – auf dem Richtfest in „Illusionen – wie Schwanensee“ von John Neumeier. Foto: Kiran West

Man fand, bald nach seiner Festsetzung, die Leichen von Ludwig II. und von jenem Arzt, der ihn für verrückt erklärt hatte und der ihn persönlich bewachte, im Starnberger See. Ob der König ermordet werden sollte, damit nicht rauskam, dass er nicht verrückt war, oder ob er, entweder um zu fliehen oder auch nur, um auch sich selbst umbringen zu können, den Arzt ertränkt hat, wird man wohl nie erfahren.

Bei John Neumeier gibt es keinen solchen Arzt auf der Bühne, nicht in diesem Stück. Aber es gibt den Mann im Schatten, und dieser bildet zunehmend das Pendant und den eigentlichen Gegner des Königs. Als Bühnenfigur könnte es sich um die Personifikation einer Wahnvorstellung des Königs handeln. Oder auch um den Tod in Person. Oder um eine Zwischenform, um einen fleischgewordenen Mythos.

Geist oder nicht Geist – der Mann im Schatten holt den König letztlich in den Tod. In einem atemberaubenden letzten großen Pas de deux, der erst Freundschaft, dann missglückte Flucht, schließlich ein Kampftanz ist, macht der schwarz Gekleidete den weiß leuchtenden König fertig. Er rollt ihn am Boden, er wirbelt ihn durch die Luft, er hebt ihn schließlich senkrecht, ein Bein des Königs steht dabei steil hoch, der Kopf hingegen hängt, schon leblos.

Da teilt sich der Bühnenhimmel und ein bodenfüllendes blaues Seidentuch als Symbol für den See fällt herab, auf die beiden Männer, die wie eine Skulptur, wie ein Mahnmal wirken. Der König kämpft ein letztes Mal um sein Leben, unter dem Tuch, unter den Wellen – und verliert.

Schließlich packt ihn Meister Tod, präsentiert ihn wie eine Trophäe, hält den entseelten Körper im Arm, fast fürsorglich. Die pompöse Musik unterstützt auch dieses Ende von „Schwanensee“ – und ich kann versichern, dass auch, wenn man diese Inszenierung schon Dutzende Male gesehen hat, man immer noch Neues, neue Details und neue Bezüge, an ihr entdecken kann.

Alexandr Trusch und David Rodriguez sind hier am Ende von „Illusionen – wie Schwanensee“ von John Neumeier: perfekte Linien, Tragik vom Feinsten. Foto: Kiran West

Zurück zum Anfang: Der König, so mitreißend wie faszinierend, auch mystisch getanzt von Alexandr Trusch, flippt in Neumeiers Ballett manchmal aus, wird nervös und unbeherrscht, und zwar, wenn er sich bedroht sieht. Er spürt, dass die Staatsbeamten, die sich mit ihren schwarzen Zylinderhüten auf den Köpfen zu einer Clique zusammen schließen, sich gegen ihn verschwören. Er spürt ihre feindliche Gesinnung, die negative Energie gegen ihn. Das verunsichert ihn, trifft auf seine Depression. Sein Unglück bricht dann und wann unkontrolliert aus ihm heraus, und auch seine ungeliebte Verlobte Natalia bekommt das zu spüren.

Mit ihr ergibt sich nach seiner Festsetzung während des Maskenballs dennoch ein großer – moderner – Pas de deux, der zu den bedeutendsten der Ballettgeschichte gehören mag. Natalia versucht hierin ein letztes Mal, im intimen Rahmen eine Verbindung zu ihrem Verlobten aufzubauen.

Er weiß schon, dass sie sich sehr um ihn bemüht, dass sie ihn verstehen will. Aber er weiß auch, dass er diese Bestrebungen weder erwidern kann noch will. Dennoch ist sie ihm nahe, gerade in dieser für ihn grauenhaften Situation.

Hin und her geht es mit den beiden, es gibt Momente des tiefen Verstehens und des Paartanzes, aber auch Momente abgrundtiefer Entfremdung.

Ein letztes Mal dreht Natalia sich zu ihm um, zu ihm, der schon wieder ins verzweifelte  Gebet versunken ist. Und sie trippelt auf ihn zu, um ihm die Hand zu reichen. Doch er verweigert sich ihr, er kann ihre Hilfe nicht annehmen, und traurig verlässt sie ihn.

Von diesem und auch den klassisch geprägten Auftritten bei den Festen abgesehen, agiert der König in diesem Stück vor allem mimisch-schauspielerisch.

Sein eigener solistischer Tanz bildet dabei aber eine Vollkommenheit, die mit anderen Balletten schwer zu vergleichen ist. Viele Soli dieses Königs sind kurz, doch ihre gedrehten Attitüden und gleitenden Schritte drücken so viel von all den Missverständnissen aus, denen dieser Mensch ausgesetzt war, dass sie einen zu Tränen rühren können.

Alexandr Trusch als König in „Illusionen – wie Schwanensee“ von John Neumeier: ein Zerrissener, ein Leidender, ein Kämpfender. Foto vom Hamburg Ballett: Kiran West

Mitunter nimmt man deutlich den Einfluss von Maurice Béjart auf den jungen Neumeier wahr, an anderen Stellen des Balletts wird die intensive Auseinandersetzung Neumeiers mit den historischen Überlieferungen des Balletts „Schwanensee“ deutlich. Auch in der Petipa-Fassung von 1895 hat die männliche Hauptperson viel zu schauspielern, nicht nur zu tanzen.

Mit den Turbulenzen der Fest- und Massenszenen, beim Richtfest und später beim Maskenball, werden die Traditionen des Balletts aufgegriffen. Aber sie finden ihren nachgerade harten, moderneren Kontrast in den „Die Wirklichkeit“ überschriebenen Kerkerszenen des Königs. Dabei wurde das Zimmer seines Arrests zum Kerker, in seinem eigenen Schloss. Karg und isoliert, traurig und auch mal ganz ohne Musik – wie zu Beginn – findet sich hier ein Mann, der ganz auf sich selbst zurückgeworfen wurde: wie ein Tier, das kurz vor seiner Tötung noch die Zeit hat, seinem eigentlichen Leben nachzutrauern.

"Illusionen - wie Schwanensee" von John Neumeier 2024

Der Mann im Schatten zeigt seine Stärke – und der deprimierte König gibt sich hin. Szene mit Jacopo Bellussi und Alexandr Trusch in „Illusionen – wie Schwanensee“ von John Neumeier. Foto vom Hamburg Ballett: Kiran West

Rotbart, der böse Zauberer, der im Ur-„Schwanensee“ von 1877 sowie in der Petipa-Iwanow-Version die Macht hat, jedes Glück zu zerstören, wird bei Neumeier vom selben Tänzer verkörpert, der auch den Mann im Schatten gibt. Jacopo Bellussi steigt hier in die Fußspuren von Ivan Liska, der in den 70er- und 80er-Jahren mit vielen Königsbesetzungen den unverrückbar souveränen Meister des Todes und der seelischen Gefangenschaft tanzte.

Aber der Mann im Schatten hat noch eine dritte und sogar vierte Rolle an diesem Abend: Den Schmetterlingsjäger, der in einer modernen Anlehnung an das historische Gala-Stück „Le Papillon“ auf dem Maskenball mit dem Fangnetz einer weiblichen Schmetterlingsballerina nachjagt, wiewohl er sonst als schwarz gekleideter Anführer einer weiß gewandeten Gruppe Clowns jede Menge Schabernack treibt.

Als Domino hat er was Diabolisches. Als Mann im Schatten jedoch ist ganz er selbst, mit kühler Distanziertheit: als unverrückbarer Grenzgänger zwischen Leben und Jenseits.

Der Mann im Schatten ist eine grandiose Erfindung von John Neumeier. Aber die Idee, Ludwig II.mit ins Spiel zu bringen, hatte ein anderer, was Neumeier selbst auch so im Programmheft beschreibt.

"Mayerling" in neuem Gewand

20 Minuten Applaus am 18. Mai 2019 nach „Mayerling“ von Kenneth MacMillan beim Stuttgarter Ballett: erstmals im neuen Gewand von Jürgen Rose, der hier mit weißer Haarkrone vorn mittig steht. Applaus-Foto: Gisela Sonnenburg

Jürgen Rose, der unangefochtene Großmeister der klassisch-romantischen Ballettausstattungen, hatte als Erster den Gedanken, „Schwanensee“ in die schwanenmythensatte Atmosphäre Ludwig II. von Bayern zu verlegen. Und Neumeier griff diese Fantasie begierig auf.

Wie gut, dass der Stuttgarter „Ballettvater“ John Cranko (der 1973 verstorben war) nicht erkannt hatte, wieviel Potenzial darin steckt! Denn Rose hatte ihm zuerst berichtet, wie sehr ihn das Ballett „Schwanensee“ mit seinen tragisch  verzauberten Mischwesen an die Leidenschaften und Konflikte von Ludwig II.  und auch von Peter I. Tschaikowsky, dem ebenfalls homosexuellen Komponisten von „Schwanensee“, erinnerten.

Bei John Neumeier zündete diese Idee sofort: Er und Rose, ohnehin beide schwul, erlebten ja damals, Mitte der 70er-Jahre, ebenfalls, wie es war, als Mann die Liebe zu anderen Männern mehr oder weniger verschweigen zu müssen.

Aber sie wussten beide auch schon damals, wie wichtig es war, an seinen Träumen festzuhalten. Heute ist Neumeier mit einem Mann (dem Herzchirurgen Hermann Reichenspurner) verheiratet, und die Kämpfe für die Emanzipation der queeren Menschen können gute Erfolge verbuchen.

Träume – sie sind soviel mehr als Schäume! Wenn man etwas unbedingt haben will und es nicht haben kann, dann fängt man an zu träumen. Man fängt aber auch an zu träumen, bevor man einen Plan macht, unabhängig davon, ob man den dann umsetzen kann. Und man träumt auch dann von etwas, wenn man dieses tatsächlich bekommen wird oder es realisieren kann. Irgendwie ist der Mensch also immer ein Träumer.

„Träumer“ hieß übrigens auch mal ein Ballettabend von John Neumeier, der seine moderne Version von „Don Quixote“ und seine „Josephs Legende“ vereinte. Im Sommer 1979 war die Premiere dessen. Traum, Vision, Wahn, Liebe, Begierde und Erlösung gingen hierin eine Allianz ein. Ein ähnliches emotionales Gemisch, wie es auch in „Schwanensee“ seinen Ausdruck findet.

Max Midinet tanzte den Don Q: mit ausgestreckt erigiertem Zeigefinger und auf seinem Sancho (bei Neumeier ohne Pansa), der von Roy Wierzbicki getanzt wurde, wie auf einem Nutztier reitend. Das war drei Jahre nach Midinets Triumph in der Neuerfindung des Klassikers „Schwanensee“ durch Neumeier: Dessen „Illusionen – wie Schwanensee“ von 1976 bilden das Psychodrama eines Mannes, der Ludwig II. von Bayern zum Verwechseln ähnlich sieht, ohne das dessen Name im Libretto genannt worden wäre.

John Neumeiers Version von Schwanensee ist ein Phänomen.

Das Jahrbuch zu den 5. Hamburger Ballett-Tagen 1979 zeigt diverse Aufnahmen aus „Illusionen – wie Schwanensee“ des Fotografen Gert von Bassewitz. Darunter, rechts unten, Ivan Liska und Max Midinet in der Schlüsselszene des Stücks am Ende. Faksimile: Gisela Sonnenburg

Ein Essay des Literaturwissenschaftlers Hans Mayer im ersten Programmheft der Hamburgischen Staatsoper zu „Illusionen – wie Schwanensee“, der seinem legendären Buch „Außenseiter“ von 1975 entnommen ist, zeigt allerdings deutlich die Parallelen zwischen Ludwig II. und Peter I. Tschaikowsky auf – und weist auch auf ihrer beiden Homosexualität hin.

Ob der Suizid Tschaikowskys, der an seelischer Erschöpfung und an der pathologischen Angst litt, seinen eigenen künstlerisch-schöpferischen Ansprüchen nicht mehr genügen zu können, und der Tod Ludwigs II. auf einen Nenner zu bringen sind, sei allerdings dahin gestellt.

Hier geht es um etwas anderes:

Die Verquickung der Traumwelten, die sich um Schwäne und Schwanenritter, um Zauberer und Märchenschlösser, um Homosexualität und ihr Verbot in einer heteropatriarchalen Gesellschaft sowie um zutiefst menschliche Verwicklungen ranken, führt in „Illusionen – wie Schwanensee“ zu einem vielschichtigen, dennoch plastisch genau fasslichen Szenenablauf.

Es geht dabei nicht um die Identifizierung zweier Individuen als vollkommen gleich. Es geht auch um die Unterschiede zwischen ihnen.

Dass ein Handlungsballett sowohl illustrierte Kulturgeschichte als auch mitreißendes Geschichtenszenario als auch Psychodrama als auch läuternde Anti-Utopie sein kann, beweist John Neumeier mit dieser seiner Klassikerversion.

Es handelt sich um ein rundum genial gemachtes Werk, und Neumeier und Jürgen Rose übertreffen sich geradezu selbst mit dem Ideenpool und mit den Idealen, die sie hierin vorstellen.

Alexandr Trusch als König in „Illusionen – wie Schwanensee“ umarmt das Baumodell fürs Schloss – als sei es die oder der Geliebte… Foto: Kiran West

Es dirigierte empathisch und hingebungsvoll die ohnehin überwältigend expressive Musik von Tschaikowsky: Nathan Brock das Philharmonische Staatsorchester Hamburg. An der mal schluchzenden, mal jubelnden Solo-Violine: Daniel Cho.

Im ausverkauften Haus gab es Standing Ovations und eine Begeisterung, als wäre es eine Premiere gewesen. Aber es war eine Dernière: Wann das tolle Stück wieder auf den Spielplan vom Hamburg Ballett rutscht, steht derzeit nicht fest. Als Trost mag die DVD (BluRay), die auf dem Markt ist, helfen.
Gisela Sonnenburg

www.hamburgballett.de

"illusionen - wie Schwanensee" von John Neumeier

Anna Laudere als Odette in der Originalchoreographie von Lew Iwanow in John Neumeiers „Illusionen – wie Schwanensee“: graziös und von beseelter Melancholie. Foto: Kiran West

 

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