Die Tänze des Glücks Das Semperoper Ballett brilliert mit US-amerikanischen „Classics“ von George Balanchine, Justin Peck und Twyla Tharp

Classics by Balanchine / Peck / Tharp

Junge Frauen in hellblauen, wadenlangen Tutus, oftmals synchron und manchmal sehr individuell: „Serenade“ von George Balanchine ist auch beim Semperoper Ballett ein frenetisch gefeiertes Fest der Schönheit und des Esprit. Foto: Jubel Battisti

Ah! Oh! Wow! Drei Stücke, drei Stimmungen aus den USA illustrieren in der Dresdner Semperoper seit gestern die jüngere amerikanische Ballettgeschichte – und bilden beziehungsreich eine gelungene Mischung, beginnend mit einem der schönsten modernen Klassiker des sinfonischen Tanzes. Zarte Musik spielt auf, von der hervorragenden Sächsischen Staatskapelle Dresden unter Tom Seligman kommend – man schmilzt dahin. Peter I. Tschaikowsky komponierte die „Serenade für Streicher in C-Dur“ in einer Art innerer Getriebenheit nach Harmonie. Seiner Mäzenin Nadeshda von Meck berichtete er 1881, als er mit den Entwürfen dafür beschäftigt war, dass er sich schwach und sogar krank fühlte, wenn er nicht daran arbeitete, dass er aber gestärkt und zufrieden aus der Kompositionsarbeit hervor ging. Tatsächlich weist das Werk eine starke Kohärenz der vier Sätze auf, sie vereinen hehren Romantizismus mit Mozartianischer Freude an Melodik. Wenn beim Semperoper Ballett in Dresden jetzt der Vorhang für die „Classics by Balanchine / Peck/ Tharp“ hoch geht, hat man den ersten Melodiebogen wie eine kurze Ouvertüre vernommen – und genießt den festlichen Anblick von 17 in zwei Romben aufgeteilten jungen Damen in hellem Blau. Die Tänze des Glücks, die das Programm bedeutet, haben mit viel Poesie ihren Ausgangspunkt.

Die Tänzerinnen stehen ruhig da, den rechten Arm schräg seitlich hoch ausgestreckt, das Handgelenk aufgestellt haltend. Wie Feen, Wilis oder Sylphiden tragen sie lange, mehrlagig herabfallende Tutus – allerdings in hellem Puderblau statt in Weiß – und sie wirken, als hätten sie soeben traumwandlerisch einen surrealen Gruß an Außerirdische abgesetzt.

Oder als wollten sie Unheil abwehren. Eine schöne, aber rätselhafte Pose ist ihre Handhaltung, die dadurch, dass sie von vornehmen Frauen im Corps ausgeführt wird, auch etwas Geisterhaftes hat.

Langsam führen die Frauen die Hand zum Kopf, legen den Unterarm über die Stirn und beginnen so, wie in Hypnose, ihren sanftmütigen, auch eigenartigen Reigentanz.

Classics by Balanchine / Peck / Tharp

Das Semperoper Ballett im Trailer zu „Classics by Balanchine / Peck / Tharp“ mit der Eingangspose auf der Probe. Der Untertitel übersetzt Coach Nanette Glushak: Für sie ist es harte Arbeit, die Girls auf eine Linie zu bringen. Videostill: Gisela Sonnenburg

Das Semperoper Ballett, gerade auch sein vorzüglich trainiertes Damen-Corps, ist den technischen und auch den ätherisch-ausdrucksvollen Ansprüchen dieses Stücks zweifellos mehr als gewachsen – und bietet „Serenade“ mit hervorragenden Interpretationen an.

Mal sind es Damen als weibliche Heerschar, die mit eifriger Miene in die Gassen läuft, mal ist es eine Gruppe von fünf eleganten Mädchen, die frohgemut und wie eine Schar Luftgeister zu den Rhythmen der Musik springt und Formationen bildet.

Auch für Soli ist Raum, mit ausladenden Sprung-Dreh-Kombinationen. Hui, wie die Rocklagen dabei fliegen!

Zu zweit jagen sich solche Elfen über die Bühne, bis ihre anderen Gefährtinnen wieder da sind und sie alle im Stehen, Sitzen, Liegen kleine Gruppenposen bilden. Es ist ein Triumph der weiblichen Anmut, wenn sie dann im großen Kreis leichthin und synchron ihre Pirouettes piqués absolvieren.

Weil sich dann musikalisch das Eingangsmotiv wiederholt, stehen die 17 Mädchen erneut in der Pose mit dem wie in Trance erhobenen Arm, wobei ein Girl zu spät kommt und sich selbstbewusst ganz vorn einreiht.

Weiter hinten betritt, gemessen schreitend, ein junger Mann die Szenerie – auch er mit somnambulen Ausdruck, fast wie schlafwandelnd. Endlich ein männlicher Tänzer! Und mit sicherem Instinkt findet er seine Partnerin, nämlich das zu spät gekommene Mädchen.

Der nächste Tanz gehört ganz den beiden, mit einem Pas de deux, der an Raffinesse und Referenz, Hebungen und Haltung nichts zu wünschen übrig lässt. Was für ein Fest des erhabenen Frohsinns!

Classics by Balanchine / Peck / Tharp

„Serenade“ von George Balanchine steht für Poesie, kombiniert mit skurril-somnambulen Details und ästhetischem Ausdruck. Foto vom Semperoper Ballett: Jubal Battisti

Die Delikatheit, die Balanchine-Ballette ausmacht, entsteht hier in jedem Bild, in jeder Szene neu.

1934, als George Balanchine sein kongeniales Stück choreografierte, erschien mit „Ein Freiflug im Jahre 2222“ von Hans Dominik in Deutschland übrigens  ein früher, putziger Sci-Fi-Roman. Darin wird die Umrundung des Mondes mit einem Raumschiff aus der Sicht eines Kindes beschrieben.

Es ist nicht überliefert, ob Balanchine davon wusste, aber dazu, wie er seine Choreografie zur „Serenade“ stellte, gibt es von ihm selbst genaue Aufzeichnungen. Im Programmheft in Dresden sind sie zwar nicht enthalten, aber ich kann sie zitieren:

„Bald nach meiner Ankunft in Amerika (aus Paris kommend, Anm.) eröffneten Lincoln Kirstein, Edward M. M. Warburg und ich die School of American Ballet in New York. Um den Studenten eine Vorstellung vom Unterschied zwischen Bühnentanz und Training zu geben, ergänzte ich den Lehrplan um einen Abendkursus in Bühnentechnik. ‘Serenade‘ entstand in diesen Unterrichtsstunden.“

Und weiter: „Mir schien, der beste Weg, Studenten die Bühnentechnik zu vermitteln, sei, ihnen etwas Neues zum Tanzen zu bieten, etwas, das sie vorher nie gesehen hatten.“

Und: „Ich wählte Tschaikowskys ‚Serenade‘. Zur ersten Übungsstunde kamen ausschließlich Mädchen, und zwar siebzehn.“

Was aus dieser „Übung“ wurde, ist bekannt: eines der bedeutendsten Ballette des 20. Jahrhunderts. Ein Fest der Schönheit und des Esprit.

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Francesca Cesaro und Vaclav Lamparter zeigen hier die Eleganz von „Serenade“, dem frühen Meisterwerk von George Balanchine, beim Semperoper Ballett. Foto: Jubal Battisti

Sowohl Balanchine selbst als auch einigen anderen war denn auch bald klar, dass man dieses Juwel an neoklassischer Tanzkunst nicht einfach ad acta legen sollte. Schon 1935 erlebte es seine Profi-Premiere in New York.

Dass Balanchine kleine „Unfälle“, die bei den Proben passierten, mit in die Choreo einbaute, macht sie so originell. Das Mädchen, das zu spät kommt, basiert auf so einem Ereignis, und auch die junge Frau, die hinfällt und weinend liegen bleibt, ist keine pure Erfindung des Choreografen.

Die akkuraten geometrischen Posen, die zwei, drei, vier oder auch fünf Körperkünstler hier bilden, sind allerdings Präzisionsarbeit, die immer wieder fasziniert.

Serenade“ vollzieht darum einen Siegeszug durch die Ballettwelt, und da  rätselhaft-mystische, auch humoristische Passagen eingeflochten sind, wird es nie langweilig, das Stück mehrfach anzuschauen.

Weil nun die Damen in einem blau ausgeleuchteten, angenehm abstrakten Welt-Raum auftanzen, in dem lediglich die Gefühle eine große Rolle zu spielen scheinen, erhebt sich die Frage: Ist dies das Paradies?

Oder handelt es sich am Ende um ein verkapptes Sci-Fi-Ballett, ähnlich den „Variations of Four“, die Anton Dolin (auch ein Exil-Russe) 1957 kreierte?

Die graziösen Tänzerinnen und Tänzer – am Ende sind es vier Jungs, die um die Gunst der Damen buhlen – zelebrieren nämlich keck und gar nicht ausschließlich klassisch orientiert ein Spiel aus Ordnung und Unordnung.

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Nicht ohne zur schwerblütigen Musik von Tschaikowsky auch mal einen optischen Kontrapunkt zu bilden. Die Wehmut und die Sehnsucht bilden dennoch die Grundgefühle des Stücks: für ein unzerreißbares Band zwischen Musik und Tanz.

Serenade“ zeigt musterhaft die schlüssige Auflösung von Musik in Ballett.

Viel zu wenig beachtet wird derweil, dass Balanchine den dritten und den vierten Satz der Serenadevon Tschaikowsky schlicht vertauschte: um statt des Anklangs an ein Rondo einen eher wehmütigen, offen wirkenden Schluss zu erhalten.

Der eigentliche vierte Satz, „Finale (Tema russo)“ genannt, wiederholt das Eingangsmotiv, während diese Reprise nun als dritter Satz gespielt wird, damit am Ende mit dem Satz „Élégie“ die gewünschte melancholische Stimmung transportiert wird.

In Dresden wagt man es nun, zwei der Tänzerinnen, darunter die malerisch zu Boden Gefallene, mit offenen Haaren – im Gegensatz zur klassischen Duttfrisur der übrigen – tanzen zu lassen. Das ist neu und verleiht dem Tanz etwas Sommerlich-Lässiges.

Autorisiert ist die Einstudierung mit den Kostümen nach den Original-Entwürfen von Balanchines Lieblingsdesignerin Karinska, die sie allerdings erst 1952 kreieren konnte, durch Nanette Glushak. Sie begann 1968 ihre Tanzkarriere und überwacht, nachdem sie selbst in Balanchine-Balletten aufgetreten war, seit 1987 die Einstudierung von Balanchine-Stücken vor allem in europäischen Ensembles.

In einem Trailer vom Semperoper Ballett erzählt Glushak, was George Balanchine bei den Proben sagte:

„Ihr müsst euch den Raum einverleiben.“

Im amerikanischen Original heißt es: „You must eat space.“

Und, so Nanette Glushak:

„Er wollte, dass die Tänzerinnen größer, raumgreifender und schneller tanzen.“

Die offenen langen Haare von zwei Tänzerinnen sind allerdings historisch nicht wirklich authentisch, wenn man sich an der Uraufführung und an der Mehrheit der Einstudierungen orientiert.

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Langsam legen sie den Arm über die Stirn, ganz so, als schützten sie sich oder als wollten sie in Ruhe etwas bedenken: Die Damen vom Corps de ballet des Semperoper Balletts in „Serenade“ von Balanchine. Foto: Jubal Battisti

Manche kenntnisreichen Zuschauer mögen sich an den Weißen Pas de deux aus „Die Kameliendame“ von John Neumeier erinnert fühlen, den die Titelballerina ebenfalls mit offenem Haar tanzt. Andere denken an die Wahnsinnsszene von „Giselle“, in welcher sich ihr Haar dramatisch aus der Frisur löst und dann ebenfalls offen herumgeschleudert wird.

Der Begriff der Werktreue kann anhand eines solchen kleinen Details neu diskutiert werden, und man kann auch darüber streiten, ob die offenen Haare in „Serenade“ der Sache dienlich oder eher abträglich sind.

Den Eindruck eines traumverlorenen Schlafzimmer-Balletts verstärken sie in jedem Fall. Und das hat, wie man ganz am Ende des dreiteiligen Ballettabends in Dresden bemerkt, auch seinen Sinn hier.

Zunächst aber geht es weiter zum Mittelstück des Abends, einem wirklich anregenden neuen Stück, das nur wenige Jahre jung ist. In Dresden ist die europäische Uraufführung zu sehen.

Zitate aus „Serenade“, aber auch aus anderen Balanchine-Stücken finden sich zudem ebenfalls in diesem zweiten, absolut fetzigen Einakter. „Rodeo: Four Dance Episodes“ („Rodeo: Vier Tanzepisoen“) nach der gleichnamigen Musik von Aaron Copland, wurde 2015 von dem erst 1987 geborenen Justin Peck choreografiert.

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Junge Männer betreiben Sport und üben solchermaßen fürs wahre Leben – auf eine tänzerische und symbolträchtige Weise. So zeigt das Semperoper Ballett „Rodeo: Four Dance Episode“ von Justin Peck. Foto: Jubal Battisti

Peck begann erst mit 13 Jahren, Ballett zu tanzen, wurde aber schon zwei Jahre später in die einst von Balanchine gegründete School of American Ballet aufgenommen. Er wuchs sozusagen in das Balanchine’sche Fluidum hinein, mit fast jedem Schritt, den er als Jungtänzer erlernte.

2006 wurde er von Peter Martins in das New York City Ballet (NYCB) aufgenommen, wo er auch Stücke von „Mister B“ tanzte, und 2008 begann Peck selbst zu choreografieren. 2012 premierte sein erstes Stück beim NYCB. Später begann er, zusätzlich beim Film und am Broadway zu arbeiten, choreografierte auch die künstlerisch mäßig erfolgreiche Neuverfilmung der „West Side Story“ 2021.

Der Einakter „Rodeo: Four Dance Episodes“ entstand 2015 fürs New York City Ballet – eine stringente Verbindung zum Grandmaster George Balanchine ist also gegeben.

Das Muster paradiesischer Erhabenheit, das sich bei Balanchine wie ein Leitfaden durch seine Werke rankt, hat Justin Peck allerdings nicht übernommen.

Vielmehr ist hier der Sport der Vater aller Bewegung. Nicht nur die Kostüme von Reid & Harriet Design zeigen es an: Fitness ist Trumpf hier.

Wadenwärmer, Shorts, Trikots – noch mehr Sportaccessoires gehen im Ballett kaum. Oder doch: Es fehlen noch Turnschuhe und Schweißbänder.

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Frauen scheinen hier fast überflüssig – die Jungs heben sich gegenseitig. So zu sehen in „Rodeo: Four Dance Episodes“ von Justin Peck beim Semperoper Ballett in Dresden. Foto: Jubal Battisti

Aber eine gewisse sogar vornehme Ästhetik soll hier gewahrt sein – das hat die Arbeit von Peck mit den Balanchine-Stücken gemeinsam.

Ganz in Altrosa-Beige gewandet, macht die erste Jungsgruppe, die auftritt, den Eindruck eines nachgerade edlen Teams.

Von links sprinten einige Jungen aus dem Auf-die-Plätze-fertig-los auf die andere Seite. Vier weitere junge Männer warten schon – und in drei Fünfer-Cliquen legen sie dann richtig los.

Man riecht förmlich den Begeisterungsimpetus dieser sportlichen Jungmänner. Sie bewegen sich im Pulk, geben sich gegenseitig Halt – und wechseln lässig die Pose.

Dass dazu klassische Musik ertönt, verleiht dem Ganzen einen widersprüchlichen Geist.

Aaron Copland komponierte sein „Rodeo“ 1942 mit Anklang an den Stil von Darius Milhaud als Referenz an die USA, an ihre Vision des Pioniergeists, auch an ihren Sinn für Showtime. Es war von Beginn an als Ballett vorgesehen und wurde zu seiner Uraufführung von Agnes de Mille choreografiert. 22 Vorhänge hatte das Stück bei seiner Uraufführung mit den Ballets Russes de Monte Carlo – stolz erzählte de Mille das noch viele Jahre später.

Leider steht dazu gar nichts im Programmheft in Dresden, aber eine Blick in die Tanzhistorie lohnt sich, schon auch um die mitunter programmatisch klingende Musik zu begreifen.

Denn damals trugen die Tänzer tatsächlich Cowboy-Kostüme: mit Hut, Nicki-Tuch und Cowboy-Tanzstiefeln. Rodeo eben! Ein Cowgirl in ähnlicher Aufmachung trug zusätzliche Würze und Originalität hinein, stand auch für die weibliche Emanzipation.

Classics by Balanchine / Peck / Tharp

„Rodeo: Four Dance Episodes“ war bei seiner Uraufführung 1942 in der Choreografie von Agnes de Mille ein echtes Cowboy-Ballett – und beim damaligen Zeitgeist in den USA sehr erfolgreich. Videostill von YouTube: Gisela Sonnenburg

Für Justin Peck ist allerdings Sport das neue Rodeo, und die zeitgenössischen Sporttreibenden ersetzen den Mythos der Cowboys.

Die hatten einst aus der Prärie ein für sie bewohnbares Land und aus Wildpferden ein Fortbewegungsmittel gemacht. Beim Rodeo wurde und wird ein wildes Pferd oder ein Bulle versuchsweise zugeritten, solange, bis das gequälte Tier seinen Reiter abwirft. Für die nationale Identität der USA und auch als Spiel war Rodeo als solches nie hinterfragt worden. Obwohl de Milles Choreografie schon stark parodistisch und auch kritisierend wirkt.

Jetzt, so lernen wir bei Peck, ist es der Sport, der das positive Ideal der Nation darstellt.

Anders als bei de Mille tritt das weibliche Element bei Peck aber erst relativ spät im Stück in Erscheinung. Das entspricht seiner augenzwinkernden sportlichen Interpretation: Muskelzuwachs durch Bewegung findet bei Männern um mindestens 30 Prozent stärker statt als bei Frauen. Und sind es etwa nicht Männer, die das Spiel machen?

Bei Agnes de Mille gibt es noch eine Kulisse – einen rot glühenden Horizont mit Zäunen und Ölpumpen – und zudem pantomimisch plastisch getanztes Zureiten. Da ruckelt es durch den ganzen Körper, wenn das Vieh versucht, seinen Reiter abzuwerfen, auch das Einfangen mit dem Lasso und das hoch zu Pferde im Galopp auf- und davonpreschen sind tänzerisch umgesetzt.

Männliche Kraft und Eitelkeit spielen bei de Mille wie bei Peck ihre heimlichen Hauptrollen in der Choreo.

Allerdings wird das Cowgirl in der Urversion auch mal rüde der Szenerie verwiesen, von einem Obermacker, der heftig und beleidigend wirkt, als er das Mädel dramatisch wegreiten lässt. Vielleicht ist ihr Fehler, dass sie keine Spitzenschuhe trägt. Vor allem aber wirkt dieser Boss frauenfeindlich, und Agnes de Mille wird wissen, warum sie ihn auf die Bühne brachte. Als schöpferische Frau in der Theaterwelt ist sie selbst sicher auch nicht nur freundlich angenommen worden.

Classics by Balanchine / Peck / Tharp

Mann hebt Mann – auch hier, in Rückenlage. Das Semperoper Ballett präsentiert augenzwinkernd das Macho-Bild von Justin Peck aus „Rodeo: Four Dance Episodes“. Foto: Jubal Battisti

Unter sich schmieden die Männer im Stück dann Pläne, bis ein lyrisches Divertimento wieder das Mädchen ins Spiel bringt. Einen späten Triumph der Weiblichkeit sah Agnes de Mille vor.

Bei Justin Peck ist es gar nicht mal so ganz anders.

Hier versammelt sich zunächst geballte Männlichkeit, um nicht grob, sondern absolut elegant dem Sportiven zu frönen.

Dem Teamgeist und Fair play verpflichtet, erwecken 15 schöne Tänzer den Eindruck, sie seien eine in sich geschlossene Gesellschaft. In kleinen Gruppen bauen sie blitzschnell menschliche Pyramiden auf und ab, bilden Paare und stehen stabil.

Mal synchron, mal im Kanon, mal unabhängig voneinander hüpfen, drehen, biegen sie sich. Stellenweise fühlt man sich an „Le Train bleu“ erinnert, was allerdings vor allem an der Musik liegt. Das legendäre Ballett nach Musik von Milhaud, von Anton Dolin uraufgeführt, illustrierte die gute Laune der Wochenendausflügler zu Beginn des 20. Jahrhunderts bei den Ballets Russes in Paris.

Bei Justin Peck dauert die gute Laune die ganze Woche. Gesundheit, Schönheit, Potenz – der Sport verheißt fast alles, was zum amerikanischen Lebensziel der ewigen Jugend wenigstens ein wenig beiträgt.

Blau gewandete Tänzer ergänzen die Gruppen in Altrosa – aber einen direkten Wettkampf sehen wir nicht. Dazu herrscht hier einfach zu viel Übereinstimmung, Freude und harmonische Lebenskraft.

Ein Herrensolo strotzt nur so vor Begeisterung an der Bewegung pur.

Kein Wunder, dass niemand die Frauen vermisst. In „Rodeo“ ist es, als seien Frauen eigentlich überflüssig.

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„Rodeo“ von Justin Peck greift farblich die Vorgängerversion von Agnes de Mille auf und ist überwiegend ein Männertanz – aber erst die Ballerina bringt die richtige Würze hinein. Foto vom Semperoper Ballett: Jubal Battisti

Bis die charmant-quirlige Ballerina Ayaha Tsunaki auftaucht. Für ihre Pirouetten und Attitüden, ihre Sexiness und Souveränität gibt es nur ein Wort: wow!

Im mehrfarbigen Gymnastik-Trikot strahlt sie feminine Kraft und Geschmeidigkeit aus, wirft die Beine wie schwerelos hoch und absolviert technische Finessen, von denen die Männer nur träumen können.

Mit einer tollkühnen Reihe Chainés, die sie die gesamte Rampe entlang tanzt, verlässt sie einstweilen die Bühne – und die Männer fühlen sich inspiriert wie nie.

Voller Erwartung martern sie sich am Boden in Bauchlage, klopfen mit den flachen Händen auf den Bühnengrund, sprechen sich solchermaßen Mut zu.

Bis ein Adagio beginnt und fünf Jungs in Blau hier nachgerade Zartheit auf ihre sportliche Art und Weise ausloten.

Sehnsuchtsvolle Arabesken und ein stets Aufeinander-zu-und-wieder-Auseinander-Streben verbindet sie.

Bis die weibliche Schönheit wieder auftaucht. Ihr Partner im Beige-Outfit hält sie, lässt sie wirken, dreht sie, hebt sie.

Wie dekorative Skulpturen passen sich die anderen der festlich werdenden Stimmung an.

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Drei männliche Grazien bilden den Schluss von „Rodeo“ von Justin Peck: Es sind Jungs, die nach oben streben. Foto vom Semperoper Ballett: Jubal Battisti

Doch am Ende gibt es nur noch drei der männlichen Grazien auf der Bühne, und sie reißen zum Schlusspunkt rasant den rechten Arm hoch, mit hochgespreiztem  Zeigefinger, als wollten sie ausrufen: „Balanchine, guter alter Mann, und de Mille, gute alte Frau, schaut hin: So sieht es heute aus, wenn wir über uns hinauswachsen wollen!“

Überflüssig zu sagen, dass das Semperoper Ballett auch dieses kleine Meisterwerk fantastisch zu tanzen weiß.

Und vor allem das junge Publikum, das womöglich selbst noch alle nur möglichen Sportarten ausprobiert, kann sich sehr gut mit den vier „Rodeo“-Tänzen identifizieren.

Das Deuten gen Himmel aber bleibt.

Auch das dritte Stück strebt nach oben, wenn auch auf eine ganz andere Art und Weise. Es stammt von Twyla Tharp, der Altmeisterin des flippigen Showdance. Sie wurde 1979 mit dem Musical „Hair“ berühmt. Ihr Dresdner Stück heißt „In the Upper Room“ („Im oberen Raum“) und wird von Musik begleitet, die 1986 speziell für diesen Tanz von Philip Glass komponiert wurde.

Die Menschen verhalten sich darin wie Clowns ohne Humor. Der oben gelegene Raum steht hier nicht für die Wohltätigkeitsorganisation gleichen Namens, sondern für etwas Privates, für einen allgemeinen Rückzugsort.

Ganz hoch oben („ungeheuer oben“) schwebt hier allerdings keine Wolke, wie in einem berühmten Gedicht von Bertolt Brecht („Erinnerung an die Marie A.“) von 1920. Doch die Szenerie ist so entrückt, wenn auch stark abgedunkelt, dass es sich um einen in der Fantasie spacigen Raum, von irgendwo im Universum her erträumt, also von ganz weit draußen kommend, handeln muss.

Es ist eine dunkle Gegenwelt zu Balanchines leuchtendem „Serenade“-Eden, sozusagen.

Nebel erfüllt die schwarze Bühne, die die Meisterin des Bühnenlichts Jennifer Tipton mit unheimlich wirkenden hellen Scheinwerferstrahlen durchbricht.

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Im Schlabberhemd von Partner zu Partner: „In the Upper Room“ vo Twyla Tharp definiert Luxusleben mal anders. Foto vom Semperoper Ballett: Jubal Battista

Zwei Frauen tanzen frontal zum Publikum darin in längs schwarz-weiß  gestreiften Anzügen, schlabbrig und oversized. Sie tanzen zwar zeitgleich und teils auch synchron oder spiegelverkehrt, aber ein Pas de deux ist es nicht.

Und schon zeigt sich das Muster, das dieses Stück ausmacht: ein rasanter Wechsel des Personals auf der Bühne.

Gab es schon bei Justin Peck wie nebenbei ein flottes Hin und Her, ein Raus und wieder ein Rein in den Bühnenraum, so ist es hier das Thema, dass das Leben – wo auch immer es stattfinden mag – ein steter Wechsel ist.

Eine Dreiergruppe Jungs, ein Frauenpaar, ein Quartett Jungs, ein Trio Mädchen – beliebig wird hier gewechselt, fast möchte man sagen: ohne Sinn und Verstand.

Das liegt daran, dass es bei Twyla Tharp sowieso immer nur um ein Thema geht: um die Freiheit, als Individuum oder auch als Gruppe möglichst viel zu machen, ohne Rücksicht auf andere. Das Aufbrechen der Konventionen – darin ging es auch in „Hair“, nach wie vor ihrer besten Choreografie.

Wenn man so will, geht es dabei einerseits um Kommunikation, andererseits aber auch um Egoismus.

Ich musste übrigens als Abiturientin meiner Deutschlehrerin mal Beweise für die Existenz von Twyla Tharp vorlegen, weil ich sie in einem Essay über die abendländische Theatergeschichte erwähnt hatte. Tharp war damals, in den 80er-Jahren, in Deutschland noch so unbekannt, dass meine an sich durchaus hoch gebildete Lehrerin sie nicht kannte.

Heute ist das vielleicht auch nicht besser, obwohl man Twyla Tharp als Lehrer in einem Kunst-, Literatur- oder Kulturfach wirklich kennen sollte. Aber die meisten Lehrkörper kennen nicht mal Marius Petipa! Mozart und Beethoven, Tschaikowsky und Schönberg hingegen sind viel bekannter, wenn sie auch zunehmend von Abba und Beyoncé überflügelt werden.

Zurück zum entzückenden Ballettabend in Dresden.

Die Kostüme, von der Modedesignerin Norma Kamali ersonnen, wirken wie aus einem Traum: zwischen Schlafanzügen und Zirkus-Outfits angesiedelt.

Man sieht da viel Schwarz, Weiß, Knallrot an den Tanzkörpern – und trotz einiger wunderschön in Szene gesetzten roten Spitzenschuhen gibt es viel Unisex

Classics by Balanchine / Peck / Tharp

Und springen kann man in Turnschuhen auch: „In the Upper Room“ von Twyla Tharp mit Zarina Stahnke und Francesco Pio Ricci beim Semperoper Ballett. Foto: Jubal Battisti

Die Heiterkeit in den Bewegungen passt indes nicht wirklich zur Schwermut der minimal music von Philip Glass, die mit gleichbleibenden Rhythmen für eine gewisse Monotonie sorgt. Wer Glass kennt, den wundert das nicht.

Aber um genau diese Diskrepanz geht es hier. Erst die Liebe und der Freiheitsdrang machen das Leben lebenswert, so das Credo der Choreografin Tharp. Die düstere Grundlage dazu liefert die Musik.

Nur die Violinen in den oberen Tonlage verkünden ein Strahlen und eine beglückende Gelassenheit, die schon fast an Tschaikowsky erinnert.

Drei Paare sorgen schließlich für Aufheiterung. Und von der Macht der vorwärts strebenden Musik lassen sich alle Tanzenden mitreißen.

Als dann noch eine Panflöte zum Orchester mit Keyboard-Power kommt, ist der surreale Sound unüherhörbar.

Auch der Herkunftszeitraum ist damit markiert: In den 80er-Jahren standen auch  in Deutschland in jeder Fußgängerzone Menschen mit einer Panflöte, die eine vermeintlich folkloristische Unterhaltungsmusik zum Besten gaben.

Philip Glass lässt die Panflöte nun auch noch von hell aufjauchzenden Trompeten grundieren – aber keine Rosen werden dazu auf der Bühne gereicht, auch keine Hochzeit wird inszeniert, denn es geht hier nicht um Bindungen. Sondern nur um die angenehmste Weise, die Lebenszeit miteinander zu vertrödeln.

Rote Socken in Turnschuhen und satinglänzenden Spitzenschuhen – das fetzt optisch, ob es nun politisch gemeint ist oder nicht.

Classics by Balanchine / Peck / Tharp

Rote Spitzenschuhe zum Streifenhemd treffen auf attraktiven Mann im Schlafanzug: Yo Nakajima und Moisés Carrada Palmeros in „In the Upper Room“ beim Semperoper Ballett. Macht einfach Spaß! Foto: Jubal Battisti

Dazu das Tempo: Schnell noch ein Solo, dann kommt auch schon das nächste Paar. Die Ausgelassenheit, mit der hier der Raum mit Tanz möbliert und flugs wieder leer geräumt wird, ist enorm. Und das Tempo zieht noch an, gen Ende wird es ein wahrer Sog.

Telefonklingeln ergänzt die Partitur. Wer da? In den 80er-Jahren war der Festanschluss ja so wichtig wie heute das Handy.

Schließlich trauen sich drei Männer ganz ohne Shirt auf die Bühne. In der Buntheit hier wirkt das fast wie ein Aufruf zu Sex. Oder wie ein Zitat aus einem Maurice-Béjart-Ballett.

Vier Frauen, drei Jungs tanzen. Dann wieder nur ein Paar, das auch dann nicht aufgibt, als die Musik pausiert. Es tanzt einfach weiter. Bis auch dieser Spaß ein Ende hat.

Drei Männer, eine Frau treffen sich – alle im Sporttrikot und in Turnschuhen.

Und dann! Dann kommt auch noch ein Chor vom Tonband. Aaaaaaaah, einen weiteren Text braucht Philip Glass nicht für seine himmlischen Gesänge.

Ein solcher Chor hat im Ballett übrigens seine Wurzeln in Tschaikowskys „Nussknacker“, wo der Partitur nach die Eislaufpaare damit beschallt werden.

Geschlittert wird bei Tharp nun nicht, aber ihre absichtlich bis ins Herumhampeln gehenden Bewegungen sind ein einziges Aufbegehren gegen deren sichtbare Grundlage, nämlich den klassischen Tanz.

Humor vermisst man allerdings. Ist es denn bitterer Ernst in diesem Paradies? Zählt das Glück nur, wenn es nicht so albern ist, wie es aussieht?

Mal sind es drei Paare in diesen skurrilen Kostümen, die Tharp wählte, dann wieder sind es sechs Pärchen, die ihre Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Und ds durchaus auch mal mit richtig klassischen Posen. Drei Männer tanzen dann mit zwei Frauen, aber bald verlieren sich alle im Off – bis auf zwei Frauen.

Mit zwei Frauen fing das Stück an, mit zwei Frauen endet es. Und: Sie springen am Ende in die Luft, die Arme in die Höhe reißend, wie bei einer Kapitulation – und als sei dieses zugleich ihre Antwort auf die Anfangsgeste bei Balanchine in „Serenade“ und auf die Schlusspose von „Rodeo“ von Justin Peck.

Was für eine Liebeserklärung an die freie Liebe!

Kein Publikum der Welt kann den passionierten Protagonisten vom Semperoper Ballett da den Jubel verweigern.

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Marcelo Gomes, zunächst Ballettmeister, derzeit Artistic Manager vom Semperoper Ballett – und leider bald nicht mehr am Haus. Foto: Semperoper Ballett

Marcelo Gomes, der zurzeit als Artistic Manager das Semperoper Ballett leitet und der das Tharp-Werk auch selbst mit einstudierte, hat ganze Arbeit geleistet.

Er tanzte ja selbst als Superstar viele Jahre in New York beim American Ballet Theatre (unter anderem mit der rehäugigen Julie Kent, die heute das Washington Ballet leitet). Und Gomes weiß aus dieser Zeit genau, worin die Stärken des amerikanischen Balletts liegen.

Mit dem dreiteiligen Programm der „Classics“ hat er eine erlesene, stimmige Auswahl getroffen. Bravo!

Es ist, das muss man jetzt konstatieren, wirklich schade, dass Gomes – wohl aufgrund seines Schweigens über die Gründe seines skandalumwitterten Abgangs aus New York – keine Chance als ordentlicher Ballettdirektor in Dresden erhielt. Umso drängender sollte man jetzt seinen Besuch in der Semperoper einplanen. Do it now!
Gisela Sonnenburg

P.S. Studierende können bei der Semperoper auf 10 Euro reduzierte Tickets für die „Classics“ erwerben, auch digital. Aber bitte! 

www.semperoper.de

 

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