Wie geht es dem Bolschoi? Keine geringeren Primaballerinen als Svetlana Zakharova und Olga Smirnova kommen in der neuen Dokumentation „Hinter dem Vorhang – Das Bolschoi, die Kunst und der Krieg“ von Philipp Mangold und Radik Golovkov zu Wort. Genau so unverfälscht sprechen in der Doku von 2023 auch der Ballettdirektor Makhar Vaziev, und auch die Leiterin der Ateliers Tatyana Zabalueva, die 50 Näherinnen überwacht, die an einem Bühnenbild arbeiten. Das Bolschoi Theater in Moskau lebt: Opernsänger und Tänzer stellen hier ihre Perspektiven dar, zeigen sich oft überraschend offen und intim. Ihre Werdegänge werden deutlich, aber auch all der Schweiß, der sie so weit bringt. Die Liebe zum Theater, wie es Zabalueva einfach, aber zutreffend sagt, ist entscheidend. Auf diesen Film hat man, auch wenn er heute nicht ganz so aktuell ist, wie man es sich wünscht, lange gewartet: Das Bolschoi Theater öffnet für uns Fernsehzuschauer für fast eineinhalb Stunden seine Pforten, und zwar auch den Bühneneingang, und lässt uns zusehen, wie hier gearbeitet wird. Okay, das einschlägige Filmmaterial stammt von 2021 und nicht von 2024. Aber mit geschickt zusammen geschnittenen Auszügen fühlt man sich tatsächlich immerhin gut informiert und erfährt Dinge, die man früher nicht wusste.
Nach einigen älteren Doku-Filmen über das Bolschoi hat arte somit mal wieder ein ballettöses Highlight. Der Film hat sogar bildtechnisch eine nachgerade sensationelle Qualität. Die hervorragenden Kamerafahrten von Florian Lampersberger entführen uns in die heiligsten Stätten dieses Theaters: vor, hinter und auf der Bühne.
Natürlich – und leider ist das logisch – stammen die meisten Bilder und Interviews nicht von heute, sondern eben von 2021. Die Masken in manchen Gesichtern zeigen es an: Corona regierte noch. Dennoch ist der Film, mit zusätzlich gedrehten Aufnahmen von 2023 etwa mit Olga Smirnova sowie von Archivmaterial ergänzt, mehr als nur sehenswert. Er beweist wirklich, was Svetlana Zakharova mit einem Lächeln und doch ganz ernst sagt: „Am Bolschoi zu tanzen, hat seinen Preis.“ Und er beweist, dass sich dieser Preis lohnt.
An diesem Haus zählen nämlich künstlerisch gar keine halben Sachen. Und es genügt auch das nicht, was sonst wohl an den meisten Kunsthäusern, Opern und Theatern genügen würde. Den Kampf des Konventionellen mit dem Fortschrittlichen – oder was sich als solches verkauft – gibt es überall, wo es lebendige Kultur gibt.
Aber am Bolschoi muss von jedem Einzelnen immer das Letzte gegeben werden, wie Svetlana es definiert: „Eine Aufführung am Bolschoi ist drei bis vier Mal so anstrengend und kräftezehrend wie eine an einem Theater im Ausland oder sogar einem anderen Theater in Russland.“
Spannend gefilmte Probenausschnitte und kluge Beobachtungen mit der Kamera in den Büros sagen noch mehr als nur die edlen Gesichtszüge der Künstlerinnen und Künstler. Sie zeigen an: Wer hier wann der Herr ist, wer die Sklavin.
Bis zum Schluss hält der Film diese Energie des Lobens und Entlarvens zugleich. Man ahnt: Eine gewisse Härte wird es auch geben, sogar eine, die nicht gezeigt wird. Das hat nichts mit Russland zu tun. Das ist überall in bedeutenden Einrichtungen so.
Die Pressekonferenzen jedenfalls sind professionell organisiert, mit vielleicht Hunderten von interessierten und eingeladenen Journalisten. Wie ist es in Deutschland? Man muss nicht darüber reden. Es ist nicht vergleichbar, welchen Stellenwert die Hochkultur und gerade das Ballett in Russland haben und welchen – vergleichsweise mickrigen – hier.
Doch Proben und Training sind anstrengend. Die Füße schmerzen, der Körper wird trotzdem weiter voran getrieben. Manchmal klappt auch bei der Vorstellung etwas nicht ganz so, wie es sein soll, auch wenn das Publikum das nicht bemerkt. Die Protagonistin hat Panikgefühle, wenn sie nicht im völligen Einklang mit dem Tempo des Orchesters tanzt.
Nirgendwo ist das Niveau so hoch wie hier, nirgendwo sind die Ansprüche und der Leistungsdruck höher. Dennoch geht man mit Humor miteinander um – auch wenn er manchmal im Schreiton vom Ballettdirektor einher kommt: „Wozu habe ich mit euch gearbeitet?“
Olga Smirnova lastet ihm an, er habe zuviel Macht, aber zuviel Macht haben viele, auch im Westen, und nicht nur im Ballett.
Wenden wir uns den messbaren Fakten zu. Manche Scheinwerfer am Bolschoi sind etwa zehn Mal größer als solche, die man von deutschen Opernhäusern kennt. Die Zugstangen sind aufgeteilt in viele kurze Abschnitte. Man kann sie einzeln manövrieren, das ist viel praktischer als Zugstangen, die über die ganze Bühnenbreite reichen. Nichts hier ist altmodisch oder gar veraltet. Wir sehen: modernste Bühnentechnik.
Die Mädchenreihe aus dem zweiten Akt in „Giselle“ wird vom Chef – von Ballettdirektor Vaziev – persönlich zurecht gerückt. Zuvor kniete er bei Bühnenproben vor ihnen, um zu sehen, ob sie auch quasi millimetergerecht passend im Kreis und in der Reihe laufen.
Zwischendurch wird immer wieder Archivmaterial von Militärparaden und Kriegszubehör eingeblendet, dann und wann eine Tafel: Noch so und so viele Tage sind es bis zum Krieg. Wir wissen Bescheid. Die Spannung steigt trotzdem, die Filmautoren sind ein cleveres Team.
Dann sehen wir Vladimir Putin, der uns seine Entscheidung mitteilt. Sie machte ihn zum meistgehassten Mann im Westen, aber die Wahl im eigenen Land konnte er erneut gewinnen.
Das Leben im Bolschoi ging und geht auch nach dem 24.02.22 weiter.
Und nicht nur das Ballett hat das Bolschoi zum bedeutendsten Theater Russlands – und vielleicht der Welt – gemacht. Auch die Oper ist dort vorzüglich, setzt immer wieder Maßstäbe, sowohl im Musikalischen als auch im Inszenatorischen.
Die Oper „Mazeppa“ von Peter I. Tschaikowsky, die gerade einstudiert und zur Premiere gebracht wurde, als das arte-Team 2021 in Moskau war, spielt im Krieg.
Vom frühen 18. Jahrhundert bis ins 21. Jahrhundert reicht die anscheinend außerordentliche, ja grandiose Inszenierung, aber ausdrücklich ist damit kein Vergleich zum Russland heute im Kampf mit der Ukraine beabsichtigt. „Es ist eine Geschichte, die zu jeder Zeit in jedem Land stattfinden kann“, heißt es, und: „Es geht um Gefühle, um Liebe, Leidenschaften und Verrat.“
Auf der Leinwand hinter der Bühne flimmert ein Krieg in Schwarzweiß-Bildern, von oben aus dem Schnürboden fallen überlebensgroße tote Pferde – violettfarbenen und blutroten Skulpturen ähnlich – und bleiben in der Schwebe, wie ein mahnendes Orakel.
Krieg, warum kann die Menschheit dich nicht lassen?
Die Kunst spricht darüber mit ihren eigenen Sprachen, ihren Symbolen, ihren Farben, ihren Gesten, ihren Klängen.
Und Ballett kennt sowieso keine Bomben.
Olga Smirnova reiste dennoch flugs ab in den Westen, wechselte vom Bolschoi wegen dem Krieg ans Het Nationale Ballet von Ted Brandson in Amsterdam. Sie war auch früher schon oft im Westen.
Ob private Gründe auch eine Rolle gespielt haben, ist ungewiss. Um die Kunst geht es ihr bei ihrer Einreise in die Niederlande nicht. Vor der Kamera spricht sie nur von ihren politischen Gefühlen: Sie will keine unlösbaren Konflikte bezüglich ihrer politischen Meinung erleben müssen.
Andere konzentrieren sich weiter auf ihre Karriere am Bolschoi, auf ihre Kunst.
Ein Tänzer wird nach einer Vorstellung zum Ersten Solisten befördert: Es ist der ausdrucksstarke Denis Savin, und noch im Kostüm der Travestie-Rolle der Carabosse aus „Dornröschen“ wird er beglückwünscht.
Warum nun Wladimir Kaminer, der von Oper und Ballett, von Kunst und Klassik, von Moral und Philosophie so viel oder so wenig versteht wie von Meissener Porzellan, hier als angeblicher Experte für Russland seinen Senf absondern darf, bleibt hingegen unklar. Man wollte wohl der taz, die ihn als Exilrussen und Unterhaltungsfuzzi aufgebaut hat, Werbung verschaffen. Vielleicht ist Kaminer auch ein guter Kumpel des Autorenduos. Die taz hat mit Ballett übrigens nicht viel zu tun.
Und dann wird noch das mainstreamige tanznetz, das Fördergelder von irgendwoher tief aus dem Westen erhält, ohne dass diese Quellen von ihm selbst offen gelegt werden, im Abspann genannt. Wofür konkret, bleibt allerdings unklar. Oder wussten die Herren Autoren zu Beginn ihrer Recherche nicht mal, wer Olga Smirnova ist?
Smirnova darf sich gen Ende des Films jedenfalls noch schnell für ihr Herkunftsland vor der Kamera schämen, so wie viele andere Menschen sich für die Politik der Nato-Länder, in denen sie leben, auch schämen. Letzteres wird von Mangold und Golovkov aber selbstverständlich nicht gesagt.
Der zuständige Redakteur Dieter Schneider wollte vielleicht auch möglichst wenig Politik im Film. Aber gerade darum hätte er ruhig bei wirklichen Experten anfragen lassen können statt ausgerechnet bei dem opern- und ballettfernen Russendisko-Entertainer Wladimir Kaminer. Der sorgt für ein fettes Minus bei der Note Eins für den Film.
Gisela Sonnenburg
Heute um 23.05 Uhr auf arte, dann bis 02.07.24 in der arte-Mediathek
Und weil arte die Sendung nicht mit einem Icon anpreist (wie andere), hier bitte der Link: https://www.arte.tv/de/videos/098802-000-A/hinter-dem-vorhang-das-bolschoi-die-kunst-und-der-krieg/