Wir sehen erstens: einen Männerclinch um einen bequemen Fernsehsessel. Zweitens: zwei Paare, die auf geheimnisvolle Weise voneinander abhängig sind. Drittens: eine Gruppe von Frauen, die sich keuchend halb tot arbeiten. Das sind die drei Themen der drei Stücke des Programms „Sphären.02 / Preljocaj“ beim Bayerischen Staatsballett, das ausnahmsweise nicht im Nationaltheater stattfindet, sondern im niedlich-barocken Cuvilliéstheater vom Bayerischen Staatsschauspiel. Im Kontrast zum traditionell-höfischen Interieur, das der Zuschauersaal und die Ränge des Theaters mit seinem roten Samt und prächtigen Goldstuck hier bilden, geht es auf der Bühne in den ausschließlich mit Corps-de-ballet-Tänzerinnen und -Tänzern besetzten, mehr oder weniger fetzigen Balletten hypermodern zu. Alle drei Stücke stammen aus Frankreich – wir bekommen also einen Abriss des aktuellen Balletts im Nachbarland. Zwei Uraufführungen ergänzen hierin ein Frühwerk des bekannten Meisterchoreografen Angelin Preljocaj, der hier auch als Kurator tätig ist. Vulgo: Er suchte die beiden anderen Choreografen aus und gab ihnen mit seinem eigenen Werk eine Art Orientierung. Ursprünglich sollte sein „Un Trait d’Union“ („Ein Bindestrich“) als Pointe am Schluss kommen, doch die Umstellung des Programms, die sein Stück als Basis des Abends zuerst zeigt, rentiert sich. „Le Spectre de la Rose“ von Émilie Lalande und „Skinny Hearts“ von Edouard Hue können auf die Feststellung, dass es einen Kampf zwischen den Individuen gibt – was in Preljocajs Stück von 1989 vorgeführt wird – gut aufbauen.
Kampftanz im Wohnzimmer: Das ist, was Angelin Preljocaj in seinem „Bindestrich“ zeigen will. Mit Severin Brunhuber und Konstantin Ivkin hat er zwei temperamentvolle Ensemblemitglieder gefunden, die sich akrobatisch und auch einfach grobschlächtig miteinander beschäftigen. Der Grund für ihre Unzufriedenheit wird vorab demonstriert: die Einsamkeit der Individuen.
Preljocaj, Jahrgang 1957, ist immer dann ein hervorragender Choreograf, wenn seine brachiale Weltsicht, in der es kaum mehr als Kraft und Sex gibt, auf Poesie trifft. Das ist ihm in „Le Parc“ (das ebenfalls beim Bayerischen Staatsballett läuft) und vor allem auch in seinem „Schneewittchen“ vorzüglich gelungen.
Im „Bindestrich“ ist das so eine Sache: Einerseits versöhnen sich die beiden Streithähne, die hier 25 Minuten lang um einen alten Sessel kämpfen, auch immer mal wieder, und es entstehen, auch spontan und aus der großen Intimität des Kämpfens, anrührende Momente. Andererseits ist das Thema „Zwei Kerle und ein Sessel“ zu eintönig gewählt, um wirklich Trost oder nachhaltige poetische Zugabe spenden zu können.
Ob der alte Ledersessel, um den die beiden Männer kämpfen – um ihn bei vorübergehendem Sieg in Besitz zu nehmen, also um sich hineinzufläzen – ein Symbol ist, sei dahingestellt. Er könnte für eine Frau stehen, für eine Frau, die vielleicht mit beiden Männern lebte und beide verlassen hat.
Oder für die Frau, die ihn zusammen mit einem der beiden Jungs besessen hat.
Oder er steht schlicht für ein bequemeres, besseres Dasein. Für den lässigeren Job, die schönere Wohnung, das neue Abonnement beim Bayerischen Staatsballett. Alles, was man will, kann man in diesen Sessel projizieren.
Jedenfalls ist der Sessel etwas, das das Leben wirklich lebenswert macht.
Die Alternative zu diesem begehrten Utensil steht auch auf der Bühne und wird gelegentlich ganz lieblos umgeworfen: ein schlichter Stuhl. Hart und unbequem, ohne erhebendes Design. Gegen ein Alltagsleben auf Hartholz ist der Fernsehsessel ein Luxus. Aber: Es gibt nur einen davon, und auf die Idee, ihn sich zeitweise gegenseitig abzutreten, ihn also zu teilen, kommen Männer im Testosteronrausch nicht unbedingt.
Am Ende aber sind die Pfründe verteilt, der eine sitzt auf dem Sessel, der andere auf dem Stuhl. Ruhe ist eingekehrt. Ist es eine trügerische Stille? Handelt es sich nur um eine Verschnaufpause? Oder wird die Vernunft siegen, Hand in Hand mit der Solidarität?
Das bleibt offen. Aber schon der Waffenstillstand wirkt hoffnungsvoll, denn möglicherweise entsteht danach so etwas wie Zivilisation.
Auch Streitmächte könnten hier also gemeint sein…
Die Musik von Johann Sebastian Bach findet sich von Pausen unterbrochen und von eleganten Soundeffekten aufgehübscht. Insofern ist das Stück echt ein Muntermacher.
Bemerkenswert ist noch, dass einer der beiden Kämpfer in ein bürgerlich gepflegtes Hemd mit Hose gewandet ist, der andere jedoch von vornherein deutliche Kampfspuren an den Klamotten aufweist. Preljocaj will damit sagen: Es gibt schon meistens einen, der irgendwie anfängt… oder der zumindest erprobter im Zweikampf ist als der andere.
1989 war diese Auffassung von Ballett fast ein Skandal. Aber in Frankreich, wo Preljocaj geboren wurde und wo er bis heute vorrangig wirkt, war man zu dieser Zeit schon etwas weiter in der Vorstellung, was man mit Körpertheater so alles bewerkstelligen könne, rein stilistisch gesehen.
Und so findet sich im Clinch der Kerle kein Raum für eine weibliche Note, für die Seele einer Frau, für das feminine Prinzip, das lieber einen Gesamtkontext betrachtet als ausschließlich den Tunnelblick zu üben.
Émilie Lalande trägt dann genau diese weibliche Weltsicht in den Abend. Sie gönnt sich eine Neuinterpretation des 1911 uraufgeführten Stücks „Le Spectre de la Rose“ („Der Geist der Rose“) ohne hingebungsvolle Erotik, dafür mit nahezu alltäglich anmutender Sehnsucht nach Liebe.
Mikhail Fokine schuf für die Ballets Russes vor über hundert Jahren ein Meisterwerk nach der „Aufforderung zum Tanz“ von Carl Maria von Weber.
Jetzt hört sich mit Lalande eine moderne, junge Frau die Musik an, reflektiert die Männerfantasie eines Frauentraums (den Fokine choreografierte) – und sie entwirft zwei Paare, die in Abhängigkeit voneinander stehen.
Die Mädchen der Paare tragen Wellenreiter-Frisuren und muten an, als seien sie den 20er-Jahren entsprungen. Eines von ihnen ist allerdings nicht von dieser Welt.
Vielmehr scheint sie die Liebe zu verkörpern, die jeder Gemeinschaft, vor allem natürlich der Paarbeziehung, ihr Leben verleiht.
Und so ergibt sich eine Interdependenz zwischen den Paaren, die ihre Partner nie wechseln: Wenn das Paar im Hintergrund streitet, kränkelt die Rose weiter vorn, und ihr Partner muss sich mächtig anstrengen, um sie am Leben zu halten.
Manchmal schafft er das, und zur Heilung setzt er sie – quasi als Liebeskur – in eine rosenbekränzte Kinderschaukel. Doch letztlich wirkt der Krach der beiden anderen tödlich für die zarte Liebe… sie erstirbt, und dann hat sich auch das zänkische Pärchen im Hintergrund plötzlich gar nichts mehr zu sagen. Still stehen sie einander gegenüber, ihre Beziehung ging mit dem Geist der Liebe unter.
Dass dennoch alle vier aus demselben Kulturkreis stammen, zeigt der Anfang des Stücks: Alle vier treten auf, sie tragen Jacketts, die sie langsam ablegen wie ein Alltagsgesicht – und los geht es mit der inneren Wahrheit der Beziehungen.
Dass das Damenkostüm der Rose von Rot zu Weiß wechselt, ohne dass man ein Umziehen sehen muss, ist eine Raffinesse der Choreografin, die hier auch als Ausstatterin wirkt. Nur das Licht hat sie dem erfahrenen Christian Kass anvertraut, der im übrigen für alle drei Stücke verantwortlich zeichnet.
Vom männlichen Spectre – Vaslav Nijinsky machte 1911 Furore in dieser Rolle – ist also nicht viel übrig, auch nicht vom Traum einer Balldebütantin, die die Rose gebrochen, also getötet hat, um sie dann als Bouquet am Busen zu tragen und letztlich davon zu träumen, dass dem Duft ein schöner Mann entsteige.
Aber die Idee, dass die Liebe etwas ganz Reales mit realen Auswirkungen sein muss, hat Émilie Lalande mehr als nur intuitiv erfasst und mit viel Charme umgesetzt.
Weitere Musiken unter anderem von Hector Berlioz helfen ihr dabei, die Beziehungen in tänzerischer Hinsicht zu unterstreichen. Sturmgeräusche und ein Gewitter steigern die Effekte des Naturhaften der Liebe; Rosenblätter werden auf die Bühne geweht, als befände sich da draußen im Off noch ein weiterer Garten der Liebe, der erst erschlossen sein will.
Genau diesem Ruf folgt der Witwer der verstorbenen Rose, er geht durch eine Tür auf der Bühne, diese schließt sich hinter ihm – und ob er ins Paradies oder nur zur nächsten Geliebten, vielleicht einer kletterbegabten Rambler-Rose, ging, bleibt offen.
Er trug übrigens ein ähnlich zerschlissenes Outfit wie der erfahrene Kämpfer im ersten Stück, bevor er seinen Body mit aufgemalter Rose zeigt. Ein Rosenkavalier durch und durch. Aber die Referenz an Angelin Preljocaj ist somit auch im Kostüm manifestiert, vom Thema der streitträchtigen Liebe mal ganz abgesehen.
Die Beschäftigung mit den Frauen, die bei Preljocaj so ganz zu fehlen scheinen, setzt Edouard Hue fort. Acht Damen stellt er auf die Bühne, um sie mal solistisch, mal als Gruppe kämpfen und leiden zu lassen.
Die sanfte elektronische Musik von Jonathan Soucasse entspannt eher, aber die Mädels hier befinden sich offenbar im Hamsterrad der Arbeitswelt, in der sie trotz aller Anstrengung nie dorthin kommen, wo die Männer sind. Schon gar nicht mit nur gleich guten Leistungen.
Die Arbeitshaltung, die Neigung zur größtmöglichen Anstrengung, haben sie indes dermaßen verinnerlicht, dass sie auch in ihrer Freizeit nicht anders können, als dem Prinzip Leistung-bis-kurz-vorm-Umfallen zu frönen.
So tanzen sie in Socken und in Sportkleidung, ganz so, als sei zwischen Fitness-Studio und Arbeitsplatz kaum ein Unterschied. Sollte es sich etwa um Berufstänzerinnen handeln, die die jungen Damen darstellen? Der Gedanke liegt ja nicht fern.
Dani Gibson, Jasmine Henry, Mariia Malinina, Polina Medvedeva, Elisa Mestres, Daniella Venter, Chiara Vitali und Margaret Whyte vollziehen hier den Tanz des Alltags, ohne mit der Wimper zu zucken.
Aber gen Ende dürfen sie keuchen und stöhnen, also zeigen, dass man sie bis an ihre Grenzen trieb.
Dynamisch-witzig, rhythmisch-exzessiv kommt dieses Stück einher, als wolle es ein neues Frauenbild propagieren. Erst auf den zweiten Blick merkt man, dass dieses durchaus auch ironisch gemeint ist – und die Schufterei der Frauen keineswegs nur freiwillig stattfindet.
Wie nebenbei entstehen ästhetische, aus der Neoklassik kommende Figuren, die den fast verkrüppelt wirkenden Anfangsbewegungen stark entgegen wirken.
Doch die Geste, sich eine Hand aufs Brustbein zu legen, als bekomme man keine Luft oder nur unter Schmerzen, ist ein Leit- und Leidmotiv hier, und es setzt Signale.
Will uns der Choreograf vielleicht so doch sagen, dass das Leben ohne Männer unabänderlich weh tut?
Erschöpft dürfen sich die Schwerstarbeiterinnen schließlich von der Bühne zurückziehen. Einzeln gehen sie ab, mit Schwere im Gang – ausgepowert und immer noch hungrig im Herzen, wie der Titel („Magere Herzen“) schon sagt.
Was einen fast auf den Gedanken bringen könnte, hier seien Hausfrauen gemeint, die zwischen Staubsauger, Kindererziehung und Fitnessstudio geistig und seelisch mit dem Tode ringen.
Dass Frauen in der Berufswelt generell unter Gefühlsarmut leiden – ein so reaktionäres Frauenbild wollen wir Hue mal nicht unterstellen. Aber:
Die neue Schwere der Beziehungen, die sich in unserer Welt, in der es fast nur noch um Besitz, Macht, Sex und Geld geht, entwickelt, zeigt sich in allen drei Stücken dieser Ausgabe der Reihe „Sphären.02“, und sie macht nachdenklich – ein hervorragender Grund, ins Ballett zu gehen.
Eineinhalb pausenlose Stunden erwarten die Zuschauer, und langweilig wird ihnen dabei nie. Um etwaiger Euphorie vorzubeugen: Alle drei Stücke sind solide handwerkliche Arbeit, aber Genie findet sich hier nicht.
Gisela Sonnenburg / Franka Maria Selz
P.S. Apropos deutsch-französische Beziehungen: München verliert zur kommenden Spielzeit das Supertalent Shale Wagman, denn der Ballerino geht zum Ballett der Pariser Opéra. Viel Glück dort! Möge er alsbald ein Étoile werden!