Die Pupille spiegelt Tanz. Aber die Gedanken sind woanders: Als Kind sieht John Cranko, der spätere Begründer des „Stuttgarter Ballettwunders“, wie jemand ausgepeitscht wird: eine schwarze Frau von einem weißen Mann. Daran erinnert er sich als junger Erwachsener während eines Langstreckenflugs. Und er sinniert aus dem Off: „Ich glaube, man muss die Schattenseiten des Lebens sehen, um etwas Künstlerisches zu tun.“ Im Taxi in Stuttgart, seiner Destination, wird er dann vom Fahrer in astreinem Schwäbisch gefragt, warum er in Deutschland sei. Na, um beim Stuttgarter Ballett zu arbeiten! Und John Cranko nennt die großen Ideale seiner Kunst: „Es geht um Liebe und Leidenschaft!“ Außerdem verrät der renommierte Künstler, der er damals schon war: „Ich bin auf der Suche nach einer Familie“. Dass er London wegen einer polizeilichen Untersuchung seiner Homosexualität verließ, erzählt Cranko erst im engeren Theaterkreis, nicht in aller Öffentlichkeit. Das wäre damals ohne negativen Skandal bishin zur möglichen Gefängnisstrafe auch nicht möglich gewesen. Aber der Drang, diese Dinge zu ändern und trotzdem als bürgerlich und gediegen aufzutreten, ist da. Mit diesen Puzzleteilen einer Persönlichkeit beginnt der Film „Cranko“ von Joachim A. Lang. Der Regisseur und Drehbuchautor nahm sich nach Bertolt Brecht als Objekt der Begierde („Brecht – Die Kunst zu leben“, 2006) jetzt eine weitere Koryphäe der Kultur des 20. Jahrhunderts vor. Ballett – hier zu Lande immer noch eine Nischenkunst – wird somit ganz populär ins Kino gebracht. Und Sam Riley spielt mit toller Frisur und großer Einfühlung den sensiblen, humoristischen, vor allem aber auch sinnlichen Tanzkünstler John Cyril Cranko, der 1927 in Südafrika zur Welt kam, um im Schwabenland mit Tanz Furore zu machen.
Das Opernhaus im frühabendlichen Stuttgart ist festlich erleuchtet, als Cranko erstmals vorfährt. Nur wenig später tanzt hier im Film seine Fantasie, und das Stuttgarter Ballett zelebriert seine eleganten, ätherischen Schritte nächtens auf dem Vorplatz vom Opernhaus, als sei dieses ein angestammter Aufführungsort. Immer wieder wird es im Verlauf des Films outdoor auftanzen, wie eine wahr gewordene Vision.
Am Ende wird sogar an Crankos Grab getanzt. Er starb 1973 mit 45 Jahren, während des Rückflugs von der zweiten USA-Tournee seines Ensembles: an Herzversagen.
In Stuttgart wurde Cranko zu Grabe getragen – vielfach beweint und vermisst. Seine Erben, Crankos Mitbewohner und Mitarbeiter Reid Anderson und Dieter Gräfe, hielten ihren Status allerdings jahrzehntelang nach außen incognito. Sie wurden durch Crankos Tod reich und mächtig, denn ihnen gehörte fortan nicht nur das materielle Vermögen, sondern vor allem auch das Lizenzrecht am Werk von Cranko. Gräfe verstarb übrigens im April diesen Jahres.
Heroen des Stuttgarter Balletts zu Cranko-Zeiten, wie Marcia Haydée und Egon Madsen, treten jetzt zusammen mit Reid Anderson zum Schluss des Films mit einer Rose wie Trauergäste an, während im Hintergrund auf der Wiese getanzt wird. Getanzt wird hier oft, ohne dass die Handlung es braucht. Überflüssig ist der Tanz dennoch nie: Er übernimmt wortlos das Vertrautmachen mit Crankos Lebenssinn.
Elisa Badenes, die Marcia Haydée darstellt, und Friedemann Vogel, der hier die männliche Cranko-Muse Heinz Clauss verkörpert, schaffen es, mit ihrer geschliffenen Körperkunst die abwechslungsreichen Choreografien des Großmeisters Cranko immer wieder zu neuem Leben zu erwecken.
Ob Cranko möglicherweise ermordet wurde und wenn, dann von wem, darüber spekuliert dieser Film nicht. In Langs filmischer Welt gibt es keine Fehde unter den Künstlern; alle lieben sich und wünschen sich gegenseitig nur das Beste. Dabei gab und gibt es zum Beispiel unter Marcia Haydée und der einstigen „Babyballerina“ Birgit Keil durchaus eine gewisse Rivalität.
Die Realität an deutschen Theatern mag backstage deutlich weniger nach heiler Welt aussehen, als dieser Film es vermuten lässt. Aber es ist auch schön, mal der Sentimentalität freien Lauf zu lassen, statt nur scharf hinzuschauen.
In diesem Sinne bezaubert der Film, von Anfang an. Die klassischen Musiken aus verschiedenen Cranko-Stücken tragen emotional und ergänzen die anrührenden Bilder. Sie zeigen den neugierigen, redlich um Wahrhaftigkeit bemühten Künstler Cranko, wie er die Welt mit seinem Tanz erobert – und wie er sich vom bescheidenen Aufsteiger zum Chefcharakter entwickelt.
Erich Schäfer, der legendäre damalige Stuttgarter Intendant, reichte Cranko 1961 die Hand. Auch im übertragenen Sinn: Ohne Schäfer wäre Cranko kaum nach Deutschland gekommen. „Der Pagodenprinz“, von Cranko schon 1957 in London kreiert, wird alsbald in „Stuggi“ einstudiert.
Und die damalige Primaballerina in Stuttgart muss die Hauptrolle abgeben, weil sie für Crankos Augenmaß zu wenig Gefühl in die Partie der Prinzessin legt. Im schwarz-weiß gemusterten Hahnentritt-Anzug zum knallrosa Oberhemd diskutiert Cranko, der bald als genial akzeptierte Ballettdirektor, die Bedeutung der Tanzkunst in Stuttgart. Sam Riley meistert auch solche Szenen meisterhaft.
Figuren aus dem frühen Stück „The Lady and the Fool“ besiedeln derweil bei Nacht den Opernvorplatz, besetzen eine Sitzbank und wirken dabei gar nicht mal von so weit hergeholt. Und während Cranko entscheidet, sein formidables Büro an einen Assistenten zu geben – als hätte es damals so viele davon gegeben wie heute – tanzen zwei weiß geschminkte Pierrots im Ballettsaal einen poetisch-solidarischen Deal mit einer Rose und ihren roten Blütenblättern.
In der Kantine vom Opernhaus, seinem eigentlichen „Büro“, entdeckt Cranko dann das Talent vom Bühnen- und Kostümbildner Jürgen Rose. Es wird nicht ganz leicht, ihn durchzusetzen – aber Roses Fantasie überzeugt. Als dann Marcia Haydée im Tutu und mit zuviel Make-up im Gesicht fast hilflos eine „Dornröschen“-Nummer vortanzt, erkennt Cranko ad hoc ihr Potenzial – und engagiert die damals 24-Jährige als seine künftige Muse, entgegen Widerständen in der Chefetage des Hauses.
Der Meister choreografiert, die Kamera liebt ihn dafür. „Romeo und Julia“ entsteht, mit Mantel und Degen, mit Spannung und Dramatik. In seinem Bett wartet dann ein äußerst fideler Lastwagenfahrer auf Cranko, den er an einer Autobahnraststätte – damals heimliche, aber beliebte Schwulentreffs – aufgegabelt hatte. Mit Zigaretten, Alkohol und untrüglichem Instinkt unterrichtet Cranko einerseits seinen Liebhaber in den Shakespeare-Sonetten und andererseits Jürgen Rose darin, auf die Ursprünglichkeit seiner gezeichneten Linien zu bestehen und sie zu betonen. Inspiration ist wichtig, nicht nur Transpiration – so lautet das Motto.
„Romeo und Julia“ wird mit Marcia als Julia und in der Ausstattung von Jürgen Rose ein großer Erfolg. In Stuttgart wie im Ausland auf Tourneen. Die erste USA-Tournee wird ein Riesenerfolg, und – was der Film nicht zeigt – auch in Moskau wird das Stuttgarter Ballett bejubelt.
Daheim geht es beschaulich zu. Beim Griechen wird abends Zirthaki getanzt, Cranko sammelt moderne Kunst, und auf Spaziergängen oder beim Hören von Schallplatten kommen ihm die besten Ideen. Eigentlich ist es ein idyllisches Künstlerdasein, das er führt.
Viele seiner Weggefährten sind als Filmrollen mit heutigen Stars vom Stuttgarter Ballett besetzt. Jason Reilly spielt und tanzt Ray Barra. Rocio Aleman steht für Birgit Keil. Und Martí Ferndandez Paixà ist Richard Cragun. Nur die aufstrebenden Choreografen, die unter Cranko als Tänzer und dann als Tanzschöpfer anfingen, fehlen im Film.
Als da sind: John Neumeier, der bedeutendste und vielseitigste choreografische Nachfahre aus der Stuttgarter Schmiede; William Forsythe, der ewige Avantgardist; Uwe Scholz, der früh verstorbene Träumer; Jiri Kylián, der verlässliche Moderne. Wenigstens Neumeier, der als Tänzer bei der Kreation von Cranko-Stücken wie „Onegin“ mit dabei war, hätte man einbinden sollen. Dafür wird er vielleicht als Ehrengast bei der Stuttgarter Filmpremiere anwesend sein.
Der Fokus des Films liegt indes eindeutig auf dem Sein und Wirken wie auch auf dem Innenleben von John Cranko. Seine Freude, sein Frohsinn, seine Fröhlichkeit, aber auch sein Leid, sein Kummer, seine Sorgen geleiten uns hier durch das Geschehen.
Im Gespräch mit seiner großen Liebe namens Alexander, einem jungen Mann aus den besseren Kreisen, kommt Cranko auf sein schwierigstes künstlerisches Thema: „Kann man Auschwitz auch im Tanz zeigen?“ – „Das weiß ich nicht. Aber es beschäftigt mich.“
Der Lover, auch als vertraulicher Gesprächspartner geschätzt, verlässt jedoch den innerlich einsamen Meister: weil seine Familie es so wünscht. Der Vorgang ist historisch richtig. Es war die Macht des Geldes, die John Crankos privates Glück zerstörte. In seiner Fantasie entsteht im Film darum Lenskis großes Mondschein-Solo in „Onegin“. Todessehnsucht vor einem Duell (denn die ist im Solo gemeint) – ob man das nun mit Liebeskummer erklären kann, sei mal dahingestellt. Die Choreo aber ist in jedem Fall superbe, wie auch die Pas de deux und Gruppenszenen, die man hier im Film sieht und genießt.
Der Schluss-Pas-de-deux von „Onegin“ zwischen der Titelfigur und Tatjana nach Puschkins Versepos „Eugen Onegin“ läutet dann den nächsten Supererfolg von Cranko ein. Dass die erste Version von „Onegin“ ein Flop war und Cranko seine Arbeit einige Jahre später überarbeitete, bevor die Sache „zog“, hat im Film keinen Platz. Überhaupt fehlt hierin die Einsicht, dass man früher auch unspektakuläre Misserfolge tolerierte und sogar für natürlich und notwendig hielt, solange die Gesamtleistung eines Künstlers akzeptabel war.
Zur deutschsprachigen Kritik hat der Film leider ein bedauernswert schlechtes Verhältnis. Der Epigone Horst Koegler, der übrigens in der Realität 2003 den „John Cranko Preis“ (!) erhielt, wird hier fälschlicherweise zum Bösewicht und Feind der Kunst von Cranko stilisiert. Koegler lebt nicht mehr – er hätte sich gegen so eine Verfälschung seines Verhältnisses zum Stuttgarter Ballett sicher gerichtlich gewehrt. Der Film aber benutzt den wehrlosen Koegler, um einen Graben zwischen der Kritik und dem Publikum zu ziehen und Kritik als eigentlich überflüssig darstellen. Das ist eine unreife und dumme Haltung, aber heutzutage leider keine seltene.
Auch der Suizid des kongenialen Musikers und Arrangeurs Kurt Heinz Stolze (der für Cranko die Musiken von Tschaikowsky und Scarlatti zu cineastischen Ballettmusiken aufbrezelte) wird im Drehbuch von Joachim A. Lang dem Leiden unter angeblich bösartigen Kritikern in die Schuhe geschoben. Das ist haltlos falsch dargestellt.
Es ist wirklich schade, dass dieser Film sich in Kritikerschmähungen ergeht. Auch wenn Mobbing von Kritikern gerade in Mode ist: Ohne Kritik, ohne die Meinungs- und Pressefreiheit und ohne die Befähigung der Künstler, sich mit ihr fruchtbar auseinanderzusetzen, wird es keine Kultur geben. Cranko wusste das. Er kokettierte mit Journalisten und setzte sich mit Kritik auseinander. Sein „Onegin“ wäre sonst nie das Meisterwerk geworden, das es ist.
Und er war gebildet, kannte auch die historische Rolle der Kritik. Die radikale Einforderung von Beifall, wie sie von manchen „fortschrittlichen“ Künstlern heute betrieben wird, ist hingegen objektiv makaber und destruktiv. Cranko hätte sie vermutlich langweilig gefunden.
Auch sein Publikum setzte sich mit einer fundierten Meinung auseinander, sogar dann, wenn es nicht die der Mehrheit der Zuschauer war. Man rieb sich an intelligenten, sinnvollen Mitteilungen – statt wie eine gedankenlose Horde alles zu bejubeln, was laut und bunt ist, egal, in welcher Form einem vorgesetzt wird, und alles zu hassen, was die Funmaker kritisiert. Die Befähigung, sich ernsthaft mit Kunst auseinander zu setzen und dabei sogar noch über sich selbst lachen zu können, war in der Tat damals viel besser ausgeprägt als heute.
Zur Ergänzung ans Kinoerlebnis sei das hervorragende Buch von John Percival „John Cranko – Biographie“ empfohlen, das es nur noch antiquarisch gibt. Damit versteht man auch den Film nochmals besser. John Cranko erscheint in beiden Werken als ein zur künstlerischen Arbeit nachgerade Getriebener, dem man nur zu gern gedanklich folgt.
Tatsächlich hatte Cranko auch Probleme, und er fiel im Liebeskummer von der Neigung zum Alkohol in die Abhängigkeit von Barbituraten. Ärzte, die damals generell nicht genügend über die Gefahren der Pharmazeutika aufklärten, sondern sorglos suchterzeugende Tabletten verschrieben, trugen wohl ihr Quantum Schuld bei an Crankos frühen Tod.
Nach warmherzigen, intimen Szenen, in denen Cranko seine Compagnie wie ein Papa seine Großfamilie betreut, kommen zu den Erfolgsszenen auch ihre Schattenseiten: wie besessen und bis zur Selbstverletzung zu arbeiten, ohne Unterlass, bis zur totalen Erschöpfung.
Dass Cranko Brite war, verschweigt der Film, benennt es aber, dass er, weil er sich vom rassistischen Regime der Apartheid in Südafrika lossagen wollte, seine ursprüngliche Staatsbürgerschaft ablegte.
Dass „Spuren“, Crankos Ballett über eine Auschwitz-Überlebende, vom Publikum ausgebuht wurde, wie es hier zu sehen ist, ist realiter nicht wahr. Ein anderes Stück, das am selben Abend uraufgeführt wurde, hatte solchen Misserfolg: „Green“ konnte seine Leichtigkeit nicht dem Publikum vermitteln. Aber es passt ins Drehbuch von Joachim A. Lang, hier und dort kräftig zu klittern, weil er sich, wie weiland Rainer Werner Fassbinder, lieber selbst eine dramatische kleine Welt zimmert als sich nur an die Fakten zu halten.
Fazit: Der Film ist absolut sehenswert. Denn er hält den Tanz und die Menschen, die ihn lieben, auf faszinierende Art zusammen.
Gisela Sonnenburg