Es war so wie immer und doch ganz anders. Die 242. Ballett-Werkstatt beim Hamburg Ballett am gestrigen Sonntagvormittag war zugleich die erste von und mit Demis Volpi, dem 39-jährigen Nachfolger von John Neumeier, und sie war ein großer Erfolg. Bildung und Entertainment gingen hier Hand in Hand – wie es sein soll. Das wurde honoriert. Gefühlt – und teilweise nicht nur gefühlt, sondern auch faktisch – alle drei Minuten brandete höflich Applaus auf. In der zweiten Stunde gab es ganz entfesselte Begeisterung und schlussendlich sogar Standing Ovations für den neuen, jungen Hausherren. Demis Volpi ist in Hamburg angekommen! Der Deutsch-Argentinier, der vom Stuttgarter Ballett aus Karriere machte, muss sich um seine Akzeptanz keine Sorgen machen. Mit der gelungenen Einstimmung auf die für den 28. September 24 angesagten Premiere „The Times Are Racing“ („Die Zeiten rasen“) gewann er die Herzen und das Interesse des Ballettpublikums an der Alster. Und auch seine Tänzerinnen und Tänzer vom Hamburg Ballett gaben wieder alles. Unter ihnen befanden sich außer den bisherigen Publikumslieblingen und Newcomern (Madoka Sugai! Alessandro Frola! Anna Laudere! Alexandr Trusch! Ida Praetorius! Matias Oberlin! Ida Stempelmann! Jacopo Bellussi!) einige interessante Neu-Hamburger wie Jack Bruce sowie auch die „Heimkehrerin“ Futaba Ishizaki, die als ganz junge Ballerina unter Neumeier getanzt hatte und dann zu Volpi ans Ballett am Rhein wechselte. Man bemerkt eine Ausrichtung hin zu modernen Bewegungen auf klassischer Grundlage – und man bemerkt auch, wie hervorragend diese Tänzerinnen und Tänzer nach wie vor trainiert sind. Mit Damiano Pettenella stellte sich beim Training auf der Bühne vor Beginn der Matinee auch gleich einer der neuen Ballettmeister vor. Er wurde in Mailand und Stuttgart ausgebildet, arbeitete schon für Volpi und auch für Bridget Breiner. Sein eleganter Trainingsstil wird den Stars und dem Ensemble bestimmt gut bekommen. Jetzt aber zur Ballett-Werkstatt.
Sehr souverän steht Volpi in grau-weiß-grün gemusterten Sneakers auf der Bühne, das Mikro und ein paar Notizen in den Händen. Lässig, aber nicht nachlässig ist der neue Stil vom Hamburg Ballett. „Guten Morgen, liebes Publikum, ich bin Demis Volpi, Intendant des Hamburg Ballett!“ Schnörkellos, aber unter Verwendung des schönen Genitivus subjectivus objectivus stellt er sich vor. Sein Deutsch ist hervorragend. Das grau gewürfelte Holzfällerhemd verleiht dem ohnehin jungen Mann zusätzlichen Bubicharme. Was nicht darüber hinwegtäuscht, dass er genau weiß, was er will. Auch das ist zu spüren.
Seinem legendären Vorgänger John Neumeier dankt er für die Einführung des Werkstattformats, damals im September 1973, denn es erlaubt die bestmögliche Einstimmung des Publikums auf eine aktuelle Arbeit: „nicht nur um zu sehen, was wir machen, sondern auch um zu sehen, wie wir es machen.“
Menschlichkeit, sagt Volpi, verbinde die vier Stücke von vier Choreografen, die er für die kommende Premiere aussuchte. Weil am Vortag die Hamburger Theaternacht unter Beteiligung des Hamburg Balletts und seiner Ballettschule stattfand, kam indes niemand dort so richtig zum Durchschnaufen in der letzten Woche. Aber so ist es am Theater: Wenn die anderen Leute Sonn- und Feiertage haben, herrscht hier erst recht Hochbetrieb.
Mit freundlicher Geste lädt Volpi Coachs und Assistentinnen, Tänzerinnen und Tänzer auf die Bühne – und lässt sie erstmal proben. Alle vier Stücke der kommenden Premiere werden vorgestellt, und die jeweiligen Teams machen einen konzentrierten, dabei durchaus freudvollen Eindruck.
Nur das Licht ist deutlich dunkler als bei Neumeiers Werkstätten – diesen Unterschied muss man benennen, denn John Neumeier ist nicht nur als Choreograf, sondern auch als Lichtdesigner genial begabt. Was seinen Stücken wie auch seinen sonstigen Auftritten zu Gute kommt.
Mit Jo Ann Endicott kommt jetzt eine zarte ältere Dame auf die Bühne. Ab 1973, also von Beginn an, tanzte sie unter dem Namen Josephine Ann Endicott im Tanztheater in Wuppertal für Pina Bausch. Deren Frühwerk „Adagio“ nach Musik von Gustav Mahler hat Endicott für Hamburg rekonstruiert und studiert es jetzt mit zwei Assistentinnen ein. Außer einer Schwarzweiß-Aufzeichnung und ihrem eigenen Gedächtnis gab es kaum Material als Grundlage.
Seit seiner Uraufführung vor 50 Jahren in Wuppertal wurde „Adagio“ nirgendwo mehr einstudiert. Es wird also eine richtige Revival-Premiere in der Hamburgischen Staatsoper.
Pina Bausch hingegen lebt in ihren Werken weiter, und Endicott – die ich als ganz junger Mensch auch noch habe tanzen sehen – sagt, sie spüre deren Anwesenheit, wenn sie arbeitet. Volpi weiß ein kluges Zitat von der Bausch anzubringen: „Sie sagte mal: ‚Mich interessiert nicht, wie sich die Menschen bewegen, sondern warum sie sich bewegen.“
Bewegung und Atmung – das gehört zusammen, wenn es organisch sein soll. Jo Ann Endicott gibt ein Beispiel, hebt den Arm erst als „kalte“ Bewegung und dann mit entsprechender Atmung.
Zwölf Tänzerinnen und zehn Tänzer werden auf die Bühne gewunken. Die Damen sind barfuß. Eine bereits einstudierte Sentenz wird nun „geputzt“, wie man sagt, und Demis Volpi erklärt, dass es dabei um die Steigerung der Präzision geht.
Ohne Musik werden einzelne Bewegungen immer und immer wieder durchgenomen. Jacopo Bellussi probt eine Drehbewegung mit dem ganzen Körper auf dem Platz, die die Arme auf interessante Weise einbezieht. Zwei Damen üben das Übereinanderpurzeln am Boden. Mathias Oberlin muss seine Tanzpartnerin im Knien schwerelos auf die Schultern wuchten.
Schließlich ist Endicott weitgehend zufrieden. Musik!
Die Probe läuft. Mal synchron, mal individuell erfüllen die Tanzenden nach besten Mühen ihre Aufgaben. Hier ist wer zu langsam, dort zu schnell. Nach einigen Minuten gibt es eine Pause. Und Applaus. Überhaupt wird hier viel applaudiert, gefühlt alle drei Minuten, und der Blick auf die Uhr bestätigt, dass es sich manchmal um noch kürzere Abstände handelt. Ist es Höflichkeit oder Begeisterung des Publikums? In der ersten Stunde, als noch jedes einzelne Statement, das von der Bühne kommt, mit Applaus bedacht wird, steht wohl der Gedanke, Mut machen zu wollen, mit dahinter.
Dass Olivia Betteridge aus Australien stammt und heute jene Partie tanzt, die die gebürtige Australierin Jo Ann Endicott unter Pina tanzte, ist ein hübscher Zufall.
Endicott hat allerdings auch Gemecker parat. „Bei Pina haben wir nie Schmuck getragen“, moniert sie, weil es bei manchen Tanzenden metallisch am Körper aufblitzt. Weil es ein Sonntag sei, wolle sie aber mal darüber hinwegsehen, beschließt die Probenleiterin schmunzelnd. Allerdings ging es bei Pina Bausch auch um Kreationsproben, und die Choreografin wollte wohl so wenig Ablenkung des Blicks wie möglich. Inwieweit man ein solches Diktum auf reine Einstudierungsproben übertragen muss, ist Geschmackssache. Wenn er niemanden stört, gibt es eigentlich keinen vernünftigen Grund, den Schmuck bei Proben ablegen zu müssen.
Die Tendenz zum Formalismus in Kreisen, die sich als hochprofessionell verstehen, wird an solchen Kleinigkeiten aber schon deutlich. Perfektion ist jedoch sicher etwas anders als die vollkommene Wiederherstellung von Probenbedingungen, wie eine Choreografin sie vor 50 Jahren verlangte.
Die Choreografin Bronislava Nijinska – die Schwester des genialen Tänzers Vaslaw Nijinsky – hatte zum Beispiel die „Macke“, dass sie die schweißnassen Körper von Tänzerkollegen nicht anfassen mochte. Darum choreografierte sie stets mit dünnen Handschuhen. Nun muss deshalb aber niemand, der ein Stück von Nijinska einstudiert, deshalb zwangsläufig auch mit Handschuhen arbeiten.
Es ist ein bisschen schade, dass im Tanz dieser gesunde Menschenverstand oft keine große Rolle spielt, sondern es vielmehr nicht selten um das Nacheifern im absolut formalistischen Sinn geht. Oberflächlichkeit ist dann das Ergebnis, wenn man nicht aufpasst. Und die Prioritäten verschieben sich vom Wesentlichen hin ins unwichtige Detail, das es schließlich auch gibt.
Das ist denn auch das Manko dieser zu sehenden Proben unter Endicott: Zum Inhaltlichen des geprobten Tanzes sagt sie schlichtweg nichts. Einfach gar nichts. Auch Demis Volpi versäumt es, hier mal nachzuhaken. Und so wirken die Proben auch beim zweiten Durchlauf, der von Ungenauigkeiten schon bereinigt ist, noch nicht ganz spannend. Man will ja schließlich schon wissen, warum da getanzt wird, worum es also geht. Und auch die Musikauswahl wird nicht willkürlich gewesen sein. Pina Bausch wird sich was mit ihrem Stück gedacht haben.
Nur soviel: Die Frauen fallen hier in einer Sentenz an den Händen ihrer Partner synchron zu Boden und landen in zusammen gekauerter Position. Sie erholen sich aber erstaunlich rasch wieder und stehen dann bereit für weiteren Tanz. Solche Momente des Bruchs und scheinbarer Spontanheilung sind typisch für die Werke von Pina Bausch. Da diese ihre Tänzerinnen oft auch noch in Abendkleider mit Spaghettiträgern kleidete, wird das Frauenbild ihrer Zeit somit wortlos kritisiert: Frauen als Anhängsel von Männern sind gefangen in ihrer eigenen Gefälligkeit. Aus diesem Gefallenwollen wird hier wiederum wortwörtlich Fallenwollen, also Fallen.
Man könnte jetzt noch ausführen, dass bei Sigmund Freud das Moment des Fallens im Traum für eine ganz bestimmte Urangst gerade von Frauen steht: für die Angst, im moralischen Sinne zu versagen.
Aber das ist dann schon eher was für die Diskussion der Premiere, also des ganzen Stücks.
Demis Volpi wählte Pinas Stück weniger aus feministischen Absichten heraus als vielmehr aus historischen Gründen: „Ich fand die Sicht aus dieser Zeit heraus interessant“, sagt er, und er spielt darauf an, dass Bausch und Neumeier im September 1973 ihr Lebenswerk, sozusagen die Gründung bzw. Übernahme einer eigenen Compagnie, begannen.
Dass John Cranko wenige Monate zuvor verstarb, schürte damals den Erwartungsdruck vor allem auf John Neumeier. Tatsächlich gelang es ihm, nach dem „Stuttgarter Ballettwunder“, das Cranko bewirkt hatte, ein „Hamburger Ballettwunder“ zu bewirken. Und Pina Bausch, die in den ersten Jahren fast gar keinen nennenswerten Erfolg in Wuppertal hatte, gelang es langfristig, zur First Lady des Tanztheaters überhaupt zu werden.
Insofern ist die Anwesenheit der Bausch (bzw. eines Stücks von ihr) beim Neubeginn vom Hamburg Ballett wirklich ein schönes Apercu.
Als zweites Stück wählte Demis Volpi eine ganz andere Ästhetik. Dennoch gehört sein Choreograf, der Altmeister Hans van Manen, generationsmäßig gut zu Pina. Sie wurde 1940 geboren (und verstarb 2009), er ist Jahrgang 1932. Damit ist er einer der ältesten lebenden Choreografen der Welt.
Van Manen ist berühmt-berüchtigt für seinen konzisen, nicht sehr abwechslungsreichen, dafür aber schwer prägnanten Stil. Flex-Füße zu gestreckten Beinen gibt es auch bei Neumeier oft, bei van Manen obsiegt aber immer die Einbindung in hoch ästhetische, gleitende, erotisierte Bewegungen. Szenischen Ausdruck und expressive Emotionen jedweder Art findet man bei John Neumeier; Hans van Manen kapriziert sich hingegen lieber auf das Zelebrieren einer stolzen, unnahbaren Schönheit, die ein gewisses Kribbeln hervorrufen soll.
Tango ist genau sein Ding – nicht umsonst ist Musik von Astor Piazzola Teil seines Stücks „Variations for Two Couples“. Die Hamburger Bühnenstars Madoka Sugai mit Alexandr Truschund Ida Praetorius mit Matias Oberlin zeigen jetzt in der Werkstatt, wie das vonstatten geht.
Die Damen in Spitzenschuhen sind fast ein Machtfaktor, so sexy lässt sie ihr Tanz erscheinen. Die Herren müssen damit fertig werden und reagieren, indem sie schauen und anfassen, ihre Partnerinnen heben und drehen, lenken und halten. Manchmal ist die Spannung zwischen beiden so groß, dass es fast ins Aggressive umschlagen könnte. Nicht so im Ballett, nicht so bei van Manen! Alle bleiben auf Linie, und ein wenig erinnert die geölte Schönheit dieser Paare an Turniertänzer.
Das Tanzvokabular ist allerdings ein anderes. Seitlich oben offene Arme mit aufgestellten Händen erinnern an antike Statuetten aus Kreta. „Eine enorme Intensität“ attestiert Hausherr Volpi den Stücken von van Manen. Und zitiert den Altmeister: „Ein Stück muss immer auch etwas Sinnliches haben. Die Erotik ist ein Grundpfeiler der Menschheit.“
Nun ja. Das ist in der Tat ein gewichtiges Argument gegen den üblichen, vor allem in Berlin haushoch geförderten, gymnastikähnlichen und unmusikalischen Contemporary Dance in unästhetischen Schlabberklamotten, der zwar eitel und narzisstisch wirkt, aber ganz sicher nicht erotisch.
Im feinen Hamburg hat man damit nicht viel zu tun, beim Hamburg Ballett schon gar nicht. Ein Grund mehr, es zu besuchen!
Jozef Varga, der van Manens Werk hier einstudiert, war bei der Kreation des Stücks in den Niederlanden mit dabei, tanzte selbst mit. „Jeder Blick ist hier wichtig“, meint er. Das wollen wir hoffen.
Da darf die Femme fatale stolzieren, ihren Partner umgarnen, ihn aufreizend mit der Schuhspitze auf der Brust treffen, damit er wiederum gockelhaft den Machopart erfüllt. Ein bisschen leidet die Arbeit von van Manen unter Klischeedenken, aber das ist nichts Neues. Die Überbetonung von Erotik und Sexus führt zwangsläufig zur Einseitigkeit.
Als ein Stück von vieren ist das gut auszuhalten. Schließlich kommt man so in Wallung. Einen ganzen Abend mit Stücken von Hans van Manen würde ich allerdings eher langweilig finden. Zu sehr ähneln sich seine ansonsten abstrakt gehaltenen Stücke auch noch.
Ganz anders die choreografische Handschrift von Demis Volpi: Sie ist vielseitig und wechselbar, spielt mit verschiedenen Gefühlen und Situationen, ist mal konkret situativ, dann wieder abstrahiert emotional.
Seine Stärke ist die Umsetzung von Handlungen – inneren und äußeren – in Tanz. Bei seinem ersten großen Erfolg in Stuttgart, dem Kinder-und-Erwachsenen-Ballett „Krabat” (nach dem bekannten Buch von Otfried Preußler), konnte er genau das fabelhaft zeigen.
Seine Schwäche ist zeitweise das Außerachtlassen der inhaltlichen Wirkung, zumal im Gesamtkontext. Ein Schwan, der von Kindern lustvoll gelyncht wird, ist nicht lustig, sondern steht im Ballett, das den Schwan traditionell als Symbol für das Gute hat, für eine Verrohung. Der Lynchvorgang als Pointe von Volpis Schulballetts „Karneval der Tiere” ging insofern nicht so gut ab. Und seine „Salome” nach Oscar Wilde verfing sich im frauenfeindlichen Klischeedenken. Aber Volpi kann auch anders. In Düsseldorf kreierte er eine neue „Giselle”: als Lesbendrama. Und seine erste Hamburger Einstudierung verspricht nochmals mehr Einfühlungsvermögen.
„The thing with feathers“ („Das Ding mit Federn”) heißt sein Beitrag zu seiner ersten Hamburger Premiere. Der Titel bezieht sich auf ein Gedicht der US-amerikanischen Lyrikerin Emily Dickinson und bezeichnet die Hoffnung, die für Dickinson wie ein freier Vogel war, der in jedem von uns lebt.
Der Dirigent Vitali Alekseenok, belarussischer Musikkünstler und auch Autor, Jahrgang 1991 und seit dieser Spielzeit Chefdirigent der Deutschen Oper am Rhein in Düsseldorf, hatte die Idee, dazu eine bestimmte Musik von Richard Strauss zu verwenden. Der komponierte die „Metamorphosen für 23 Solostreicher“, ein Spätwerk, nachdem er 1945 die in München von den US-Amerikanern und den Briten gezielt zu Ruinen zerbombten Kulturstätten gesehen hatte.
Der hoffende Gedanke, dass auf den Trümmern der NS-Zeit etwas Neues, Großes, Menschliches entstehen kann, trägt durch das ansonsten tragisch gefärbte Werk. Volpi bezeichnet es als „Klangwolke“, als „einen Raum“, in den er sich mit den Tänzern begab.
„Sehnsucht nach etwas“ – dieses Gefühl sei hier prägend für ihn gewesen, so Demis Volpi. Ihn habe dabei die Frage geleitet: „Kann man im Tanz die Abwesenheit von etwas erzählen?“
Gezeigt wird eine Szene, in der Tänzerinnen und Tänzer von beiden Seiten der Bühne aufeinander zu laufen, um sich paarweise zu umarmen. Manchmal umarmt sich auch jemand selbst. Das Timing ist hier jedoch sehr wichtig – und die Platzierung im Raum.
Und genau an der will Volpi vor Publikum live arbeiten. Und so lässt er das eine Paar sich weiter nach links, ein anderes weiter nach vorn schieben. Emily Mazón soll weiter zur Mitte rücken, andere erst vor, dann wieder zurück.
Silvia Azzoni und Alexandre Riabko, beide Urgesteine der Company, die in einem Alter sind, in dem sie in anderen Ballettensembles längst aussortiert worden wären, tanzen hier genauso glaubwürdig und engagiert die Suche nach Menschlichkeit wie ihre ganz jungen Kolleginnen und Kollegen.
Mit Jack Bruce und Alessandro Frola hat Volpi ein neues, hochinteressantes Tänzerpaar geschaffen. Wie sie, teils spiegelbildlich, teils in kontrahierender Aktion, das Zusammenfinden, Zusammentanzen gestalten, ist modern, komplex und doch verständlich, es hat Sexiness und doch auch Esprit. Gerade im Miteinander, so der tänzerische Tenor, muss sich, bei allen Zweifeln aneinander, das Menschliche bewähren.
Kreiert wurde das „Thing“ für eine kleinere Bühne, sodass jetzt die Umverteilung der Tanzenden auf die größere Spielfläche viel Mühe bereitet.
Aber die Stimmung steigt, wenn man die Tänzerinnen und Tänzer hier zur rauschhaften Musik von Strauss ausgelassen und doch kontrolliert mit Sehnsucht und Erinnerung kämpfen sieht.
Die Tänze, die sich hier aus Umarmungen ergeben, sind voll solcher Gefühle – und bezeugen die Geburt von Hoffnung aus Tragik.
Nach so viel Tiefgang hätte es jedes andere mit tiefsinnigen Themen hantierende Stück schwer. Volpi komponiert darum ein besonders leicht wirkendes Werk als Gegenpol.
„The Times Are Racing“ („Die Zeiten rasen“) von Justin Peck feiert das US-amerikanische Lebensgefühl, die amerikanische Unkompliziertheit, auch die amerikanische Sucht, alles stetig zu vergrößern und in Superlative zu treiben.
Die Schritte, die hier getanzt werden, sind technisch allerdings alles andere als simpel. In Turnschuhen wird gesprungen, sich gedreht und gewendet, verschiedene Absprungmöglichkeiten kommen zum Vorschein, und alle möglichen Verbiegungen der Körper werden eingesetzt.
Der für die Einstudierung zuständige Coach Craig Salstein hat zudem anscheinend den Broadway, an dem auch Choreograf Peck schon mehrfach arbeitete, im Blut. One, two, three, four, five, six, seven, eight and one, two, three… Laut zählt der Meister ins Mikro und macht den Tanzenden mächtig Dampf. Und er weiß, wie man aus einer Probe eine Show vor Publikum macht.
Futaba Ishizaki und Matias Oberlin, Louis Musin und Caspar Sasse und allen voran Ida Stempelmann bewegen sich dafür derart energiegeladen und speedy, blitzschnell und hochdramatisch, dass man das Auge nicht abwenden mag.
Überraschend ist der Inhalt des Stücks: Laut Demis Volpi geht es um das Recht auf Protest, auf das Recht, sich zusammenzuschließen, um etwas zu bewirken (etwa wenn die Tänzer in gebückter Haltung sozusagen konspirativ einen Kreis bilden) – also es geht um genau jenes Recht, das der gegenwärtige Kapitalismus oft noch mit Unterstützung korrupter Gewerkschaften weltweit abzuschaffen gedenkt.
Hier wird der Freiheit der Menschen, sich für ihre Rechte einzusetzen, jedoch tänzerisch ein Denkmal gesetzt. Kaum zu fassen, wie fetzig das abgehen kann!
„Stempelmann!“ Die Anrede einer Tänzerin mit dem Nachnamen durch den Ballettmeister Salstein macht Ida Stempelmann hier einerseits zum Star, andererseits wird dieser Status auch ironisiert. Nicht ganz einfach für eine zarte Seele auszuhalten, aber man muss sich da wohl keine Sorgen machen. Die Tänzerin wirkt glücklich und selig, sich zeigen und auspowern zu dürfen.
Hier geht es halt auch um den Unterhaltungswert. „Hang on Sasha Trusch for while!” – Also: Dranbleiben! Vieles, das einfach nur kurz eingeworfen wird, hat hier fast hintersinnige Bedeutung: eine Probe als unwillkürliche Lyrikveranstaltung.
„Overcross“, also über Kreuz, muss sich gedreht werden und später müssen alle zwanzig Tanzenden synchron eine Art Flugpose mit oben seitlich ausgestreckten Armen einnehmen. Wow!
Die Flugpose ist ein Leitmotiv und passt bildlich auch schön zum vorangegangenen Stück von Volpi.
Nur die Musik dazu ist gewöhnungsbedürftig. Der heute 43-jährige US-amerikanische Komponist Dan Deacon hat mit seinem hier eingesetzten Album „America“ erst Punkrock, dann Weltmusik und schließlich Hardrock aus der Konserve der E-Musik parat, ganz ohne Gesang allerdings. Alles in allem wirkt diese Musik zwar rhythmisch stark, ansonsten aber etwas banal und trivial.
Wer mag, benutzt – obwohl das bei der Werkstatt von der Lautstärke her nicht notwendig war – einfach Ohrstöpsel und erfreut sich, die Musik eher ausblendend, am Tanz pur.
Fürs Schlusswort beschwört Demis Volpi die Tanzlust, die nicht nur für ihn ein veritabler Grund ist, immer und immer wieder zum Hamburg Ballett zu pilgern. Für die kommende Zeit und für die Premiere „The Times Are Racing“, sagt Volpi, wünscht er sich, dass das Publikum seine bisherige Auffassung von Ballett erweitert und annimmt, was es alles an Ballett gibt, was diese Kunstform alles ermöglicht. Also: John Neumeier ist in Hamburg nicht vergessen. Aber es kommt etwas Neues dazu. Bravo!
Gisela Sonnenburg
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