Mit Joseph Beuys, den er durchaus verehrt, hat der Bildhauer und Maler Rolf Biebl nur bedingt Ähnlichkeit. Auch seine Skulpturen und Bilder erinnern eher nicht an die Fettecken und hingetupften Hirsche des Erfinders der sozialen Plastik. Dafür gibt es eine Verbindung im Geiste, die beide Künstler aufnimmt und mit einem passend Begriff belegt: Ihre Werke entspringen der Suche nach Wahrhaftigkeit. In der Maigalerie der Tageszeitung junge Welt zeigt Biebl pan-erotische Ergebnisse unter dem Titel „Flächennutzungsplan“. Nacktheit als Zeichen der Zurückgeworfenheit auf sich selbst. In der Galerie Gesellschaft sind seine Werke hingegen nicht nur nackig, sondern auch deftig: der Akt als eigentlicher Wille der Welt.
Rolf Biebl, 1951 im Erzgebirge geboren und an der Hochschule in Berlin-Weißensee ausgebildet, zickt nicht lange rum. Seine Werkreihe „Homo abstractus“ in der Galerie Gesellschaft und im Katalog umfasst knallbunte Gemälde, die mal an die Belle Époque, mal an den Surrealismus erinnern. Tänzerisch ist ohnehin jedes seiner Werke.
Im Zentrum: der weibliche Körper. Hinzu kommen Skulpturen, die diesen Dialog fortführen.
Ein groß gebauter Kerl findet sich als Kunstwerk wieder. Mehr als zwei Meter hat er an Höhe. Stramm, zugleich verletzlich steht er in hellem Holz da. Den linken Fuß hebt er wie zum Gehen, nach dem Vorbild des antiken Kouros. Der rechte Arm will die Gegenbewegung leisten und sanft vorschwingen. Bauch und Geschlecht befinden sich in harmonischer Ruhe. Wiewohl der magere Leib zu schluchzen scheint und an den leidgeprüften Torso des Gekreuzigten erinnert. Und, oh weh: Der Kopf fehlt.
Diese Pointe ließ Biebl sich nicht nehmen. Männer sind für ihn oft destruktive Spielbälle ihrer eigenen Triebe. Bis zur Hirnlosigkeit. Gemarterte aus gutem Grund, den sie in sich selbst suchen müssen. Männerbilder als Bekenntnisse. Ganz anders ist Biebls Blick auf die Frauen: nicht anklagend, sondern begehrend und mitfühlend nimmt er sie wahr.
Stolz stehen seine Weiber da, vor wilden Schatten ihrer selbst oder vor kopflosen Männern. Da gibt es einen Akt mit Brille, im Liegen. Einen anderen im langsamen Schreiten. Eine Nackte ficht im Sitzen Kampftänze mit ihrem lilafarbenen Spiegelbild aus. Noch eine andere kniet wie ein Ritter, während im Hintergrund Männerbeine zappeln.
Das Schamanische an Sexualität und Sehnsucht findet expressiven Ausdruck. „Bei mir geht es ständig um Widersprüche“, verrät Rolf Biebl im hoch intelligenten Interview mit Kurator Andreas Wessel, welches im Katalog zur Ausstellung zu lesen ist. Sex kann demnach auch abstrakt sein. Oder was würde Beuys dazu sagen? Würde er gar erschrocken schweigen?
Ehrfurcht, Mitleid, Schrecken – solche Gefühle locken die Werke von Biebl oft hervor. In der Maigalerie der jungen Welt zeigt er nun Skulpturen, Gemälde, Zeichnungen und Graphiken unter dem neugierig machenden Titel „Flächennutzungsplan“.
„Flächennutzungsplan von Berlin“ steht auf den bemalten Blättern, die „nackt“, also ohne Rahmen und Glasscheibe, an der Wand prangen. Da ist die Herkunft der Originaldokumente verzeichnet: „Senat für Bau- und Wohnungswesen“. Eine Jahreszahl gibt es auch: 1965. Die Papiere stammen aus jener Ära West-Berlins, als Willy Brandt zum dritten Mal Regierender Bürgermeister war. Überraschenderweise zeigen sie auch den Osten der Stadt. Rolf Biebl fand die angegilbten Blätter in einer Altpapiertonne: als inspirierende Fundstücke.
Zart gezeichnet ist die unbekleidete Frau, die sich nun in aller Ruhe über den Flächennutzungsplan bis Hennigsdorf und Falkenhagen ausbreitet. Ihr Körper ist teebraun getuscht. Den Kopf hält sie gesenkt, die Augen sind geschlossen, die Fingernägel rot lackiert. Sie betastet sich. In sich gekehrt, verschafft sie sich stille Lust. Und die Berliner Havel fließt durch sie hindurch.
Auf so eine Idee muss man erstmal kommen. Für Biebl, der am Nikolaustag 1951 im sächsichen Klingenthal zur Welt kam, als Jungmann Deutscher Meister im Skilanglauf war und in den 80er-Jahren mit der Skulptur „Vinetamann“ am U-Bahnhof „Vinetastraße“ in Berlin-Pankow berühmt wurde, ist Intuition wichtig. Und sein Handwerk als Künstler: Er sei „geprägt von den figürlichen Sachen“, das gibt er unumwunden zu.
Biebl hat an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee studiert. Zunächst allerdings Architektur, bis er merkte, dass er mit seinen Vorstellungen à la Corbusier in der DRR irgendwie nicht weit kommen würde. Er sattelte um auf Bildhauerei. Und entpuppte sich als großes Talent. Später hat er selbst in Weißensee gelehrt, hat Studenten geprägt und inspiriert.
Nach dem Studium, so Biebl, explodierte in ihm das Schöpferische. Aufenthalte im Westen führten keineswegs zu verstärkter Sehnsucht dorthin. Aber beide Welten zu kennen, tat ihm gut. Erweitert hatte er seinen Horizont schon als Meisterschüler im ungarischen Budapest. Dort fand er – wieder waren es Fundstücke, die ihn anregten – in einem Antiquariat deutsche Ausgaben der Werke von Sigmund Freud. Dessen Aufteilung der Seele in Ich, Es und Überich beeindruckte Biebl, der durchaus als moralästhetischer Künstler zu bezeichnen ist.
Trotzdem gehört er nicht zu den Beschönigern, sondern zeigt, wo es kneift und drückt, wie sich Menschen verändern und verbiegen, um der Welt standzuhalten.
„Ohne Titel“ nennt er eine überlebensgroße Statue, die einen aufrecht stehenden, abgemagerten Mann in einer offenkundig belastenden Situation zeigt. Die Unterarme sind hochgebeugt, die Hände umfassen unsichtbare Tragegurte. So viel Schicksal kann kein Rucksack fassen. Darum sieht man ihn nicht. Die benachbarte Figur, etwas kleiner, glänzt. Dieser Mann ist schmal, aber sein Kopf ist groß. Das Gesicht ist hochgereckt, gen Himmel, wie im Schmerz. Es hat Ähnlichkeit mit den Zügen des Künstlers, mit einer markanten Nase und schön geschwungenen Unterkiefern. Aber auch hier ist das Leben ein Kampf mit der Qual. Vielleicht auch mit sich selbst.
Männliche Figuren von Biebl weisen starke Deformationen und Verkantungen auf. Bei den Frauen attestiert Biebl sich selbst eine „Beißhemmung“. Ihre Sanftmut will er betonen, während ihm bei den Männern oft das Selbstzerstörerische auffällt. Der Kunsthistoriker Fritz Jacobi wähnt gar Parallelen zwischen Biebl und Caspar David Friedrich. Beide, so Jacobi, arbeiten mit einer Schockwirkung, die dann die Empathie neu zünden lassen will.
Schockierend sind Biebls Figuren in der Tat.
„Madonna“ heißt das jüngste Werk in der Maigalerie-Ausstellung. Das Gemälde zeigt eine blonde Frau, flankiert von zwei weiteren, die bunt maskiert sind: Anna selbdritt im Stehen, nackt, ohne Jesuskind. Das Trio hat das Flair von Karnevalistinnen oder Swingerclub-Schönheiten. Schamhaft-lüstern schaut die Madonna drein, ihr Körper verrät tänzerische Bewegungen. Doch am linken Bein wächst ihr ein Stück Holz. Oder sie selbst wächst gerade aus dem Holz heraus. Ist sie eine Daphne retour? Kommt so die innere Natur des Menschen zum Vorschein? Oder hat der Nachname des Künstlers eine phonetische Akzentuierung Richtung „Bibel“ erfahren und muss darum doch stärker religiös gedeutet werden?
Nur Eines ist sicher: Rolf Biebl verleiht seine Seele an seine Geschöpfe. Da ist nichts kalt oder spekulativ, sondern Leidenschaft quillt aus seinen Werken. Biebls Künstler-Ich nimmt einen an der Hand und mit hinaus in die Welt. Und das Ich, das Es und das Wir sind hier vereint.
Gisela Sonnenburg
„Homo abstractus“ bis zum 4. Oktober 24 in der Galerie Gesellschaft, Auguststr. 83, 10117 Berlin, nur Do – Sa, 14 – 18 Uhr, oder nach Vereinbarung (Tel. 0172 600 20 46). Der große Katalog kostet ganze 5 Euro, für 60 Euro gibt es die Vorzugsedition mit Siebdruck.
Die Ausstellung „Flächennutzungsplan“ ist ebenfalls bis zum 4. Oktober 24 von Mi – Fr 13 – 18 Uhr in der Maigalerie, Torstr. 6, 10119 Berlin zu sehen.