Das Floß der Kämpfenden Brillant und ergreifend: „Das Floß der Verdammten“ von und mit Hannes Zerbe und Rolf Becker in der Maigalerie in Berlin und als DVD

"Das Floß der Verdammten" in der Maigalerie in Berlin

„Das Floß der Verdammten“ lockte als Konzert mit DVD-Vorstellung in die Maigalerie in Berlin. Foto: Gisela Sonnenburg

Am Ende gab es weiße Rosen für die Künstler und begeisterte, auch ergriffene Gesichter bei den Zuschauenden. Prominenz wie die Chansonsängerin Gina Pietsch war am Dienstagabend gekommen, um „Das Floß der Verdammten“ der Jazz-Koryphäe Hannes Zerbe und des Schauspielers Rolf Becker, live aufgeführt und als DVD mit der Uraufführung vorgestellt, zu erleben. Es ist ein brillantes und bedeutendes Werk, und seine Absicht, den Kampfgeist zu erwecken, ist entscheidend. Die Maigalerie der jungen Welt in Berlin-Mitte war angefüllt mit neugierigen Menschen von großem Horizont, die bereit waren, sich auf historische Details ebenso einzulassen wie auf die brennende Aktualität des Themas. Vor Beginn des Konzerts erläuterte Dietmar Koschmieder, Geschäftsführer der jungen Welt, welche die DVD herausgibt, was es mit dem Titel des Kunstwerks und dem Inhalt, der dahinter steht, auf sich hat.

Dazu muss man in Gedanken ein Stück zurückgehen. Im Dezember 1968 sollte das Oratorium „Das Floß der Medusa“ des Komponisten Hans Werner Henze mit dem Libretto von Ernst Schnabel in Hamburg uraufgeführt werden. Doch der beteiligte Opernstar Dietrich Fischer-Dieskau und einige Mitglieder des RIAS-Kammerchors aus Berlin verlangten, die rote Fahne, die Henze über der Bühne platziert hatte, zu entfernen. Henze, schwul und Kommunist, zudem Komponist einiger Ballettmusiken, lehnte das ab – und so kam es, statt zu einer Uraufführung, zu demonstrativen Protesten der Konservativen vor der damaligen Ernst-Merck-Halle im Park Planten un Blomen. Die Polizei rundete das negative Ereignis ab und nahm unter anderem den Künstler Henze fest, weil dieser die unrechtmäßige Festnahme eines Konzertwilligen – der kürzlich Abonnent der jungen Welt wurde – als angeblichen Störer zu verhindern suchte.

Henze wurde später zur Zahlung von 2.400 DM verurteilt, der Konzertwillige indes freigesprochen, weil er sein Eintrittsticket für die Uraufführung vorweisen konnte.

"Das Floß der Verdammten" in der Maigalerie in Berlin

Dietmar Koschmieder bei der Begrüßung zum Konzert in der Maigalerie der jungen Welt in Berlin. Foto: Gisela Sonnenburg

Rund 50 Jahre später wurde bei der Künstlerkonferenz der Zeitschrift M & R, die wie die junge Weltim Verlag 8. Mai in Berlin erscheint, in Erinnerung an diesen skandalträchtigen 9. Dezember 1968 ein Auftragswerk uraufgeführt, welches auf dem „Floß“ von Henze beruht: „Das Floß der Verdammten“ des Kult-Jazzers Hannes Zerbe entstand unter Mitwirkung des vor allem aus der TV-Serie „In aller Freundschaft“ sehr bekannten Schauspielers Rolf Becker. Er machte den Text von Ernst Schnabel für die neue musikalische Version vom „Floß“ passend.

Mit drei Chören, einer Sopranistin, einem Bariton und einem Sinfonieorchester ist das für Henzes Werk benötigte Personal relativ aufwändig. Zerbe und der Jazz hingegen kommen mit dem Klavier, einem Schlagzeug, einem Altsaxophon und der Klarinette aus.

Rolf Becker ist als Sprecher im „Floß der Verdammten“ stimmlich und auch gestisch stark präsent. Was für eine Stimme! Er kann damit erwecken und alarmieren, Hoffnung säen und vernichten, er kann jede Stimmung und jedes Geschehnis gleichermaßen illustrieren und kommentieren. Man ist ergriffen und mental ganz bei denen, die hier auf einem Floß dem Tod geweiht sind, weil die Oberschichten den Vertrag zur Rettung ihrer Untergebenen nicht einhielten.

"Das Floß der Verdammten" in der Maigalerie in Berlin

Rolf Becker und die Musiker vor dem historischen Foto der Festnahmen bei den Protesten gegen die Uraufführung von Henzes „Das Floß der Medusa“ von 1968. Foto: Gisela Sonnenburg

Die Geschichte, die beschrieben wird, ist historisch verbürgt. Im Juni 1816 segelte die mit etwa 400 Menschen bestückte französische Fregatte „La Méduse“, benannt nach der eine Schockstarre auslösenden antiken Sagengestalt Medusa, gen Afrika: um im Senegal eine durch Napoleon verlorene Kolonie erneut in Besitz zu nehmen. Nach einem Schiffsunglück füllen die Passagiere aus der Oberschicht die Beiboote. Diese sollen ein aus den Masten der „Medusa“ gezimmertes Floß mit den restlichen etwa 150 Menschen bis zur Küste ziehen. Doch aus der Gier, schneller voranzukommen, werden die Seile gekappt. Das Floß treibt führungslos auf dem Meer, fast alle kommen dabei ums Leben.

„Diese Geschichte von Verrat und Beständigkeit hat die Geschichte nicht verändert“, heißt es im Libretto. Doch die Erinnerung an diesen Verrat macht den Geist der Auflehnung unsterblich. Bei Henze heißt es übrigens noch „Verrat und Standhaftigkeit“ statt „Verrat und Beständigkeit“, wobei die Tugend beide Male den Mulatten Jean-Charles betrifft, der noch im Koma ein rotes Tuch bei sich hat. Das hielt er zuvor wie eine Flagge empor. Das berühmte Gemälde „Das Floß der Medusa“ („Le Radeau de la Méduse“) von Théodore Géricault, 1819 gemalt, zeigt Jean-Charles mit dem roten „Fetzen“ an der Spitze des dem Untergang geweihten Floßes.

„Das Floß der Medusa“

Rolf Becker als Sprecher beim Konzert von „Das Floß der Medusa“ in der Berliner Maigalerie. Foto: Gisela Sonnenburg

Als Rudolf Nurejew zum ersten Mal in Paris war – 1961 – besuchte er gezielt den Louvre, um dieses Bild, das er aus der Sowjetunion kannte, im Original anzusehen. Es hat eine so starke allegorische Bedeutung, zeigt den Untergang verratener Menschen so exemplarisch, dass auch der Tanzstar sich der Wirkung nicht entziehen konnte.

Als Ballett existiert der Vorgang ums „Floß“ trotzdem noch nicht. Es wird vielleicht Zeit, dass das mal jemand in Angriff nimmt. Immerhin hat Géricault den ganzen Missstand, der 1816 zur Entlassung des zuständigen Ministers und etlicher Marineoffiziere führte, mit seinem drei Jahre später entstandenen Bild vor dem Vergessen gerettet. Jetzt könnte eine tänzerische Inszenierung die brennende Aktualität des Themas verdeutlichen.

Zu Beginn des Musikstücks erklärt aber erstmal der Sprecher Rolf Becker seine Rolle: Er verkörpert den Part des Fährmanns. Wie Charon in der antiken Mythologie vermittelt er zwischen den Lebenden und den Toten. In Henzes geplanter Uraufführung sollten die Darsteller der Lebenden links stehen und, wenn sie versterben, auf die rechte Seite der Bühne gehen.

Rolf Becker ersetzt solche szenischen Bewegungen mit seiner Sprechkunst, mit seiner Mimik und auch der expressiven Körpersprache. Mal hebt er zornig den Arm, als wolle den Göttern Paroli bieten. Dann wieder zeigt er mit dem Finger auf jene hier imaginäre Clique des Gouverneurs, die schuld ist am Tod vieler Menschen. Das wirkt hier, auf engerem Raum als auf der Bühne, stark dramatisch.

Die Musik von Hannes Zerbe ist anfänglich leicht und fast vornehm, färbt sich dann aber dunkel, wird mysteriös. Denn nach zwölf Tagen auf hoher See endet das Sein der Fregatte „La Méduse“, indem das Schiff Medusa selbst erstarrt: indem es auf einem Riff strandet.

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Drei Tage versucht die Mannschaft, es wieder flott zu machen. Dann droht es zu kentern. Der Gouverneur, um dessen Flaggschiff es sich handelt, geht als erster von Bord, lässt sich ins erste Rettungsboot hieven. Jemand will ihn dabei erschießen. Doch ein Füsilier fällt ihm in den Arm. Alle anderen stehen dabei, sehen tatenlos zu.

In Henzes „Floß“ gibt es eine weibliche Gestalt, die den Tod verkörpert: Madame La Mort. Edda Moser sang bei der geplanten Uraufführung – die als Mitschnitt von der Generalprobe existiert – diesen Part. In Zerbes „Floß“ wird Madame La Mort beschwört, zitiert, beschrieben. Und sowie die Axt der Reichen die Verbindung zum Floß mit den armen Seelen kappt, ruft sie diesen zu: „Kommt jetzt!“

Doch die Menschen kämpfen um ihr Recht auf Überleben.

Wie ein übermächtiger, gerade noch lebender Kadaver bewegt sich ihr Floß in den Wellen. Mensch und Natur sind hier keine Freunde. Aber auch der Mensch ist hier des Menschen Wolf.

„Das Floß der Medusa“

Beim Applaus glühten die Wangen und die Herzen: Rolf Becker (mittig), Hannes Zerbe (links), Christian Marien und Gebhard Ullmann (rechts). Foto aus der Maigalerie: Gisela Sonnenburg

Zerbes Komposition lässt dazu das Piano mal scheinbar sanft, dann wieder schräg und düster erklingen. Christian Marien am Schlagzeug weiß nicht nur laut, sondern auch zart mit Rhythmus zu malen. Gebhard Ullmann am Altsaxophon und Jürgen Kupke mit der Klarinette quäken, streicheln, erschrecken dazu. Der Grundton dieses Jazz ist eingängig, warmherzig und fast smart, aber immer wieder wird er durchbrochen und vermischt mit aufschreckenden Quertönen und überraschenden Akkorden. Spannungen werden aufgebaut und gelöst. Insgesamt ergibt sich eine Atmosphäre des Unheimlichen und des Grauens, die ästhetisch fasziniert und mitreißt.

„Zählt die Stunden mit der schwarzen Sonne“: Rolf Becker gibt die Gedanken und Gefühle der Sterbenden wieder, nimmt mal ihre Position ein, mal die ihres  gedanklichen Gegenübers. Als es nachts regnet, genügt der Regen nicht, um das Salz aus den Gesichtern zu waschen. Die wenigen Nahrungs- und Trinkvorräte auf dem Floß sind bald verbraucht. Wenn eine Welle das Floß unter Wasser setzt, werden die in der Mitte totgetrampelt. Über die Toten machen sich die Noch-Lebenden her, verspeisen sie. Aber immer mehr Menschen gehen auf die Seite des Todes. Madama La Mort gewinnt.

„Wo ist das Gesetz?“ Diese Frage bleibt in den Herzen aller, die sie gehört haben. Für die junge Welt hat sie derzeit eine besondere Bedeutung. Schon 26.000 Euro wurden gespendet, um ihr den Prozess gegen die Bundesrepublik Deutschland, der bald in die zweite Instanz geht, zu erleichtern. Denn die junge Welt wird vom Verfassungsschutz in seinen Berichten genannt, aus unserer Sicht zu Unrecht.

"Das Floß der Verdammten" in der Maigalerie in Berlin

Noch einmal das Standbild zum „Floß der Verdammten“: Die DVD dokumentiert die Uraufführung. Foto: Gisela Sonnenburg

„Ho-Ho-Ho-Chi-Minh!” Dieser Rhythmus, dem Sprachchor der Studentenrevolte von 1968 entlehnt, beendet das musikalische Werk von Zerbe. Bewusst abrupt wirkt der Schlussklang: wie eine Aufforderung, selbst weiter zu denken, weiter zu handeln. Am Dienstag wurden beim tosenden Applaus in der Maigalerie ebenfalls „Ho-Ho-Ho-Chi-Minh!“-Rufe laut, in allen Tonlagen. Was Dietmar Koschmieder in seiner Begrüßung gesagt hatte, wurde real: „Wir bringen etwas zusammen!“
Gisela Sonnenburg

„Das Floß der Verdammten“ von Hannes Zerbe und Rolf Becker ist für nur 12,50 Euro als DVD zu haben: www.jungewelt-shop.de und www.mr-onlineshop.com

 

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