Vorab eine Anmerkung: Gottesdienste mit kleinen Ballettstücken darin gibt es leider auch dieses Jahr nicht eben in rauen Mengen zur Weihnachtszeit. Fehlt es an Mut? Immerhin wird viel gesungen, auch wenn die positive Energie, die von graziösen Tanzenden ausgeht, somit aus den Gotteshäusern ausgesperrt bleibt. Die Engel unter den Pagenkopf- und Goldlockenperückenträgern flüstern sich darum sicher wieder ein seufzendes „Schade“ zu. Dafür füllen sich aber die Opernhäuser landauf, landab mit dem erhebenden, mitreißenden Flair der großen Tschaikowsky-Ballette. Vor allem „Der Nussknacker“ und „Schwanensee“ werden als Weihnachtsklassiker in verschiedensten Fassungen angereicht: Die Lebensfreude, die Leidenschaft und die große Liebe, die sie als Werte vertreten, begeistern und faszinieren gerade zur Festtagszeit. Und während Xin Peng Wang beim Ballett Dortmund sein letztes Weihnachtsfest als dessen Chef natürlich mit seinem jüngsten „Schwanensee“ vorbereitet, füllt das Staatsballett Berlin mit der seit 1997 in Berlin verfügbaren Version von Patrice Bart die Lindenoper. Bis nach Wien muss man hingegen für das tolle „Dornröschen“ von Martin Schläpfer reisen, während „Der Nussknacker“ beim Hamburg Ballett, beim Stuttgarter Ballett wie beim Semperoper Ballett aufwartet. Und zwar in ganz verschiedenen Versionen!
Zunächst aber ein ausdauernder Blick auf den Berliner „Schwanensee“: Die beiden Berliner Dauergast-Starballerinen Iana Salenko und Polina Semionva tanzen dabei alternierend die weibliche Hauptrolle, also die Doppelrolle der Odette und Odile. Sie können es, sie tun es schon beide gerade auch in dieser Version seit Jahrzehnten. Neu ist ihr Held, um den sie sich gewissermaßen streiten könnten: Martin ten Kortenaar ist in allen Besetzungen ihr melancholischer Prinz Siegfried. Der in dieser Version stets tragisch verenden wird…
Aber: Weihe und Wehmut, Schönheit und Schrecken bilden eine köstliche Melange, die immer wieder verlockend und – fast ambivalent ist das – auch entsetzlich ist. Triumphiert hier doch am Ende der Tod, nachdem der edle Held den bösen Magier Rotbart erst erwürgt, um dann selbst mit dem Leben für seine Versuche, die verzauberten Schwäne zu retten, zu bezahlen.
Doch jedes Mal, wenn man in diese Vorstellung geht, hofft man wieder mit den Liebenden, dass das Gute siegen könnte… Und das ist so symbolisch! Unter dem Dirigat des Großmeisters am Pult Paul Connelly entwickelt die Staatskapelle Berlin zudem höchste Kräfte.
Tschaikowskys charmant-melodiöse Ballszenen, seine dramatisch-lyrische Zauberwelt und die wie ein rhythmischer Segensfluch ins Leben einbrechende große Liebe, die zu einem harten Kampf des Guten gegen das Böse führt, vermögen nach wie vor zu berücken. Turbulente höfische Tänze und wirbeliger Schwanentanz halten die Spannung aufrecht.
Und wenn dann die 27 Berliner Schwäninnen im Gefolge ihrer Königin auftanzen, weiß man nicht, ob diese verzauberten Kreaturen nicht doch menschlicher als die meisten Menschen sind. Lew Iwanow kreierte für seinen Chef Marius Petipa, der die bunten „Schwanensee“-Akte choreografierte, diese weißen Kult-Tänze.
O Schwanensehnsüchte, o sahniges Corps de ballet – nur der knallbunte „Nussknacker“ kann euch noch toppen!
Das Stuttgarter Ballett tanzt letzteren in der modernisierenden Version von Edward Clug, und darin geht es mehr um knackige Nüsse und um gemütliche Stofftiere als um traumhafte Märchen und Liebe in Multikulti-Welten. Die Farbe Gold scheint allerdings alles zu durchdringen, als ginge es frei nach Goethe um den bekannten mephistophelisch unterstützten Drang. Die Ausstattung stammt übrigens auch hier, in der 2022 uraufgeführten Inszenierung, von Jürgen Rose. Exotik und Niedlichkeit halten sich da die Waage.
Doch die Musik von Peter I. Tschaikowsky floatet bereits so viele Weihnachtsgefühle ins Ohr, dass das Publikum auch mit nicht immer ganz logischen Neuheiten vorlieb nimmt. Da dürfen dann die Leitern ins Nichts führen und die Nüsse wie UFOs ganz hoch oben schweben.
Das Hamburg Ballett wiederum weiß, was es an der famos-fabelhaften Fassung von John Neumeier hat. Und das Publikum weiß es auch! 1971 wurde das gute Stück in anderer Ausstattung in Frankfurt / Main uraufgeführt, die Hamburger Premiere mit all den Schleifen, Stickereien und Rüschen aus der Designerhand von Jürgen Rose stammt von 1974. Wie viele Vorstellungen man damit pro Jahr tanzen könnte, ohne, dass die Ränge halb leer blieben, wurde ja noch gar nicht versucht. Aber man kann schätzen, dass ein Neumeier-Nussknacker jeden zweiten oder dritten Tag für ein ausverkauftes Haus sorgen würde.
Die geniale Neumeier’sche Geschichte der Marie, die statt Weihnachten ihren zwölften Geburtstag feiert, und die außer ihrer Familie so skurril-liebenswerte Personen um sich hat wie den an Marius Petipa erinnernden Ballettmeister Drosselmeier – der sie später backstage ins Traumland des Theaters mit internationalen Tänzen entführt – ist so rührend und wahrhaftig für jede oder jeden, die oder der die Bühnenkünste liebt, dass man nicht umhin kann, es sich bei jeder Gelegenheit anzuschauen.
Eine spezielle Dresdner Version vom „Nussknacker“ tanzt hingegen das Semperoper Ballett in der Semperoper eben im sächsischen Dresden. Striezelmarkt-Hütten stehen vor dem Vorhang auf der Bühne, der Weihnachtsbaum wächst fast in den Schnürboden, Schneeflocken tanzen und der Palast im Reich der Süßigkeiten hat verdächtige Ähnlichkeit mit Dresdens Zwinger. Kein Gefängnis, sondern Museen beherbergt der schlossähnliche Bau übrigens. Auf der Bühne sind die Torbögen allerdings wie Zuckerstangen gebaut. Und Marie – die kleine Heldin, die oftmals nach der Literarvorlage von E.T.A. Hoffmann nur Klara heißt, heißt auch hier Marie – tanzt mittendrin…
Ihre Träume gelten der großen Liebe, und der Nussknacker-Prinz verheißt diese ebenso wie das im Stil von George Balanchine brillierende Paar der Zuckerfee mit Gemahl.
Eine Liebe, die auf eine tödliche Probe gestellt wird, verkörpern hingegen „Romeo und Julia“, die in der unerschütterlichen Choreografie von John Cranko erst höchst lebenslustig, dann nachgerade todessüchtig verliebt sind. Das Bayerische Staatsballett in München bestückt damit seinen Festtags-Spielplan, und wer weiß, wie schön man zu diesem Stück mit der Musik von Tschaikowskys Nachfolger in der Welt der Ballettmusik, Sergej Prokofjew, schwelgen kann, wird sich um die wenigen verbliebenen Tickets der beiden Vorstellungen am Zweiten Weihnachtstag reißen.
Und wer berechtigt großen Appetit auf Tschaikowskys „Dornröschen“ hat, scheue sich nicht, das Wiener Staatsballett zu besuchen. Die choreografische Inszenierung von Martin Schläpfer ist hinreißend und bietet außer fantasievoll-modischen Kostümen auch eine behutsam montierte Neufassung des Märchens, das jetzt einen Faun und eine Waldfrau zusätzlich beherbergt. Sogar für sehr zart Besaitete absolut empfehlenswert!
Wer aber bis jetzt noch keine Pläne hat, sich zur Weihnachtszeit ins Ballett zu begeben, sollte sich schleunigst bemühen, um sich und womöglich auch anderen diese Freude zu machen.
Viel Glück dabei und viel Genuss! FROHE WEIHNACHTEN 24!
Gisela Sonnenburg / Anonymous
Und bitte vergessen Sie nicht die Weihnachtsspende!
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