Weibliche Macht und männliche Unterlegenheit Definitiv erfolgreich: die erste Uraufführung in der Ära Volpi beim Hamburg Ballett mit dem bezaubernden „Slow Burn“ von Aszure Barton. Dazu gesellt sich etwas schwächer „Blake Works V – The Barre Project“ von William Forsythe

"Slow Burn" beim Hamburg Ballett

Lormaigne Bockmühl und Daniele Bonelli als ungewöhnliches Paar in einer ungewöhnlichen Pose in „Slow Burn“ von Aszure Barton beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Wenn sich zwei De-Luxe-Ballerinen treffen und auf der Bühne verschwören, um eine gute Show hinzulegen, dann darf man sich freuen. Beim Hamburg Ballett sind es die tolle Altmegäre Silvia Azzoni und die luzide Jungballerina Madoka Sugai, die von Beginn bis Ende des gestern uraufgeführten Stücks „Slow Burn“ ein sensibles Musterbeispiel an weiblicher Kraft und Zuneigung, an Liebespower und freundschaftlicher Energie hinlegen. Was für ein getanztes Manifest der Schönheit und der menschlichen Werte! Die Choreografin Aszure Barton hat das Potenzial der außergewöhnlichen Tänzerinnen erkannt – und ihnen eine zarte, aber strapazierfähige Beziehung für die edlen Körper und auch für die im Schiller’schen Sinn schönen Seelen maßgeschneidert. Man ist übrigens trotzdem auch auf Neubesetzungen neugierig, denn das haben exquisite Stücke so an sich: Man kann nie genug von ihnen bekommen, wünscht sie sich in möglichst vielen verschiedenen Interpretationen. Doch nicht nur die beiden Hauptpersonen, sondern auch das gemischte Corps de ballet kann in „Slow Burn“, das ganz in Orange-Nuancen einher kommt, tänzerisch auftrumpfen. Mal verschmilzt die Truppe zu einem Organismus, dann wieder splittet sie sich in lauter Individuen auf. Am Boden, in Hebungen, im Laufen, im Gehen, bei Drehungen – teils barfuß, wie im Tempeltanz, dargeboten – frohlocken echte Emotionen. Aszure Barton ist zweifelsohne ein Meisterwerk gelungen: ein Traum in Orange, der das positive Gefühl, aber auch das konstruktive Miteinander im Konfliktfall einfallsreich und mit absolut neuartigen Ensembleszenen feiert. Dagegen wirkt das auf turnerische Überdrehung, Virtuosität und stilistische Zuspitzung klassischer Trainingsdetails setzende „Blake Works V (The Barre Project)“ von William Forsythe – das die tänzerische Körperarbeit an sich als Obsession zeigt – fast ein wenig fad.

Um es gleich zu sagen: Es gibt ein Stück von Anton Dolin namens „Variations for Four“, das mit Ironie und Kompetenz vier virtuose Prinzen von modern-klassischem Pomp in den Weltraum versetzt. Dieses brillant-männliche Viertelstundenstück plus ein gemischter Exzellenz-Pas de deux der Neoklassik  etwa von Yuri Possokhov statt des kantig-kargen Forsythe hätten den Abend noch runder gemacht.

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Auch ein vor choreografischer Raffinesse nur so strotzendes Stück, etwa zu Musik von Bach wie „A Million Kisses to my Skin“ von David Dawson – der beim Hamburg Ballett als Choreograf sowieso längst überfällig ist – hätte man sich vorzüglich statt des etwas stumpfsinnigen Forsythe in Ergänzung zum fabelhaften „Slow Burn“ vorstellen können. Insofern ist der Abend ultra-anregend.

Zumal es für „Slow Burn“ auch noch eine atemberaubend elegante, ebenfalls erst gestern Abend uraufgeführte Musik gibt. Der Komponist Ambrose Akinmusire ist Jazz-Spezialist und selbst auch eine Koryphäe an der Trompete. Der Klangteppich, den er als Auftragswerk für „Slow Burn“ schuf, enthält klassische Elemente ebenso wie zeitgenössisch fließende Texturen, erinnert mal an Max Richter, dann wieder an Szymon Brzoska und sogar an Weltmusik. Insgesamt leicht und schwebend, wirkt das Stück vor allem in Hinsicht auf das Prinzip Hoffnung wie eine Stärkung, trotz aller dramatischer Verzweiflung beim Blick in die Abgründe, die auch zu hören ist. Dirigent Simon Hewett brachte mit dem Philharmonischen Staatsorchester Hamburg aber auch wirklich jede Note zur Geltung.

"Slow Burn" beim Hamburg Ballett

Tänzerisches Laufen und Gehen, meist im Kreis und im Uhrzeigersinn, gehört auch dazu: Das Ensemble in „Slow Burn“ zelebriert die Macht der Frauen. Foto vom Hamburg Ballett: Kiran West

Es beginnt mit der solistischen, sanften Melodie einer Querflöte. Die Stimmung ist schon von dieser Einstiegsmusik her sonnig und behaglich, versonnen geradezu. Man denkt an die Impressionisten wie Claude Debussy und Maurice  Ravel.

Dann geht der Vorhang hoch. Zwei Frauen stehen da in wundersam entzückenden Kostümen: orangerot leuchten sie, eine trägt eine opulente  Stoffblume an der Hüfte. Der Lichtkegel, der sie umhüllt, ist ebenfalls orangefarben. Vorn, im Halbdunkel, robbt ein seltsames Wesen wie ein arthritisches Tier den Boden entlang, von links nach rechts.

Mystisch ist diese erste Szene und doch erhellend: Es sind die Frauen, also die weiblichen Kräfte, um die es hier geht. Das ist durchaus auch biologisch gedacht: Frauen werden als Teil und als Herrscherinnen der Natur vorgestellt. Ihre magischen Gefühle bewegen die Welt – und eben nicht die Technik, die nur eine Ausgeburt aller weiteren inneren Energien ist. Insofern handelt es sich bei „Slow Burn“ um ein religiöses Stück, ohne, dass entschieden wird, welche Gottheiten hier entscheidend sein sollen. Das darf jede und jeder mit sich ausmachen.

Der enge Lichtkreis weitet sich aus, wird ein großes, die Bühne fast füllendes, rundes orangenes Kraftfeld. Die beiden Frauen tanzen miteinander, und es wird deutlich, dass sie sich schon gut kennen und nicht vorhaben, ihre Beziehung aufzugeben. Im Gegenteil. Die Liebe und Zuneigung zwischen ihnen wächst und wächst und wächst…

"Slow Burn" beim Hamburg Ballett

Silvia Azzoni ist eine der Hauptpersonen als „Weise Frau“ in „Slow Burn“ beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Aszure Barton trifft mit wie neu erfundenem Hüftschwung und originell ineinander verhakten Armen, mit langsam und inniglich vorgetragenen Bewegungen wie mit rasantem Drive im Ausdruck genau den Kern weiblicher Emotion: Das ist etwas, das Männer vielleicht nicht auf Anhieb verstehen oder sogar nicht verstehen wollen, weil sie sich da als Außenseiter fühlen könnten. Frauen unter sich, das ist eben viel mehr als Schwatzhaftigkeit und Mütterlichkeit. Viel mehr als Haremsgefühle und Rivalität. Viel mehr als nur das Aufsuchen von Nähe. Es gibt da eine rückhaltlose Sympathie, die von Männern, die ständig ein Problem mit zu viel oder zu wenig Testosteron haben, kaum nachvollzogen werden kann. Vielleicht ist es die Sanftheit (nicht die Weichheit), auch bei aller Hartnäckigkeit, die das weibliche Geschlecht stark macht.

Hier sind es zwei Königinnen, die einander begehren und unterstützen, obwohl beide auch mal ihr eigenes Volk haben. Dann schreiten sie aufeinander zu, mit im Flex gehaltenen Füßen, mit jeweils eigenem Gefolge. Majestätisch und fast auch mal gefährlich sieht das aus. Und es ist so spannend.

Konflikte lösen diese Damen aber eben nicht kriegerisch oder aufheulend hysterisch, sondern durch tänzerische Verhandlungen, auch mal durch Einfühlung, durch Empathie. Keinesfalls durch Betrug oder listiges Reinlegen. Schon gar nicht mit Kräftemessen im Sinne einer körperlichen Machtprobe, wie es etwa der Männerkampftanz „Proust Pas de deux“ von Roland Petit zeigt. Übrigens hätte auch dieser eindrucksvolle Pas de deux, ein Gala-Prunkstück in der internationalen Ballettwelt seit Jahrzehnten, viel besser als Ergänzung und Gegenstück zu „Slow Burn“ gepasst als ein Werke von William Forsythe.

Im Stil pendelt „Slow Burn“, das „langsame Verbrennen“, zwischen Maurice Béjart und Sidi Larbi Cherkaoui, aber es sind auch fantastische John-Neumeier-Momente eingeflochten, die es letztlich gut ermöglicht hätten, auch einen Männer-Pas-de-deux von Neumeier, wie „Peter und Igor“ oder, wenn es denn schon Pop sein soll, „Old Friends“, in den zweiten Teil des Abends zu platzieren.

Die Nijinsky-Gala XLVI im Jahr 2021 beim Hamburg Ballett

Eine Umarmung zwischen Himmel und Erde: „Peter und Igor“ mit Alessandro Frola und Jacopo Bellussi, das damals jüngste Stück von John Neumeier, uraufgeführt auf der Nijinsky-Gala 2021. Foto: Kiran West

Die Warmherzigkeit und auch die Sensibilität der Stücke einen all diese Choreografen mit Aszure Bartons Kunst. William Forsythe, kalt und brillant, bildet dazu einfach keine gute Abfahrt.

Die erklärte Absicht von Demis Volpi, dem Hamburger Publikum neue choreografische Handschriften vorzustellen, ist natürlich an sich eine gute Idee. Der neue, noch so junge Intendant vom Hamburg Ballett, weiß indes, dass er ein schwergewichtiges künstlerisches Erbe angetreten ist, nämlich das eines Genies, was er richtigerweise auch selbst so sagt.

Und er hätte es leichter, wenn er sein neues Programm an eben dieses Genie John Neumeier anbindet. Entweder inhaltlich oder stilistisch oder in beiden Hinsichten.

Einfach nur irgendwas Neues braucht ja kein Mensch, nicht mal die Hamburger, die sich gern als innovativ und fortschrittlich erfahren.

"Slow Burn" beim Hamburg Ballett

Hervorragende neue Formationen sind zu sehen: in „Slow Burn“ von Aszure Barton beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Wenn etwas mehr als nur bewährt ist, sollte man es auch künftig nicht ausgrenzen. Der Neumeier-Stil, man sieht es ja gerade bei der neuen Arbeit von Aszure Barton, ist so umfassend und vielseitig, dass er eine Menge Anknüpfungspunkte bietet.

Und wenn Barton einen männlichen Tänzer in die als „Puck-Pose“ berühmt gewordene Bauchlage bringt, bei welcher die Füße, Beine und der Podex gen Himmel streben, dann ist ganz deutlich, dass sie Neumeiers Werke kennt und quasi inhaliert hat. Soweit ein Zitat aus „Ein Sommernachtstraum“ von 1977 von Neumeier.

Aber auch die jüngeren Arbeiten wie „Epilog“ und „Dona nobis pacem“ vom Hamburger Großmeister John Neumeier bringt Aszure Barton in Anklängen mit ein. Fast glaubt man, für ein, zwei Minuten lang in einem sakralen Werk von Neumeier zu sein: Da darf in einem umwerfend schönen männlichen Solo auf ästhetische Weise gezappelt und körperlich der Sinn des Seins hinterfragt werden. Um anschließend zur Gruppe zurückzukehren und sich erleichtert in die harmonische Synchronizität einzugliedern.

Die Gruppe kann hier wie ein Schwarm wilder Vögel sein, aber auch wie ein Lindwurm, der sich durch die Kontraktion einzelner Körperglieder fortbewegt. Der Zusammenhalt ist so wichtig, wie er es in der Natur eben auch ist. Manchmal bilden sich Pulks, die zwar modern, aber immer optisch aufregend gestaltet sind. Man  möchte die Superpreisgewinnerin Florentina Holzinger, die all das gar nicht kann, mal hier in die Lehre schicken.

Berückend sind auch Reihen und Kreisformationen, die sich auffächern, auflösen, neu aufladen. Insofern ist Aszure Barton tatsächlich eine neue George Balanchine. Ihr Umgang mit dem Bühnenraum ist wirklich meisterhaft.

„Hey!“ Das darf hier eine Ballerina hier auch mal ausrufen, und wenn einige Bewegungen dem Tempo und Stil nach an Tai Chi oder indischen Tanz erinnern, so zeigt das die weltumspannende Sehnsucht nach Bewegungen voller Spiritualität, die im Grunde alle Menschen miteinander zu verbinden vermag.

"Slow Burn" beim Hamburg Ballett

Aszure Barton probt in Hamburg hier für „Slow Burn“. Foto: Kiran West

Trotzdem gibt es auch hier Konfrontationen. Marschiert wird mit Flex-Füßen, also mit abstehender Fußsohle, und die Mächtigkeit dessen wird in der Musik gespiegelt. Statt sich gegenseitig abzuschlachten, kommt es zu Einigungen durch Tanz.

Und wenn die Spannung abflacht, die Musik verebbt, tritt eine Stille ein, die ebenso schön und hehr ist wie die Klangwelt davor. Pausen – auch sie wollen gekonnt gesetzt sein.

Soli, Pas de deux, Pas de quatre und vor allem auch Pas de trois ergänzen den Ensembletanz.

Silvia Azzoni, die auch mit über 50 Jahren immer noch wie eine Mittzwanzigerin tanzen kann (es ist fantastisch zu sehen, was möglich ist), und Madoka Sugai, die in ihrer sportiven Geschmeidigkeit superbe zur etwas puppenhaft anmutigen Azzoni passt, verkörpern hier die Weisheit, sind als „Weise Frauen“ auf dem Programmzettel benannt. Sie führen die Gruppe und die Gruppen an, werden empor gehoben und verehrt, sie lenken die Geschicke im Interesse jener, die sie beherrschen.

"Slow Burn" beim Hamburg Ballett

Lormaigne Bockmühl dirigiert hier mit sanfter Hand und schlängelnden Armen die Gruppe. So zu sehen in „Slow Burn“ von Aszure Barton beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Die Newcomerin Lormaigne Bockmühl kommt mit mädchenhaft flehender Haltung dazu. Sie ist hier im Stück das Kind oder auch die avisierte Nachfolgerin der beiden Hoheiten; sie leidet offenkundig unter Einsamkeit, bis sie von den Anführerinnen nicht nur akzeptiert, sondern am Ende sogar ins Führungscenter aufgenommen wird. „Freude“ ist ihr Personalname auf dem Programmheft. Und die Freude ist so nützlich, sie ist hier keineswegs ein Selbstzweck.

Tatsächlich: Mit sanft schlingernden Armbewegungen bewies Bockmühl zuvor, dass auch sie Menschen beherrschen und lenken, quasi dirigieren, motivieren und anweisen kann.

Der Tänzer, der auch als Puck in Erscheinung tritt, ist in der Premierenbesetzung Daniele Bonelli. Er ist neu in Hamburg, folgte Demis Volpi vom Ballett am Rhein an die Alster. „Empathie“ heißt seine Figur im Stück. Ja, das ist eine weibliche Sicht auf die Dinge: auch die männliche Körperkraft zu nutzen, um eine feminine Tugend zu illustrieren und zu versinnbildlichen.

Aber die beiden weisen Frauen lieben auch Männer. „Die Verbündeten“ heißen Evan L’Hirondelle und Artem Prokopchuk, mit denen sie parallel wunderschön gewirbelte Pas de deux tanzen. Die Jungs richten sich allerdings nach den Wünschen der Frauen und bleiben am Ende ergeben sitzen, während die beiden Damen sich nach neuen Abenteuern umsehen.

Keine Frage: Es ist ein Matriarchat, das Aszure Barton erträumt. Ja, und warum nicht, warum sollte mal nicht die weibliche Energie federführend werden?

Zwanzig weitere Tänzerinnen und Tänzer kommen damit auf der Bühne nachgerade hervorragend zurecht. Und das, obwohl das ganze Stück erst wenige Tage vor der Uraufführung zusammengesetzt und somit fertig wurde. So liegt der Fokus auf den einzelnen Szenen, die fließend ineinander übergehen. Die Entwicklung des gesamten Stücks ist unmerklich.

Am Ende bilden die Tanzenden aber eine gefestigte Gruppe, die im Gleichschritt nach vorn zur Rampe kommt, den Oberkörper vornüber gebeugt, mit dem gesenkten Kopf wackelnd. Hier können sich Menschen blind vertrauen und trotzdem weiterkommen. Wow.

"Slow Burn" beim Hamburg Ballett

Sprünge wie ins Paradies: in „Slow Burn“ beim Hamburg Ballett zu sehen. Foto: Kiran West

Die Künstlerinnen und Künstler wurden frenetisch gefeiert, und die beiden megagroßen Blumensträuße, die Hausherr Demis Volpi an Aszure Barton und Ambrose Akinmusire überreichte, waren unbedingt verdient.

Einen Extradank verdienen aber auch Tanja Rühl, die das Licht des Abends nicht zu düster, sondern stimmungsvoll gestaltete, sowie Michelle Jank, die aus dem Fundus der Hamburgischen Staatsoper und mit viel Färbemittel die köstlich schwingenden, fantasievollen Kostüme erschuf. Man schwelgt geradezu in diesen modernen, zeitlos schönen Gewändern, die mal aus mehreren Röcken übereinander bestehen, mal aus Kleidern, die über Hosen getragen werden, und die mal Tüllmengen, mal organische Materialien verwenden. Große Blumen stehen für die Weiblichkeit, aber vor allem die Sinnlichkeit der Frauen wird, ohne dass es anzüglich oder ausgestellt wirkt, betont.

Dass manche Tänzerinnen mit vielen Stoffschichten in der Statur „mollig“ wirken, etwa wenn zwei Tüllröcke versetzt übereinander getragen werden, einer davon mit hochgezogener Taille, ist ebenfalls zu loben. Denn wer will immerzu nur magere Mädchen auf der Bühne sehen? – Nur die Vorgestrigen.

Insgesamt ist das Werk ein so hochkarätiger Wurf, dass die Ballettwelt Demis Volpi und natürlich Aszure Barton zu tiefem Dank verpflichtet ist. Hier in „Slow Burn“ treffen sich Orient und Okzident, Ost und West, Europa und Asien auf einer künstlerischen Ebene, die eine Benennung als wahrhaftig internationale Kunst mit Leben füllt.

Vielleicht möchte noch jemand etwas über Aszure Barton wissen? Sie wurde, was im Programmheft vom Hamburg Ballett verschwiegen wird, 1975 in die Künstlerszene hineingeboren, denn ihr Vater ist Broadway-Produzent. Also kein ganz armer und auch kein ganz machtloser Mann im Showbiz. Ein gewisses Verständnis für Tanz ganz generell wurde ihr sozusagen ebenfalls in die Wiege gelegt.

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Da ist es gut nachvollziehbar, dass stimmt, dass Aszure schon mit drei Jahren Stepptanz-Unterricht erhielt und auch später ziemlich oft in ihrem Leben von bedeutenden, für sie hilfreichen Menschen gefördert wurde.

Mikhail Baryshnikov ist einer ihrer Förderer, aber auch weniger bekannte Experten wie Mavis Staines, damals Leiter der National Ballet School (NBS) im kanadischen Toronto, halfen ihr, ihre Talente zu entwickeln.

Dass sie auch mal jobbte, in Restaurants, als Babysitterin und an der Rezeption eines Tanzstudios, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie einen äußerst priviliegierten Lebensweg hatte: Schon mit 16 Jahren konnte sie an der NBS eine komplette Tanzproduktion auf die Bühne bringen.

Mit einem Stipendium reiste sie ein ganzes Jahr lang durch Europa und stoppte unter anderem in Hamburg, wo sie John Neumeier beim Arbeiten im Studio zusehen durfte.

Außer in Kanada absolvierte sie auch an der John Cranko Schule in Stuttgart Tanzunterricht, sogar bis zur Bühnenreife. Weil sie als Tänzerin dort aber keine große Zukunft hatte, holte sie sich – unter anderem bei Wendy Osserman – Unterrichte, die sie beim Loslassen des Gehorchenwollens als Tänzerin unterstützten.

„Loslassen ist ein Thema, das sich durch meine gesamte Arbeit zieht“, erklärt Barton im Programmheft zu „Slow Burn“ der klugen, sie befragenden Dramaturgin Nathalia Schmidt. Allerdings lotet sie das Loslassen dabei wirklich weit aus: „Das Ziel meiner Kunst ist es, mich auf den Tod vorzubereiten.“

Diese Intensität strahlt „Slow Burn“ bei aller Heiterkeit und Helligkeit, die das langsame Brennen verströmt, auch aus.

Es macht Aszure Barton übrigens weiterhin sympathisch, dass sie als Beispiel für einen Verlust an den Tod das Versterben ihres Hundes während der Corona-Pandemie benennt. Der Tierschutz spielt in unserer Kunstwelt sonst eine viel zu geringe Rolle, und die ernsthafte Liebe zu einem Haustier ist keinesfalls dümmlich.

Warum nun ihr Traum in Orange und nicht in Rot, Rosa oder Gelb getaucht ist, erklärt sie mit der warm-fröhlichen Ausstrahlung der Mischfarbe von Rot und Gelb. Sonnenuntergänge, Orangenfrüchte, Feuersbrünste leuchten in Orange.

Natürlich gibt der Titel vom langsamen Verglühen das Orangerot schon quasi vor.

Hat mit Orange und „Slow Burn“ einen Volltreffer gelandet: Demis Volpi, Nachfolger von John Neumeier beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Interessant ist aber auch die Bedeutung dieser Farbe in der Kulturgeschichte. In den 70er-Jahren war ja jedes zweite neue Sofa zwischen New York und Moskau knallig orange. Dazu gab es gelbe Kissen und braune Decken. Heute brillieren Schals und Vorhänge, Socken und Schuhe, Krawatten und Kleider in brüllendem Orange, wieder von New York über Berlin und Moskau bis Tokio: Orange war und ist ein Trend weltweit.

Orange ist dabei im Grunde keine Farbe, sondern ein Lebensgefühl: freudig und froh, glücklich und beglückend.

Man könnte sagen: Orange ist zugleich die Popfarbe schlechthin, steht aber auch für Buddhismus und Bhagwan. In den asiatischen Kulturen spielen Gold und Orange eine besondere Rolle, und die Bhagwan-Jünger trugen nur Rot, Rosa und Orange. Erinnert sich noch jemand an diese Saniasins und ihre Discos für alle?

Und man kann die Suche nach Orange in der Kultur- und Kunstwelt erfolgreich fortsetzen: “Clockwork Orange” heißt der bedeutende Film von Stanley Kubrick von 1972; „The Gates“ nannten Christo und Jeanne-Claude 2005 ihre Arbeit im Central Park in New York City.

Aszure Barton bezieht sich nun nicht auf die diversen orangenen Traditionen, aber darauf, Vorgefundenes zu verwenden, wenn es um Kostüme geht. Die Farbe Orange kam als Novum dazu, als die alten Gewänder und Stoffreste umgenäht und verändert wurden.

Mit William Forsythe hat Barton mal ein interessantes Gespräch über choreografische Vorgehensweisen gehabt, und sie mochte die Standfestigkeit von Forsythe, der sagt, dass er oft jahrelang an einem Thema dranbleibt. Auch sie selbst bedenkt und konzeptet mit ihrem Team oft Jahre an einem Themenkomplex. Der Titel „Slow Burn“ ist ihr nicht spontan  für die Hamburger Auftragsarbeit eingefallen, sondern das symbolträchtige Schlagwort rumort schon seit Jahren durch ihre Pläne.

"Slow Burn" beim Hamburg Ballett

Zwei Majestäten begegnen sich: Silvia Azzoni und Madoka Sugai mit dem Ensemble vom Hamburg Ballett in „Slow Burn“ von Aszure Barton. Foto: Kiran West

Erfolg und Erfahrung hat Barton zur Genüge. Bei vielen international bedeutenden Ensembles hat sie gearbeitet, unter anderem für das Alvin Ailey American Dance Theater, das American Ballet Theater, das English National Ballet, die Sydney Dance Company, und sie ist rund um den Erdball in der Tanzszene bekannt. Beim Bayerischen Staatsballett entzückte sie 2015 mit einem riesenhaften Teddy auf der Bühne in ihrem Werk „Adam is“, und für Demis Volpi hat sie auch schon früher sehr erfolgreich gearbeitet: Ihr „Baal“ entstand, nach dem gleichnamigen Drama von Bertolt Brecht, mit dem Ballett am Rhein.

Die vorzügliche Idee, Brecht zu vertanzen, sollte ungeachtet dessen weiter fortgeführt werden. Vor allem aber hofft man, Aszure Barton erneut beim Hamburg Ballett zu begegnen, denn ihre einerseits durchdachte, andererseits frei-assoziative Vorgehensweise kommt den überaus fähigen Tänzerinnen und Tänzern in Hamburg sichtlich zu Gute.

Die unbändige Tanzlust trotz aller Präzision, die das Hamburg Ballett auszeichnet, rettet auch den zweiten Teil des Abends. William Forsythe, der am 30.12.24 übrigens seinen 75. Geburtstag feiern wird, kreierte „Blake Works V (The Barre Project)“ anlässlich der Karriere, die das Home Ballet in der Zeit der Corona-Pandemie ab 2020 machte. Tanz wurde Tanzen mit Verzweiflung: um eine Zukunft zu beschwören, die höchst ungewiss war.

Das erste Video dieser Art, das ich sah, war das des New Yorker Startänzers Herman Cornejo, der vor seinem Regal in seiner Wohnung Pirouetten drehte. Das wirkte so anregend und gleichzeitig komisch, als würde man einen echten Tiger zwischen artfremdem Spielzeug im Kinderzimmer halten.

Aber so war es damals: Alle Tänzerinnen und Tänzer mussten versuchen, daheim ihren Körper für ihre Berufsausübung fit zu halten. Stühle und Klaviere wurden zu Ersatz-Barres, also zur Stange, an der sich Ballettmenschen festhalten, wenn sie ihre 30 bis 45 Minuten „Stangentraining“ absolvieren.

"Slow Burn" beim Hamburg Ballett

Alessandro Frola in einer bildschönen Pose in „Blake Works V (The Barre Project)“ von William Forsythe beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Forsythe bringt nun eine echte Ballettstange, nämlich ein zwei Meter langes Ding, auf die Bühne. Aber nicht um die Stange an sich geht es, sondern um die Besessenheit, die notwendig ist, um seinen Körper derart zu kontrollieren, dass man all die schwierigen, dabei so leicht aussehenden Übungen des klassischen Tanzes ausführen kann.

Demis Volpi suchte ein Pendant zu „Slow Burn“, wobei damals wohl noch nicht so ganz fest stand, wie „Slow Burn“ ausfallen würde.

Wenn man es aber als Manifest der modernen Weiblichkeit im Tanz sieht, dann sucht man selbstredend etwas Männliches als kontrastreiches Gegenstück dazu.

Insofern passt der Stil von William Forsythe, denn er spiegelt grundsätzlich einen ziemlichen Macho-Blick auf Körper.

Die Muskeln werden implizit ausgestellt, die Fertigkeiten zumindest scheinbar nur um ihrer Virtuosität wegen vorgeführt. Ein leichtes Augenzwinkern spielt dabei mit. Aber die Schönheit der Linien wird absichtlich überzogen, bestimmte Bestandteile des klassischen Tanzes wie das Épaulement werden ins Extrem geführt. Die häufige Schräglage der Körper, die später bei David Dawson eine gewisse Ästhetik gewinnt, wirkt bei Forsythe oftmals wie eine Karikatur auf Ballett.

Forsythe pickte sich gewisse Details aus dem Kosmos des Balletttrainings, bastelte aus ihnen einen Overkill der klassischen Tanztechnik, und weil er all das mit großer Schnelligkeit und akrobatischer Zackigkeit vermengt, entsteht ein leicht wiedererkennbarer, prägnanter Stil.

Der Nachteil dessen ist nur, dass sich der Meister unendlich oft wiederholt und das von ihm verwendete Bewegungsmaterial beschränkt und reduziert ist.

So ähneln sich die meisten Forsythe-Stücke wie ein Ei dem anderen, und weil er auch noch oft sich ähnelnde elektronische Musik verwendet, erleben weder seine Fans noch seine Opfer, die sich von ihm gelangweilt fühlen, selten eine Überraschung.

"Slow Burn" beim Hamburg Ballett

Anna Laudere und Matias Oberlin in „Blake Works V (The Barre Project)“ von William Forsythe beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Tänzerinnen und Tänzer vergöttern Forsythe gemeinhin, weil er sich als Guru geriert und solche angeblichen Autoritäten in der Bühnenkunst immer gut ankommen. Manche nennen ihn aber auch Hochstapler, weil er inhaltlich so gut wie gar nichts zu bieten hat und stilistisch zwar auf hohem Niveau etwas Neues hervor brachte, dieses aber bis zum Gehtnichtmehr selbst wiederholt.

Sein größtes Verdienst meiner Ansicht nach ist, dass er eine Grundlage für jüngere Choreografen wie David Dawson schuf, die ohne das Forsythe’sche Vokabular kaum vorstellbar sind.

Die Welt aber liegt Forsythe zu Füßen und ehrt ihn mit fast allem, was sie zu geben hat. Sogar den mit über 600.000 Euro dotierten Kyoto-Preis, den vor ihm schon John Neumeier erhielt, kassierte Forsythe bereits.

Aszure Barton, die ihn in meiner Ansicht viel eher verdient hätte, wird ihn wohl nie erhalten. Grund: Sie ist eine Frau. Vielleicht aber wird sie auch gerade deshalb mal in Kyoto geehrt. Das wäre schön.

William Forsythe ist nun – wie die meisten erfolgreichen Künstler – nicht gerade ein Feminist. Seinen Balletten kann man sogar ein Stück weit Sexismus unterstellen. So tanzt in „Blake Works V (The Barre Project)“ eine Ballerina im glitzernden kleinen Schwarzen mit eine Typen in Turnhosen. Können wir uns das mal bitte umgekehrt vorstellen? Ein Mann in teurem Nobelzwirn und eine Frau in Schlabberjogginghosen – das würde das Kastendenken in unserer Gesellschaft doch schon mal ganz schön durcheinander bringen.

Seltsam ist übrigens, dass im durchaus sehr lesenswerten Programmheft zu „Slow Burn“ die große Rolle, die Dresden im Leben von Forsythe gespielt hat, gar nicht erwähnt wird. Aaron S. Watkin, damaliger Ballettchef vom Semperoper Ballett, machte seine Truppe aber zu weltbesten Interpreten von Forsythes größeren und kleineren Arbeiten. Sogar in Paris, wo das Ensemble vor einigen Jahren gastierte, wurde das anerkannt. Zudem arbeitete Forsythe aber auch in Hellerau, einem Vorort von Dresden, wo er seine in Frankfurt am Main gegründete „Forsythe Company“ unter dem Namen „Dresden Frankfurt Dance Company“ weiter führte bzw. weiter führen ließ.

Forsythe für Anfänger

Hier der furios funkelnde, hypermoderne Pas de deux aus „In the Middle, Somewhat Elevated“ von William Forsythe, mit Elena Vostrotina und Raphael Coumes-Marquet vom Semperoper Ballett. Foto: Angela Sterling

Besonders zwei Werke von Forsythe machten ihn nun von Deutschland aus international berühmt, weil sie oft und gern auf Galas zu sehen waren oder sind: Ein Pas de deux aus „In the Middle, Somewhat Elevated“ und der Pas de deux „Herman Schmerman“. Witz und eine nachgerade hinterhältige Gender-Ironie, die nicht von allen gleich erkannt wird, zeichnen die Arbeiten von William Forsythe aus, gerade in diesen beiden Glanzstücken.

Ansonsten aber wirkt so manches von ihm zwanghaft originell, und dass sich ästhetisch eher wenig Neues ereignet, muss man wissen, bevor man sich erneut auf Forsythe einlässt.

Wenn die Tänzer aber so richtig Bock drauf haben, lassen sie bei den Exerzitien des US-Amerikaners die Funken sprühen.

Alexandre Riabko (Gatte von Silvia Azzoni) und Francesco Cortese (ein sehr begabter Newcomer) beginnen synchron mit purem Tanz, als stünden sie im Trainingssaal: in Turnkleidung und nicht besonders herausgeputzt. Aber sie bilden natürlich ein augenfälliges Gegenstück zu den beiden Hauptpersonen in „Slow Burn“. Keck und kess, quick und konzise hüpfen die beiden mit kurzen Stehpausen Trainingseinheiten, die in der fünften Position enden.

Stellen wir uns vor, sie tun es in der Küche bei sich oder bei Ihnen daheim. Ja, dann hat die Sache schon mehr Pikanterie.

"Slow Burn" beim Hamburg Ballett

Perfekte Jungs: Francesco Cortese und Alexandre Riabko in „Blake Works V“ von William Forsythe beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Ein Ärgernis für anspruchsvolle Musikliebhaber ist dabei die Musik von James Blake: Es handelt sich um bestenfalls hübsche, alles in allem völlig belanglose Trivialmusik, wie man sie fünf Minuten in der Hochkultur ertragen könnte, aber keinesfalls länger als eine halbe Stunde.

Da könnte man ebenso gut Heino oder Abba auflegen. Wobei Abba künstlerisch ganz sicher mehr wert ist. Trotzdem handelt es sich bei Pop nicht um Hochkultur. Aus gutem Grund: schneller Konsum und anspruchsvolle Kunst sind nicht dasselbe.

Zum Abhotten oder Engtanzen (je nachdem) ist Blakes Musik aber prima, und für die Clubs dieser Welt ist der Musiker bestimmt ein Segen. Nur die künstlerische Aussage so banaler Musik ist in den Grenzen des Kitsches begrenzt. Da geht es mal um Einsamkeit, mal um Liebeskummer. Aber die Gefühle bleiben so stereotyp und massenkompatibel, wie es für Kommerzmusik nun mal Sinn macht.

Simpelst werden da die eingängigen Rhythmen oder ganze Sentenzen wiederholt, und die menschliche Stimme darf quäken, wie der Synthi es möchte. Insgesamt könnte man damit auch Kaugummi oder Einlegesohlen verkaufen.

Es ist wirklich schade, dass man die Unterschiede zwischen Kunst und Kommerz derart stark verwischen will.

Den Tänzern ist das egal, sie geben ihr Bestes. Vor allem Alessandro Frola, Charlotte Larzelere, Futaba Ishizaki und Aleix Martínez sind hier Augenweiden in der Exaktheit ihrer Attitüden (womit ich ein weiteres Stück von Forsythe zitiere). Sexy und graziös, elegant und sportiv werfen sie ihre Beine und führen ihre Arme lässig durch die Choreo.

Aleix Martínez entwickelt sogar eine für ihn neue männliche Eleganz, die stark an jene der alten Prager Schule erinnert. Fans mit jahrzehntelanger Hamburger Erfahrung mögen an den jungen Ivan Liska denken.

Aber auch Alexandr Trusch und Daniele Bonelli, Gabriel Barbosa und Matias Oberlin begeistern mit ihrer kraftvollen Darbietung der modern gepeppten, altbekannten und geliebten Tanztechnik. Brillanz ist Trumpf!

Anna Laudere und Matias Oberlin haben sogar einen besonders hübschen Kurz-Pas-de-deux zu Beginn: Er endet, indem Anna ihre Hand flach aufs Herz des Partners legt und ihn so ins Off schiebt. Findet Forsythe selbstbewusste Frauen eigentlich herrschsüchtig? Mit diesem Vorwurf könnte frau bestimmt leben.

"Slow Burn" beim Hamburg Ballett

Zeigt, was sie kann: Charlotte Larzelere vom Hamburg Ballett in „Blake Works V (The Barre Project)“ von William Forsythe. Foto: Kiran West

Bei den Damen im Stück muss man aber auch Charlotte Larzelere als Überraschung des Abends nennen: So viel mädchenhaft-erotische, dabei elegant-laszive Ausdruckskraft hat man seit Gelsey Kirkland nur selten  gesehen. Wirklich top! Larzelere hat sich sowieso kontinuierlich entwickelt, seit sie beim Hamburg Ballett tanzt, und es ist schön zu sehen, wie eine junge Ballerina von Saison zu Saison gewinnt.

Anna Laudere hingegen, die nun schon unbestreitbar zu den Majestäten des Hamburg Balletts zählt, besticht mit einem hoch intensiven Adagio an der Stange, welches sie wie das innige Gebet einer Selbstfindung zelebriert. Bravo.

Ida Praetorius verströmt ihren Charme sowieso – man könnte sie auch ohne festgelegte Choreografie wenige Schritte tanzen lassen und es würde Eindruck machen. Daran ändert auch der zackig-forsche Stil von Forsythe nichts.

In flink einander abwechselnden Soli – zumeist an der Stange, aber auch au milieu, also frei im Raum – trainieren die Tänzer solchermaßen ihre einstudierten Fertigkeiten, um uns zu verwirren oder auch zu beglücken. Das Tempo ist rasend, die gute Laune rastlos.

Es wird auch mal zu zweit oder zu viert getanzt. Aber Beziehungen unter den Tanzenden ergeben sich mitnichten. Hier ist sich jeder selbst der nächste.

Die Elektromusik von Blake kratzt und scratcht dazu im Ohr. Es gibt DJs, die machen anspruchsvollere Sachen, und das nur, um eine Meute von Vergnügungswilligen auf der Tanzfläche in Bewegung zu halten.

Was mich betrifft: Ich bin erleichtert, wenn es vorbei ist und sich niemand auf der Bühne verletzt hat. Geht mir bei Forsythe öfters so. Dabei tanzt sich der Stil von John Neumeier mit Sicherheit sehr viel schwerer. Aber da steckt eben auch mehr kreative Energie darin.

Das Ende vom „Barre Project“ ist eine klassische Pose, aber eher beliebig im Kontext.

Wahrlich, die olle tolle Kamelle von Anton Dolin für vier exponierte Ballerinos, die ich eingangs vorschlug, hätte den Zuschauersaal zum Brodeln vor Begeisterung gebracht. Da hätten die Jungs den superben Mädels aus dem ersten Teil des Abends wirklich was entgegenzusetzen gehabt.

Bei Forsythe jubeln nur Insider, bevorzugt die Freunde der Tänzer.

William Forsythe schrieb denn auch nur einen Brief zur Premiere an die Tänzer vom Hamburg Ballett, erschien aber nicht selbst. Vielleicht befürchtete er, beim von John Neumeier mit Seele verwöhnten Publikum mit seinen etwas kalt und spekulativ hingestellten Tanzrobotern beim Applaus pleite zu gehen, sozusagen.

"Slow Burn" beim Hamburg Ballett

Und noch einmal das Männerpaar Alexandre Riabko und Francesco Cortese in „Blake Works V“ von William Forsythe beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Mein Tipp an den Hausherrn Demis Volpi: Die künftigen, für Hamburg neuen choreografischen Handschriften etwas stärker à la Neumeier zu servieren. Man kann ein Publikum, das seit mehr als 50 Jahren einen für seine Warmherzigkeit bekannten Künstler liebt, nicht von heute auf morgen für kalt glitzernde Technik begeistern. Zum Glück nicht, muss man wohl sagen. Das kann man hier lernen. Und so hat auch das Experiment Forsythe in Hamburg seinen Sinn erfüllt.

Wegen Aszure Bartons „Slow Burn“ sollte man aber unbedingt mehrfach in diesen Abend gehen. Denn da ist viel für die Sinne und auch fürs Hirn zu holen.
Gisela Sonnenburg

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