Es gibt in Kambodscha kaum Fensterscheiben, aber viel Armut. Es ist dort immer heiß und oft tropisch schwül. Es gab die Terrorherrschaft unter Pol Pot. Später scheffelte die Popsängerin Kim Wilde einige Millionen mit einem Song namens „Cambodia“, in dem es allerdings um einen toten Briten ging. Was wissen wir sonst noch über Kambodscha? Eben: fast nichts. Und über den klassischen Tempeltanz der Kambodschaner, der auch Apsara genannt wird, wissen wir zu unserem großen Bedauern noch weniger. Dabei ist er hoch ästhetisch und weist er in mancher Hinsicht deutliche Parallelen zum Ballett auf. Aber jetzt! Jetzt gibt es endlich eine hervorragende Möglichkeit, die diesbezügliche Neugier zu stillen und die peinlichen Wissenslücken zu füllen: mit der Hilfe des Kinofilms „Pol Pot Dancing“.
Und schon weil Rosa von Praunheim, quasi ein Elder Statesman der cineastischen Gay Community, über diesen Film sagt, er sei „fantastisch“, sollte man ihn nicht verpassen. Rosa verbrachte sogar seinen 82. Geburtstag in der Berliner Premiere des Films: im Bundesplatz-Kino im guten alten Westen der Stadt. Seit gestern läuft der Film deutschlandweit in den Kinos, und wer den Tanz und die Wahrheit liebt, sollte ihn nicht verpassen. Denn „Pol Pot Dancing“ trifft mehr als nur einen neuralgischen Punkt.
Der Film ist so gelungen, weil er einerseits das Land Kambodscha aus ungewöhnlicher Sicht, nämlich aus der seiner Tempeltänzer, zeigt und andererseits auch die Geschichte der Militärdiktatur von Pol Pot aus dieser Perspektive beleuchtet. Ein reiner Tanzfilm ist es trotzdem nicht, es geht auch um Alltag und Politik, um Religion und Familienleben in Kambodscha.
Auf Englisch und in Khmer, mit deutschen Untertiteln und vor allem in eindringlichen, vorzüglich gefilmten Bildern (Kamera: Marcus Winterbauer) bringt uns der Film Land und Leute näher.
Regisseur Enrique Sánchez Lansch wurde mit dem Tanzfilm „Rhythm is it!“ (2004) bekannt. Ein hartnäckiger Choreograf lehrt darin zusammen mit Dirigent Simon Rattle und den Berliner Philharmonikern Dutzende von Jugendlichen das Tanzen. Und der Filmregisseur blieb bei Themen wie Musik und Bildung.
Nach Kambodscha schickte ihn das Goethe-Institut, damit er Workshops abhalte.
Als er dort hörte, Pol Pot sei der Ziehsohn einer legendären Tänzerin, die nur mit Glück den Terror der Roten Khmer überlebte, ließ ihn das nicht mehr los. Drei Mal reiste er mit Kamera- und Tonmann an, um das Land und seine Tempel zu filmen. Der Film entstand dann auch mit Archivmaterial, hervorragend montiert von Julia Oehring.
Man sieht die Tanzlehrerin Sophiline Cheam Shapiro in Phnom Penh, die eine Tempeltanzgruppe leitet. Auch ihr Schüler Prumsodun Ok ist schon ein Meister des Tanzes. Im Studio steht auf einem Tisch ein kleiner Altar: Vor jeder Probe wird eine religiöse Zeremonie abgehalten. Denn Kunst und Religion sind eng verzahnt. Das Verhältnis zur Vergangenheit ist zwiespältig und immer noch von Angst geprägt: Die Geister von Pol Pot und seinen Ahnen werden angerufen, um sie um Erlaubnis für den Film zu bitten.
Und an anderer Stelle sagt eine Tänzerin, eigentlich seien alle Menschen damals Opfer gewesen. Das ist so natürlich nicht richtig. Die Soldaten, die das Terrorregime unterstützten und Menschen umbrachten, kann man nicht mit ihren eigenen Opfern gleichsetzen.
Die Hauptperson des Films ist indes die 1994 verstorbene Tanzlegende und Königskonkubine Chea Samy. Sophiline hatte noch bei ihr Unterricht und erlebte, wie eine Frau vollkommen durchdrungen war von ihrer Kunst. In historischen Aufnahmen spricht Samy selbst. Sie war schon zu Lebzeiten eine Legende und Autorität, und ohne sie wäre der Apsara möglicherweise nie wieder zu einer Blüte gekommen.
Denn bis zu zwei Millionen Menschen starben unter den Roten Khmer, die zudem alle Künste hassten, genau so, wie fundamentalistische Religionen die Künste und die Kulturkritik hassen.
Besonders Städter wurden von den Roten Khmer wahllos verhaftet und gefoltert oder als Sklaven missbraucht. „Menschen des 17. April“ nannten die irren Täter sie. Pol Pot war in Paris politisch extrem geworden und frönte einer von Mao inspirierten, allerdings nochmals radikalisierten, vorgeblich kommunistischen Ideologie. Er und seine Mitstreiter wollten das ganze Land auf Landwirtschaft umstellen; die städtische Zivilisation war ihnen verhasst. Und Menschenleben zählten für sie nicht.
Auch Samy schuftete im Arbeitslager. Ob sie bei der Erziehung von Saloth Sar, der sich erst später Pol Pot nannte, was falsch gemacht hat, fragte sie sich nicht. Aber Künstler und Intellektuelle galten plötzlich als Feinde; Samy musste verheimlichen, wer sie war. Sie durfte auch nicht tanzen, um sich nicht zu verraten. Und nur heimlich, abends, wenn alle schliefen, machte sie im Sitzen einige Übungen.
Nach dem Ende der Schreckensherrschaft begann sie jedoch bald, wieder zu unterrichten. Für den klassischen kambodschanischen Tanz werden schon Kinder – wie fürs Ballett – akquiriert. Der Tanz ist langsam, aber anmutig und kontrolliert. Finger und Zehen – man tanzt barfuß – sind angespannt, also gespreizt, was dem Ganzen eine skurril-manierierte Note verleiht. Schon durch das Training werden die Finger und die Zehen überdehnt, was ihnen einen eigenartig übergelenkigen Ausdruck verleiht. Was wiederum an die Übergelenkigkeit westlicher Tänzer erinnert.
Oft geht es um die Beschwörung der Natur. Blumen und ihr Wachstum, der Regen und seine Folgen, aber auch die Liebe unter Menschen und ihre Interaktionen werden tänzerisch-gestisch beschrieben.
Es gibt Hunderte von festgelegten Posen, deren exakte Linien es zu erlernen gilt. Ihre surreale Ästhetik kommt vor allem in Verbindung mit der hinduistischen und buddhistischen Tempelarchitektur zur Geltung. Durch das Zeitlupentempo, in dem die Tanzenden sich bewegen, entsteht eine deutlich meditativ geprägte Wirkung.
Dennoch strahlt dieser Tanz, der manchmal an Qi Gong oder Tai Chi erinnern, auch Magie aus. Und spätestens, wenn Sophiline weinend am vermuteten Grab ihres Vaters einige Räucherstäbchen und Obst als Opfer aufstellt, fühlt man: Kambodscha ist ein Land mit Seele, das zu Unrecht von der Welt vergessen wird. Man sollte die Gelegenheit, dem Land und seiner hohen Tanzkunst mit diesem Film endlich mal nahe zu kommen, wirklich nicht verpassen.
Auch wenn es eine gewisse didaktische Befähigung braucht, um den weihnachtlichen „Nussknacker“ und „Pol Pot Dancing“ zusammen zu bringen: Über diese Befähigung sollten hier alle verfügen.
Gisela Sonnenburg
Es handelt sich übrigens um eine deutsch-norwegische Produktion, an der auch arte und das ZDF beteiligt sind.