Manchmal ist das Einfachste am schwersten zu machen, heißt es. Aber ist „Der Nussknacker“ überhaupt einfach zu nennen? Die Musik von Peter I. Tschaikowsky ist so schmissig und mitreißend, so gefühlvoll und stimmig, dass sie schon fast allein das Publikum glücklich machen kann. Die klassische Story, ersonnen von Marius Petipa nach der Erzählung „Nussknacker und Mausekönig“ von E.T.A. Hoffmann, lässt sich zudem gut variieren: von leichten Veränderungen, wie bei Yuri Grigorovich in der legendären Bolschoi-Fassung von 1966, bis hin zur genialen Neuschöpfung von John Neumeier aus den Jahren 1971/74. Bemerkenswert sind außerdem der hoch moderne „Casse Noisette“ von Thierry Malandain aus Biarritz von 2003 (einem ästhetischen Vorläufer der später bei Marco Goecke und anderen wiederholten Abstraktion der Tanzsprache) sowie die im Gegensatz dazu betont lieblich-niedliche Version von Simone Valastro vom neapolitanischen Teatro San Carlo. Das Staatsballett Berlin hatte, man erinnert sich gern, auch mal einen fulminant-opulenten „Nussknacker“ – von Vasily Medvedev und Yuri Burlaka mit Designs nach der Originalausstattung von 1892 inszeniert – im Repertoire, und die Dresdner Striezelmarkt-Version von Aaron S. Watkin ist ebenfalls unvergessen. Beim Hamburg Ballett jedoch hat jedes Debüt in Neumeiers „Nussknacker“ seit Jahrzehnten den aufblitzenden Charakter einer Premiere: So mit Matias Oberlin als neuem Ballettmeister Drosselmeier oder auch mit Lormaigne Bockmühl als neuer Marie.
Matias Oberlin tanzt mit viel Eleganz und Aplomb normalerweise die Partie des Günther in Neumeiers „Nussknacker“, so zum Beispiel auch in der gestrigen Silvestervorstellung. Aber als Ballettmeister Drosselmeier hat er in der Matinee-Vorstellung am Zweiten Weihnachtstag 24 – die zugleich die 350. Vorstellung des Stücks in Hamburg war – sein Rollenrepertoire maßgeblich erweitert.
Mit der für diese Partie notwendigen Poesie, aber auch als ultrakomisch umgesetzten Egozentrik, dazu mit sichtlicher Liebe zum Tanz und vor allem mit ausgesprochener Gönnerhaftigkeit dem Rest der Welt gegenüber charmiert Matias Oberlin im Outfit mit Blümchenweste und ondulierten Locken schauspielerisch als Drosselmeier. Hinzu kommen raffinierte klassische Sprungkombinationen, Slapstick fast à la Chaplin und dennoch eine Weihe, die so nur John Neumeier in einen komischen Rahmen fassen kann.
Die Partie wurde von Neumeier frei nach den Vorbildern von Marius Petipa und Enrico Cecchetti erfunden, zwei historisch bedeutsamen Ballettmeistern, und sie ist das Sinnbild eines Maître de ballet des 19. Jahrhunderts. Der Gehstock gegen die körperlichen Schäden des Alters als ehemaliger Ballerino diente übrigens zugleich auch zur Korrektur und sogar zur Züchtigung der Studierenden.
Aber auch Ehrfurcht vor der Kunst ist hier angesagt: Drosselmeier lässt sich verehren, weil er die hohen Ideale seiner Kunst verehrt und verkörpert.
Dieser Drosselmeier ist also kein rätselhafter Pate mit Zauberer-Bonus, sondern ein praktischer Theatermann. Sein Star am Theater, das dem Mariinsky Theater in Sankt Petersburg nachempfunden ist, ist Louise, die große Schwester von Marie. Und Maries 12. Geburtstag wird hier – statt des Weihnachtsfestes – begangen.
Wenn sich der Vorhang hebt (der eine Replik aus Sankt Petersburg als aufgemalte Staffage darstellt), ist man sogleich im Belle-Époque-Wohnzimmer aus der Hand von Jürgen Rose, dessen Interieur vom Film „Tod in Venedig“ von Luchino Visconti – dort wiederum vom venezianischen Hotel-Foyer – inspiriert sein könnte. Die Jugendstil-Säulen mit Pflanzen darauf, der Nippes im Regal, die Behaglichkeit dunkler Farben – all das übermittelt sich in eins.
Marie tänzelt herbei, spielt mit der Puppe, mit der Ballerina aus Porzellan und schließlich mit dem Modell einer Theaterbühne. Dieses Requisit gibt das Leit-Thema des Stücks in Neumeiers Interpretation vor: die Liebe zum Theater, zur Oper, zum Ballett.
Ana Torrequebrada tanzt die Marie mit kokett-kecker Artigkeit, die stets eine gute Portion Schelmentum hinter der anerzogenen Fassade als braves Kind aufblitzen lässt.
Am Silvesterabend debütierte dann die mit 23 Jahren noch sehr junge und zudem noch jünger aussehende Lormaigne Bockmühl als Marie. Und siehe: Eine neue Interpretation ist da! Wie ein Kind, ganz zart, fast zurückhaltend, mit stets fragend-schüchternem Blick und von daher fast demütig tanzt Bockmühl die Marie. Deren Kessheit ist hier fast ganz reduziert, dafür gewinnt Marie im Laufe des Abends sichtlich an Reife und auch an Selbstbewusstsein.
Es fehlt in dieser Saison allerdings die frische, betont lebenslustige Marie von Emilie Mazon, die mit vital-runden Formen ein ästhetisches Gegenstück zur im Ballett stets drohenden zu starken Magerkeit ist.
Dafür tanzt Olivia Betteridge in weiterer Besetzung die Marie und bringt da vor allem deren Neugier aufs Erwachsenwerden, auf die Erfahrungen mit der Liebe ein.
Man erinnert sich übrigens gern auch an vorherige Generationen von Neumeier-Marien, und die historischen Fotos, die es davon gibt, bestärken einen darin, dass ein gutes und gelungenes Stück – wie dieser Neumeier‘sche „Nussknacker“ – wirklich viele verschiedene Interpretationen erlaubt und sogar herausfordert. Zum Vergnügen des Publikums!
Die Psychologie im Neumeier-„Nussknacker“ ist aber auch spannend. Wie ein so junges Mädchen wie seine Marie mit der eigenen Ängstlichkeit und mit den eigenen Träumen umgehen kann, lässt sich darin so vorzüglich studieren, als handle es sich um ein äußerst sinnvolles Ratgeberbuch. Dabei ist es so viel vielschichtiger!
An sich kann man diesen „Nussknacker“, in dem Marie im Traum und unter der Anleitung von Ballettmeister Drosselmeier auf Reisen ins Theater geht, rund ums Jahr ansehen. Denn die Festlichkeit des gehobenen Kindergeburtstags ersetzt die weihnachtliche Stimmung zur Gänze.
Dennoch ist es zur Weihnachtszeit ein besonders passendes Ballett. Dafür sorgt schon die Musik, die aus dem Kontext der Vorweihnachtszeit und der winterlichen Stimmung berühmt ist.
In Maries Traum, dessen lebhafter Teil sie ist, folgt sie Drosselmeier auf die Probebühne des Theaters. Junge Damen im Outfit der von Edgar Degas‘ Gemälden her bekannten Ballerinen des 19. Jahrhunderts trainieren und proben. Die Silhouetten, schwarz vor leuchtend sonnigem Grund, erinnern an die berühmten Tänzerinnen aus Harald Landers „Études“ und haben dennoch ihren ganz eigenen Schmelz.
Maries Schwarm, der Verlobte ihrer Schwester namens Günther, ist auch bald da. Er hatte Marie zum Geburtstag einen Nussknacker geschenkt, der seine eigene weiße Uniform trägt – ihn hat Marie als Maskottchen im Traum mit dabei. Die Puppe schaut zu, wenn sie jetzt ihren ersten gelungenen Pas de deux mit Günther tanzen darf.
Zuvor kann Marie in dieser Inszenierung nämlich noch nicht gut tanzen. Ähnlich wie Julia in Neumeiers „Romeo und Julia“ fehlt Marie zu Beginn die Befähigung zum anmutigen Spitzentanz. Julia lernt das Tanzen durch die Liebe zu Romeo, Marie durch die Befreiung, im Theater zu sein.
Denn darum geht es hier: Das Theater ernst zu nehmen.
Die Botschaft dessen ist allerdings keineswegs Unterhaltung um der Unterhaltung willen. Sondern: Es geht um Versöhnung, um Verständnis, um Einfühlung, auch ums richtige Handeln.
Denn der eigentliche Sinn von Theater ist bei Neumeier wie bei Grigorovich die Liebe zum Miteinander.
Und so tanzen im Bolschoi verschiedene charaktervolle Paare und Gruppen auf, um Marie von den Vorzügen der Theaterwelt zu überzeugen.
Drosselmeier selbst tanzt zwei Mal mit: Als feuriger Spanier in der Miniatur zu „Die Schöne von Granada“ und als assistierender Partner im anspruchsvollen Spitzenschuh-Part des „Chinesischen Vogel“.
Ein weiteres Highlight: Das im Adagio seine Liebe zelebrierende ägyptische Paar aus „La Fille du Pharaon“, das vor allem an Silvester in der Verkörperung von Anna Laudere und Edvin Revazov an Delikatheit nichts zu wünschen übrig lässt.
Madoka Sugai und Alexandr Trusch hingegen berücken als klassisch à la Lew Iwanow gehaltenen Tanz von Louise und Günther in der Weihnachtsmatinee – sie sind das wahrscheinlich beste Tanzpaar, das die deutsche Ballettbühne derzeit zu bieten hat. Anmutig und dennoch präzise, vielfältig und doch sehr genau Gefühle und Gedanken übermittelnd, brillieren sie miteinander und auch in ihren Soli oder in den Pas mit anderen Teilnehmern des Personals.
Man wünscht sich, wenn diese beiden tanzen, dass die Zeit stehen bleiben möge!
Und in gewisser Weise sind Raum und Zeit tatsächlich wie aufgehoben, denn statt der Realität der Bühne zählt die Bühnenrealität. Das Theater ernst zu nehmen, heißt: Die Utopie ernst nehmen.
Die Bühne liefert den Gegenentwurf zu dem, was falsch läuft. Frieden statt Krieg, Liebe statt Hass siegen hier. Harmonie statt Destruktion – Mensch und Umwelt befinden sich in einem eigenen Universum, das erhebend und anregend, beschwingend und dennoch seriös macht und wirkt.
Gerade auch das Lustige muss hier ernst genommen werden. Da ist an Silvester die unverwüstlich aparte Silvia Azzoni als „Esmeralda und die Narren“, eine Partie, die in der Weihnachtsmatinee von der edel-eleganten Ida Praetorius getanzt wurde. Was für eine Lebenslust, was für eine Bereitschaft, anderen zu vertrauen und mit ihnen närrisch herumzutollen!
Auch die Jungs vom Hamburg Ballett, die dank der ergreifenden Männerballette von John Neumeier und der Ausbildung hierfür an der zur Company gehörenden Ballettschule besonderen Drive haben, verströmen so viel pikanten Charme und dennoch anmutige Sportlichkeit, dass jede Sekunde mit ihnen ein Vergnügen ist.
Kein Wackler, kein Fehler stört die Balancen und Sprünge der Tollkühnen. Wiewohl das Philharmonische Staatsorchester Hamburg unter David Briskin bei der Matinee am Zweiten Weihnachtstag nicht immer optimal im Timing ist.
Die Ballerinen hingegen becircen mit graziös-weichen Bewegungen, mit Schnelligkeit in den Sprüngen und Drehungen und auch mit leicht erreicht wirkenden, schön gehaltenen Posen nicht nur bei den Hebungen.
Die geschmeidig-graziöse Xue Lin und der männlich-erhabene Matias Oberlin sind dann als Louise und Günther das letzte Grand Pas de deux-Paar des Jahres beim Hamburg Ballett: in der Silvestervorstellung, zu der auch Ballettintendant Demis Volpi auf die Bühne kommt und allen, die es hören wollen, ein gutes neues Jahr wünscht.
Derweil konnte, wer nicht gerade in einem Opernhaus saß, daheim vorm Endgerät den „Nussknacker“ in der Inszenierung von Yuri Grigorovich im Livestream sehen. Zugleich lief diese Aufzeichnung der Matineevorstellung vom 31.12.24 aus dem Bolschoi Theater auch in hundert russischen Kinos, wo sie ebenfalls gratis zugänglich war. Das Doppelevent – Übertragung in die Kinos wie ins weltweite Internet – fand so erstmals überhaupt statt und erinnerte an die seligen Zeiten, als es noch (allerdings nicht kostenfrei) regelmäßig Bolschoi-Livestreams in den internationalen Kinos gab.
Angekündigt worden war eine Live-Übertragung vom Abend, ausgestrahlt wurde dann aber die aufgezeichnete Matinee-Vorstellung vom 31.12, was eine absolute Starbesetzung bedeutete.
Artem Ovcharenko, der unter anderem aus John Neumeiers „Anna Karenina“ auch in Hamburg als einst dort regelmäßig gastierender Superstarballerino bekannt und beliebt ist, ist darin als Nussknacker-Prinz zu sehen: ganz in Liebesrot gekleidet.
In Grigorovichs Version handelt es sich um einen Weihnachtstraum, den die kleine Heldin, die hier ebenfalls Marie (und nicht, wie in anderen Versionen, Klara) heißt. Aber Marie verwandelt sich in ihrem Traum, sie wird vom Kind zu einer Partnerin.
Sie erlebt zunächst ein knallbuntes Weihnachtsfest unterm Tannenbaum, das die barock gewandeten Erwachsenen zwar ausgerichtet, aber nicht so richtig zu genießen haben. Denn was hier zählt, ist die kindliche Fantasie.
Tänzerinnen stellen Jungs und Mädels dar, die begeistert wie ein Corps de ballet in einem Musical alles verfolgen, was geschieht. Und da zieht wieder Drosselmeyer (hier wird er mit y geschrieben) insofern die Fäden, als er wie ein Zeremonienmeister seine Puppen auftanzen lässt.
Was diese Stückversion so aktuell und zeitlos zugleich macht: Es geht darin um Völkerfreundschaft, um ein internationales Miteinander. Denn die Folklore-Figuren sind hier lebendig werdende Puppenpaare, die meistens alle zusammen als bunte Gruppe auftreten und tanzen.
Marie schaut zunächst nur zu – aber sie darf dann mit dem Nussknacker-Prinzen tanzen, im Traum im verschneiten Wald, wo sich der Weihnachtsbaum als beschützender Winterbaum wiederfindet und die Schneeflocken mit knallweißen Tutus und Glitzerkrönchen auf dem Kopf ganz perfekt à la Balanchine auftänzeln.
Ein zart-Showballett in hellem Rosé entführt dann aus dieser Traumweiße noch in eine weitere Traumwelt: in das Reich der lebendigen Spielpuppen.
Grigorovichs „Nussknacker“ lebt also von Showelementen, es ist ein grandios-großzügiges Nummernballett, in dem die Psychologie der Hauptfigur keine allzu große Rolle spielt.
Aber auch hier berückt die hohe Kunst der Tänzerinnen und Tänzer: Die Stars Kristina Petrova und Alexei Putintsev (von Galas her etwa aus Deutschland bekannt) tanzen mit Brillanz die spanischen Puppen, Anna Tikhomirova (Gattin von Nussknacker-Prinz Artem Ovcharenko) und Ivan Alexeyev verkörpern mit hohem Feingefühl die indischen. Maria Mishina und Ratmir Dzhumaliev diskriminieren niemanden, wenn sie in traditionell chinesischen Kostümen vor allem mit starker Sprungkraft ihre Virtuosität zeigen, und auch das russische und das französische Paar reißen mit blitzschnellen, ausdrucksstarken Tänzen mit.
Den Grand Pas de deux tanzt dann der rote Prinz mit der herzzerreißend lächelnden Elizaveta Kokorev als Marie in erneuertem Hochzeits-Tutu-Ornat. Die Pracht und Herrlichkeit eines Jungmädchentraums findet sich akkurat in Szene gesetzt.
Am Pult: Valery Gergiev, der zwar von vielen im Westen angefeindet wird, weil er ein Freund von Vladimir Putin ist, der aber dennoch unbestreitbar einer der besten, wenn nicht der beste lebende Dirigent ist. Jeder Ton ist da Genuss pur. Und:
Es ist kaum zu fassen, wie punktgenau und doch natürlich die Tänzerinnen und Tänzer hier zur Musik tanzen oder umgekehrt die Musik das Ballettgeschehen begleitet.
Wer mehr davon sehen möchte und auch von John Neumeier: Im Januar 2025 wird das Bolschoi Ballett wieder einige Male, und zwar am 29.01. und am 30.01.25, „Anna Karenina“ von Neumeier tanzen. Der Dirigent ist dann Alexei Bogorad – die tanzende Besetzung ist noch unbekannt. Aber die Sterne stehen günstig dafür, dass Artem Ovcharenko, der seit dem russischen Premieremonat März 2018 in dieser deutsch-russisch-kanadischen Koproduktion tanzt, wieder in der männlichen Hauptrolle als Graf Wronski mit dabei ist. Und John Neumeier ist und bleibt ein aufrechter Demokrat, wenn er diesen Aufführungen nicht entgegen tritt.
Spätestens jetzt dürfte bekannt sein, dass das Ballett-Journal Kunst und Kultur als Brücken zur Versöhnung sieht und nicht als Vehikel des Krieges oder der weiteren Entzweiung von Menschen und Gesellschaften.
Wer hingegen mehr von Neumeiers „Nussknacker“ sehen will, kann das beim Hamburg Ballett: Bis zum 5. Januar 25 läuft die aktuelle Serie dieses wundervollen Stücks, das man wirklich gar nicht oft genug sehen kann.
Und wie heißt es in Hamburg so schön? PROSIT NEUJAHR!
Gisela Sonnenburg / Franka Maria Selz
Den Livestream gibt es bis auf weiteres hier: https://vkvideo.ru/video-52257710_456240348
Und noch ein erinnerungsseliger Blick auf das tolle Hamburger Tanzpaar Madoka Sugai und Alexandr Trusch, allerdings vom Dezember 23: