
David Moore, Jason Reilly, Elisa Badenes und Marcia Haydée, einst bedeutendste Protagonistin und Muse unter John Cranko, proben hier für „Das Lied von der Erde“ von Kenneth MacMillan. Foto vom Stuttgarter Ballett: Roman Novitzky
„MAHLER X DREI MEISTER“ – dieser Titel, dieser Abend in Stuttgart macht sehr neugierig. Hier wird der Bogen künstlerisch von 1884 bis 1973 gespannt, inhaltlich jedoch vom alten China bis in die Gegenwart und Zukunft. Als Gustav Mahler vor über hundert Jahren „Das Lied von der Erde“, „Lieder eines fahrenden Gesellen“ und das Adagio für seine zehnte Sinfonie komponierte, hatte er ganz sicher keine Ahnung, dass diese Musiken einst die Grundlage für bahnbrechende moderne Ballette sein würden. Zumal das spätromantische Genie ein Stück als sein vielleicht persönlichstes Werk bezeichnete: „Das Lied von der Erde“, das anstelle einer neunten Sinfonie des Komponisten entstand, ist in gewisser Weise ein Selbstbildnis mit Klängen Mahlers, der es 1908 und somit drei Jahre vor seinem Tod ersann.
Dabei geht es um die Visionen und symbolhaften Erfahrungen eines Mannes, der nicht nur dem Leben, sondern auch dem Rausch sowie der Beschäftigung mit dem Ableben melancholisch anhängt (was an sich nicht Mahlers Problem war, aber in seiner Seelenlandschaft eben doch einen Platz hatte). Die stilisierte Dichtung, ursprünglich aus dem Altchinesischen kommend, die Mahler hier vertonte, beschreibt den Lebenszyklus in verschiedenen Jahreszeiten; Gefühle und soziale Zustände der männlichen Hauptperson sind die Themen.
1965 wagte dann der schottisch-britische Choreograf Kenneth MacMillan mit der Kreation von „Das Lied von der Erde“ für das Stuttgarter Ballett eine Umsetzung dessen in Ballett. Man darf von einer sensationellen Tat sprechen, denn die Opernintendanz in London, wo MacMillan meistens arbeitete, hatte eine „Vertanzung“ der hehren Klänge Mahlers abgelehnt. Erst die Schwaben boten der künstlerischen Freiheit eine Heimstatt. Seither gehört das Stück fix zum Stuttgarter Ballett, adelt es inhaltlich-formal wie von der Entstehungsgeschichte her.
Zusammen mit dem ebenfalls berauschend schönen, 1971 kreierten Männer-Pas-de-deux „Lieder eines fahrenden Gesellen“ von Maurice Béjart, in dem es um Liebe, Liebeskummer, Weltschmerz, Misstrauen, Vertrauen und Freundschaft geht, sowie mit einem prägnant-eindrücklichen Auszug aus „Spuren“ (1973) aus den ebenfalls genialen Händen des Stuttgarter Ballettwundermachers John Cranko, ergibt sich ein dreiteiliges Ballettprogramm höchster Güte.
„Spuren“ entstand kurz vor dem unerwarteten Tod Crankos und ist das einzige bedeutende Ballett, das sich der Thematik des Dritten Reichs stellt. Die Heldin ist eine Überlebende des Holocaust, die versucht, ein neues Leben jenseits der erlittenen Schmerzen und traumatischen Verlusterfahrungen zu beginnen. Und dabei stellt sich heraus, dass die Vergangenheit sie nie allein lässt, sie nicht ruhen lässt, sie immens belastet.

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Ein Leben, als hätte es die Gewaltverbrechen in ihrem Leben nicht gegeben, ist nicht möglich. Aber es ist möglich, der Gegenwart und der Zukunft mit Wissen und Solidarität zu begegnen. Gustav Mahlers letztes komponiertes Stück, das Adagio zur zehnten Sinfonie, bildet hier den musikalischen Hintergrund, um Verzweiflung, aber auch Hoffnung zu zeigen.
Insgesamt beinhaltet dieser Abend so viele Emotionen und zeitgemäße Reaktionsmuster, dass man schon sagen kann: Er ist ein einziges verkapptes Lehrstück, eine Lebenshilfe, eine sinnvolle Reflexion, die jede und jeder, die oder der in Deutschland lebt, sollte nachvollziehen können.

Gleich mehrere Starbesetzungen locken zu „MAHLER X DREI MEISTER“ beim Stuttgarter Ballett. Hier ein Probenfoto zu den „Liedern eines fahrenden Gesellen“ mit Friedemann Vogel und Martí Paixà. Foto: Roman Novitzky
Gewalt wird uns als Gesellschaft niemals wirklich nach vorne bringen. Daran sollten wir denken, wenn wir Computerspiele und Netflix-Serien entwickeln, die das Menschsein in Frage stellen, weil sie die niedrigsten Triebe bedienen und die richtigen Handlungsweisen nicht mal als eine Möglichkeit unter anderen aufzeigen.
Wer den Abend weiterdenken will, kann sich übrigens an den vor allem Trauer bewältigenden Pas de trois „Nacht“, also an den vierten Satz der erst später komplettierten „Dritten Sinfonie von Gustav Mahler“ von John Neumeier erinnern. Er entstand 1973, kurz nach dem Tode Crankos, als Dankeswidmung an John Cranko und seine Compagnie. Auch hierin geht es, wie in Béjarts „Lieder eines fahrenden Gesellen“, um das Zusammenhalten und einander Beistehen von Menschen.
Der Aspekt einer homosexuellen Liebesbeziehung ist in diesem Fall allerdings dem Béjart-Stück vorbehalten. Was es so selten wie fortschrittlich macht, denn 1971 war Homosexualität nirgendwo auf der Welt offiziell gut gelitten. In vielen Staaten gab (und gibt) es Gefängnisstrafen für schwule Liebe, und auch in unseren Breitengraden wurde offene Homosexualität allenfalls in einigen Bereichen, wie am Theater oder in der Mode, geduldet, ihre rechtliche Emanzipation aber erfolgte erst im August 2008: mit dem Gesetz gegen Diskriminierung.
Männerpaartänze konnten das Tabu wortlos schon früher sprengen.
Und Maurice Béjart schuf mit der als durchaus kompliziert anzusehenden Beziehung, die er in den „Liedern eines fahrenden Gesellen“ schildert, eine utopische Symbiose aus Erotik und Freundschaft.

Eine frühere Besetzung begeisterte auch: Marijn Rademaker (mittig) nahm mit dieser Rollengestaltung seinen Abschied aus Stuttgart, als „Der Ewige“ im Ballett „Das Lied der Erde“ von Kenneth MacMillan. Foto: Stuttgarter Ballett
Interessant ist, was für die anderen Stücke ebenfalls gilt: Die Menschen in ihnen verändern sich. Sie erleben eine Metamorphose, sie durchleiden und lernen etwas. Ihr Leben wird transformiert.
Im ersten Stück des Abends ist das sogar nicht mehr reziprok, denn die Gestalt des „Ewigen“ darin – er trägt eine die obere Gesichtshälfte bedeckende Maske – steht sowohl für das Göttliche im Menschen als auch für den Tod.
Oder geht es auch hier um schwule Liebe? Um die Liebe und das Leben zu dritt gar? Zunächst geht es, neben vom Solisten und dem Ensemble illustrierten Atmosphären, um die Einsamkeit eines Mannes, der dann eine Frau findet – und dann mit dem „Ewigen“ geht. Aber auch die Ballerina wird vom „Ewigen“ geholt, und ob nun göttliche Liebe oder ein sinnlich-harmonisches Miteinander der höchste Wert hier ist, bleibt Interpretationssache.
Beides hat in der Geschichte des Tanzes, die durchaus aus sakral geprägt ist, seine Bedeutung. Das Miteinander betrifft vor allem die Teamarbeit, die auch in Stuttgart für den Chef Tamas Detrich die Grundlage allen Handelns ist.
Stuttgarts Ballettintendant Detrich ist kurz vor der morgigen Premiere zwar noch im Arbeitstrubel, aber bereits zu beglückwünschen: Seine Idee, die genannten drei Stücke zusammenzufassen, ist hervorragend, und dass er die Möglichkeit hat, alle drei hochkarätigen Kunstwerke mit exquisiten Tänzerinnen und Tänzern mehrfach zu besetzen, macht jede Aufführungsserie zu einer überraschungsreichen Erfahrung, auch und gerade für Kenner des modernen Balletts.

Stuttgarts Ballettintendant Tamas Detrich – hier bei sommerlichem Wetter mit Gattin Marion Jäger vor dem Opernhaus in Stuttgart – tüftelte mal wieder ein rundum stimmiges Programm aus. Foto: Gisela Sonnenburg
Man muss dazu sagen: Tamas Detrich, Amerikaner ungarischer Herkunft und seit den 70er-Jahren in Stuttgart lebend, ist einer der besten Ballettmeister der Welt. Er hat nicht nur das Tanzen, sondern auch das Verständnis zum Coachen wirklich tief in sich, und er besetzt die Partien in den verschiedenen Stücken keineswegs nach oberflächlichen Mustern des Ausprobierens.
Beim Stuttgarter Ballett – wo Detrich seit 2018 der Ballettintendant ist, nachdem er viele Jahre als Stellvertreter bereits in diesem Bereich gewirkt hat – wird denn auch so geprobt, wie es im Ballett sein soll: intensiv, präzise, ausdrucksstark, mit viel Tiefgang für das, was die Kunst vom Sport unterscheidet.

Elisa Badenes und Martí Paixà proben für „Spuren“ von John Cranko. Foto: Roman Novitzky
Die Linien, die ein tanzender oder auch posierender Körper ergibt, sind dabei entscheidend für das Gelingen der Sache. Dennoch zählen auch Mimik und Expressivität nicht nur der großen, sondern auch der ganz kleinen Bewegungen.
Detrich weiß das uns legt größten Wert auf die Feinheit bis ins letzte Detail bei der Ballettarbeit. Die Ergebnisse sind denn auch ein Genuss: nicht nur in ästhetischer, sondern auch in inhaltlicher Hinsicht.
Allerdings: Wie es unter Detrichs Anleitung eine Stuttgarter Spezialität in den letzten Jahren geworden ist, wurde die Premierenbesetzung erst jetzt, kurz vor dem Event verraten. Denn es wird sozusagen bis zum Letzten noch darum gerungen, wer in welcher Partie auf die Premierenbühne darf.
Das schürt nicht nur den Eifer oder Wettkampf der einzelnen Tanzinterpreten, sondern schweißt sie auch zusammen. Die Hauptsache ist dann, ihrem Empfinden nach, nicht, ob sie selbst den Premierenerfolg einheimsen, sondern dass der Abend hochgradig gelingt: als Ensembleleistung im besten Sinne.

„Das Lied von der Erde“ hier in einer historischen Besetzung, aber auch schon mit Elisa Badenes, beim Stuttgarter Ballett. Foto: Stuttgarter Ballett.
Jetzt aber steht die Premierenbesetzung:
Es sind David Moore und Elisa Badenes, die vom „Ewigen“ Jason Reilly begleitet, als Solisten im „Lied von der Erde“ brillieren werden.
Henrik Erikson, erst kürzlich zum Ersten Solisten gekürt und in der Ausstrahlung ein wenig dem jungen John Neumeier (der auch mal ein Cranko-Tänzer in Stuttgart war) ähnelnd, wird mit dem schon versierteren Martí Paixà das aufregende Duo in den „Liedern eines fahrenden Gesellen“ darstellen.
Und in den „Spuren“ wird wieder Elisa Badenes als Prima triumphieren, in der von Marcia Haydée kreierten Partie der Holocaust-Überlebenden, und David Moore und Martí Paixà werden ihr tänzerisch Beistand leisten.
Tamas Detrich hat derweil zu den Stücken jeweils innige Beziehungen.

Geduld ist eine unserer leichtesten Übungen: Tamas Detrich weiß, worauf die Ballettgemeinde wartet… Videostill von einer Online-PK: Gisela Sonnenburg
Im folgenden Interview legt er diese dar – und erklärt auch, warum er überhaupt zu dieser Kombination von Meisterwerken fand. Darin spielen auch zwei Jubiläen eine Rolle.
Ballett-Journal: Herr Detrich, wie sind Sie auf die Programmzusammenstellung gekommen?
Tamas Detrich: Der Auszug aus John Crankos „Spuren“, der für die Gala zum 50. Todestag von John Cranko rekonstruiert wurde, wurde viel zu lange nicht aufgeführt. Nach der Gala erreichten mich viele Stimmen, dass das Werk einen festen Teil im Repertoire verdient hat – das Stück hatte die Menschen tief berührt und bewegt. Im Jahr 2025 feiert MacMillans „Das Lied von der Erde“ sein 60-jähriges Jubiläum. Das Stück liegt mir persönlich sehr am Herzen. Als ich es als junger Tänzer zum ersten Mal gesehen habe, war ich absolut überwältigt. Schon lange habe ich mit dem Gedanken gespielt, einen Ballettabend mit Stücken zu der Musik von Gustav Mahler ins Programm aufzunehmen. Maurice Béjarts „Lieder eines fahrenden Gesellen“ habe ich 1976 als Schüler zum ersten Mal gesehen und hatte nur wenige Jahre später die Chance, das Stück selbst zu tanzen. Es ist das perfekte Stück, um diesen Ballettabend komplett zu machen.

Friedemann Vogel und Elisa Badenes proben für „Spuren“ von John Cranko, einem besonders eindringlich-politischen Ballett. Foto vom Stuttgarter Ballett: Roman Novitzky
Ballett-Journal: Alle drei Stücke sind eng mit der Geschichte des Stuttgarter Balletts verbunden. Lebt der Geist der 60er- und 70er-Jahre gerade jetzt wieder auf?
Tamas Detrich: Alle drei Stücke sind zeitlos und doch heute aktueller als je zuvor. Jede Besetzung und jede Generation interpretieren die Stücke ganz neu. Der Tanz lebt davon, immer wieder neu interpretiert zu werden, und auch jeder und jede im Publikum kann die Stücke auf seine eigene Art und Weise sehen und verstehen. Gerade „Spuren“ sehe ich heute als sehr relevant an. Obwohl die Uraufführung bereits über 50 Jahre her ist, scheint es, als wäre Crankos politisches Stück heute aktueller denn je. Ich denke, jetzt ist der absolut richtige Zeitpunkt für dieses Stück.

Rückblick: Marcia Haydée, Richard Cragun und Heinz Clauss in „Spuren“ von John Cranko 1973 beim Stuttgarter Ballett. Foto: Sabine Feil
Ballett-Journal: Sie selbst haben den „Ewigen“ getanzt. Kann man sagen, dass diese Figur die Perspektive auf den Abend bestimmt?
Tamas Detrich: Mit dem Ballettabend möchte ich dem Publikum vor allem Hoffnung mitgeben. Hoffnung auf die Zukunft, auch wenn sie ungewiss ist.
Ballett-Journal: Das Ende des „Fahrenden Gesellen“ stimmt optimistisch. Aber insgesamt finden sich auch viel Wehmut und Melancholie in den Stücken. Ist es Ihnen wichtig, dem Publikum am Ende eine positive Geste mitzugeben?
Tamas Detrich: Ich hoffe, dass das Publikum den Abend mit einem positiven, aber auch nachdenklichen Gefühl verlässt. Die Musik von Gustav Mahler zeugt von einer sehr großen, emotionalen Tiefe und Vielfalt, welche die drei Stücke des Abends widerspiegeln.

Vorausblick: Elisa Badenes, Martí Paixà und Friedemann Vogel in „Spuren“ von John Cranko beim Stuttgarter Ballett. Foto: Roman Novitzky
Tamas Detrich weiter: Auch wenn mit „Spuren“ am Ende des Ballettabends ein sehr nachdenkliches Stück steht, hoffe ich, dass der Abend das Publikum hoffnungsvoll stimmt. Denn schließlich steht das Stück genau dafür: einerseits für den Blick zurück, zu den unüberwindlichen Schrecken der Erinnerung, und andererseits für den Blick vorwärts, in ein neues und besseres Leben.
Ballett-Journal: Vielen Dank für das Interview.
Gisela Sonnenburg
P.S. Entgegen der getrübten Erinnerung mancher älterer Damen, so etwa Marcia Haydée, hatte „Spuren“ auch bei der Uraufführung 1973 Erfolg und wurde als eindringlich und wahrhaftig empfunden. Ausgebuht wurde hingegen das Stück „Green“, das auch von John Cranko stammt und am selben Abend wie „Spuren“ uraufgeführt wurde. Nachzulesen ist das im zuverlässigen Zeitzeugenreport von John Percival („John Cranko – Biographie“, S. 262). Marcia Haydée hingegen sollte ihre Falscherinnerung in diesem Punkt endlich einsehen.

Friedemann Vogel und Martí Paixà proben für die „Lieder eines fahrenden Gesellen“ beim Stuttgarter Ballett. Foto: Roman Novitzky