Urkraft und Antrieb John Neumeier studiert beim Semperoper Ballett in Dresden sein Megaballett „Nijinsky“ ein

"Nijinsky" von John Neumeier beim Semperoper Ballett in Dresden

Die Füße von Joseph Gray während einer „Nijinsky“-Probe mit John Neumeier. Foto: Serghei Gherciu (Ausschnitt)

25 Jahre ist es her. Das Megaballett „Nijinsky“ von John Neumeier, von mir schon als „Ballett der Ballette“ bezeichnet, feierte vor einem Vierteljahrhundert seine Uraufführung in Hamburg. Seitdem erlebte es umjubelte Aufführungen in bisher 20 weiteren internationalen Städten, es ist eine DVD damit im Handel, und das Australian Ballet und das National Ballet of  Canada haben das Stück im Repertoire. Es ist, da es Tanzhistorie und Psychologie genial vereint, ein Höhepunkt der Tanzgeschichte – und gewissermaßen das intimste Ballett, das John Neumeier je schuf. Denn die Titelfigur Vaslaw Nijinsky ist in seiner eigenen Erlebniswelt seit seiner Kindheit die wichtigste Quelle der Inspiration. Nijinsky ist so etwas wie Neumeiers imaginierte Muse. Als Vorpubertierender fand der Choreograf ein Buch über Nijinsky in der Stadtbücherei in Milwaukee. Seitdem gilt: Nijinsky ist für ihn der Inbegriff eines Tanzkünstlers, zugleich seine wichtigste Identifikationsfigur. Sogar sein Mutmacher. Und das in höchst lebendiger Erinnerung. Wie sich das äußert? John Neumeier: „Jedes Mal, wenn ich zum ersten Mal vor einer neuen Company stehe und mit fremden Tänzern zu arbeiten beginne… denke ich an Nijinsky.“ So just auch beim Semperoper Ballett in Dresden, wo Neumeier gerade in einer vierfachen Besetzung sein Meisterwerk „Nijinsky“ einstudiert.

"Nijinsky" von John Neumeier beim Semperoper Ballett in Dresden

Eine komplizierte Beziehung in Tanz umgesetzt: Svetlana Gileva (Romola) auf James Kirby Rogers (Nijinsky) beim Semperoper Ballett. Foto: Admill Kuyler

Sein Gesicht ist mal angespannt, mal locker und wie befreit lächelnd. Sein Körper ist nicht mehr jung, aber immer noch elastisch und biegsam. Dass ein ehemaliger Tänzer im Alter von fast 86 Jahren die Bewegungen, die er choreografiert, selbst vortanzt, ist ein absolutes Phänomen. Dass er nach genauem Hinsehen auch noch jede Kopfhaltung und jede Pose eigenhändig korrigiert, und das bei gleich vier Besetzungen, mit denen er probt, ist für diesen versierten Meisterchoreografen jedoch eine Selbstverständlichkeit. John Neumeier macht vor, was möglich ist. Das scheint seine Lebensdevise zu sein.

"Nijinsky" von John Neumeier beim Semperoper Ballett in Dresden

Joseph Gray als Nijinsky, der als Faun auftritt: mit perfekten Linien probend beim Semperoper Ballett. Foto: Serghei Gherciu

Sein Ballett „Nijinsky“ zeigt in einem dramatischen Bilderbogen den letzten öffentlichen Auftritt von Vaslaw Nijinsky: im Hotel Suvretta House in St.  Moritz. Doch dann driften wir mit Nijinsky in die Vergangenheit, sehen Szenen seines Lebens, vermischt mit Ängsten, Hoffnungen, Visionen, Alpträumen.

Der Impresario der Ballets Russes, Serge Diaghilev, machte aus einem schüchternen Jungen einen Weltstar des Balletts. Um den Preis der auch körperlichen Liebe. Doch als die Tochter eines ungarischen Regierungsbeamten und Museumsdirektors sich Nijinsky angelt und ihn zur Hochzeit verführt – um auch bald schwanger zu werden – schmeißt der mächtige Diaghilev seinen Star auf die Straße.

Sensibel und bereits durch die destruktive Kraft des Ersten Weltkriegs  destabilisiert, erkrankt Nijinsky seelisch. Ob er schizophren war – wie die damalige Diagnose lautete – oder eher depressiv oder noch anders gestört, ist heute schwer zu sagen. Aber seine Psyche war aus dem Takt geraten, so stark, dass ein normales Leben für ihn kaum mehr möglich schien.

Seine Frau Romola, die sich in ihn verliebt hatte, als sie ihn auf der Bühne tanzen sah und die ihn dann zielgerichtet vereinnahmte, hielt zu ihm. Dreißig Jahre verbrachten die beiden mit Nijinskys Erkrankung, die ihn nicht immer, aber die meiste Zeit seines Lebens in Sanatorien und Psychiatrien leben ließ.

"Nijinsky" von John Neumeier beim Semperoper Ballett in Dresden

Jón Vallejo probt für „Nijinsky“ von John Neumeier. Foto vom Semperoper Ballett: Serghei Gherciu

In John Neumeiers Ballett symbolisiert ein groß angelegter Pas de deux ihre Beziehung: Während Nijinsky auf einem Schlitten sitzt, wird dieser von Romola gezogen. Es ist einer der ergreifendsten Paartänze, die je kreiert wurden.

Am Ende ergibt sich Nijinsky, zurück von all den Ausflügen in seine eigene Gedankenwelt, im Suvretta House noch während seines Auftritts seinem seelischen Schmerz. Lange Tuchbahnen stehen für die geistigen Fesseln, die sein Dasein fortan auf ein Leben in Unfreiheit reduzieren.

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Der Wahn als Ende eines absolut kreativen Künstlerlebens… allzu oft wird diese Geschichte als oberflächliches Klischee kolportiert. Doch hier hat sie ihre Verankerung in der Historie, und wenn ein Neumeier sie inszeniert und choreografiert – und dazu noch das Licht, die Kostüme und die nicht unwesentliche Kulisse ersinnt – hat sie Fleisch und Esprit.

Es ist sicher kein Zufall, dass gerade die Gestalt Nijinskys Neumeier hier all seine Kräfte so stark bündeln ließ. Dabei ist es nicht das einzige Ballett, dass der Deutsch-Amerikaner über sein Idol – oder seine liebste Fantasiefolie – schuf. Doch die anderen Stücke wie „Vaslaw“ (1979) und „Le Pavillon d’Armide“ (2009) sind nicht abendfüllend und auch nicht so deutlich von Szenen geprägt, die teilweise einem Handlungsballett nahe kommen.

Was fasziniert ihn so an seinem Vorgänger (denn auch John Neumeier war erst Tänzer, dann Choreograf)? Für Neumeier ist es ganz klar außer der tänzerischen Virtuosität und Wandelbarkeit „seine Uneitelkeit als Choreograf“.

"Nijinsky" von John Neumeier beim Semperoper Ballett in Dresden

John Neumeier bei der Probe zu „Nijinsky“ in Dresden. Foto: Serghei Gherciu

Neumeier teilt mit Nijinsky, von Kollege zu Kollege, von Künstler zu Künstler, vom weitläufigen Nachfolger zum Wahlverwandten zudem all die Ängste und auch die Überwindungen, die es kostet, in einen Ballettsaal zu gehen, um eine neue Arbeit zu beginnen.

Tatsächlich: John Neumeier (der es gesellschaftlich und auch im Schöpferischen viel weiter brachte als Nijinsky) bewundert Vaslaw Nijinsky dafür, dass er ohne zu zögern neue Stile erfand, neue künstlerische Ideen hervorbrachte und strikt an seine geschöpfte Kunst glaubte.

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Svetlana Gileva als Romola zieht „Nijinsky“ James Kirby Rogers mühsam voran – ein Symbolbild einer Beziehung. Foto vom Semperoper Ballett: Admill Kuyler

Neumeier hingegen sagt über den ersten Moment des Arbeitens mit einem Ensemble im Studio: „Man hat Hemmungen und denkt: Ist das genug, was ich mache? Wird die Atmosphäre geschaffen werden, in der ich meine Vision realisieren kann?“

Diese Atmosphäre sei für ihn ganz wichtig. „Und ich frage mich: Wie weit kann ich gehen?“

Nijinsky habe schließlich auch sehr unpopuläre Dinge gemacht. Das stimmt.

Die drei Ballette, die Vaslaw Nijinsky choreografierte, bilden jedes auf seine Weise einen Meilenstein in der Ballettgeschichte. Erotik und exzessive Stimmungen spielen darin eine große Rolle.

"Nijinsky" von John Neumeier beim Semperoper Ballett in Dresden

Das Ensemble vom Semperoper Ballett probt den Krieg zu tanzen – für „Nijinsky“ von John Neumeier. Foto: Serghei Gherciu

Die Uraufführung von „Le sacre du printemps“ (dem „Frühlingsopfer“)  zur nervenaufreibenden Musik von Igor Strawinsky war 1913 dann der skandalumwitterte End- und Höhepunkt von Nijinskys kurzer Laufbahn als Schöpfer von Balletten.

In Neumeiers „Nijinsky“ spielt „Le sacre du printemps“ denn auch eine große Rolle. So, wie Vaslaw in der Musik die Gewalttätigkeit und den Krieg gewissermaßen erspürte, kann Neumeier im Nachhinein den Ersten Weltkrieg darin erkennen.

Zu den sich verschiebenden Rhythmen von „Le sacre du printemps“ tanzen in „Nijinsky“ symbolisierte Soldaten, während eine scheinbar nackte Frau die Opferrolle aus Neumeiers Version „Le Sacre“ von 1972/75 tänzerisch zitiert.

Andererseits war Nijinsky kein naiver oder selbstunbewusster Künstler. Schauen wir doch mal, was Vaslaw Nijinsky vor einer Aufführung zu sagen wusste: „Ich weiß, was nötig ist, um das Publikum in Staunen zu versetzen, deshalb bin ich mir meines Erfolgs sicher.“ Das hätte vielleicht auch John Neumeier sagen können.

"Nijinsky" von John Neumeier beim Semperoper Ballett in Dresden

James Kirby Rogers und Richard House proben für „Nijinsky“ tänzerisch die schwierige Liebe unter Männern zu Zeiten der Ballets Russes. Foto: Admill Kuyler

Nijinsky hat aber – in seinem Tagebuch von 1919 – noch etwas gesagt, das Neumeier vielleicht eher nicht sagen würde. Nichtsdestotrotz ist viel Wahres dran: „Kriege kommen vom Kommerz… Der Kommerz ist der Tod der Menschheit. Wenn die Menschen ihre Lebensweise nicht ändern, wird der Kommerz alle ins Verderben stürzen.“

In Zeiten, in denen auch in Deutschland mehr oder weniger unverhohlen zum Dritten Weltkrieg gerüstet wird, woran auch viel Geld verdient wird, sollte man diese Warnung eines genialen Künstlers ernst nehmen.

Zumal auch das Ballett der Semperoper in diesem Jahr ein Jubiläum feiert: Es existiert nunmehr seit 200 Jahren. Ein großer Krieg würde… nein, das will niemand heute wissen, ich ahne es. Aber wird es dann noch Kunst in Deutschland geben?

Und doch krönt noch ein weiteres kommendes Jubiläum den Dresdner „Nijinsky“: Der sowjetische Komponist Dmitri Schostakowitsch, dessen Musik weite Teile von „Nijinsky“ begleitet, verstarb am 9. August 25 vor 50 Jahren.

Die Sächsische Staatskapelle spielt übrigens unter der hervorragenden Leitung des Neumeier-Kenners Simon Hewett auf, der bis vor wenigen Jahren auch Erster Ballettdirigent vom Hamburg Ballett war. Die anspruchsvolle Partitur wird den Genuss und die Erschütterung, die man durch dieses Ballett erfährt, nochmals verstärken.

Hinzu kommt, dass optisch viele bekannte, auch bedeutende Ballette, die Nijinsky und seine Zeit geprägt haben, bruchstückhaft zitiert werden.

"Nijinsky" von John Neumeier beim Semperoper Ballett in Dresden

Svetlana Gileva, James Kirby Rogers und Francisco Sebastiao proben für John Neumeiers „Nijinsky“. Foto vom Semperoper Ballett: Serghei Gherciu

So wie „Scheherazade“, das Stück, in dem Nijinsky den „Goldenen Sklaven“ darstellte – und in dem, allerdings viel später, John Neumeier erstmals mit Profi-Tänzern auf einer Bühne stand. Eine andere Paraderolle Nijinskys taucht ebenfalls modifiziert auf: „Le Spectre de la Rose“, der „Geist der Rose“. Und natürlich sieht man auch den Faun aus „L’après-midi d’un faune“.

Und auch der traurige „Petruschka“ tanzt und torkelt, zappelt und stürzt zusammen mit den Soldaten im Stück zu Boden. Tamara Karsavina, die häufig Nijinskys Tanzpartner war, taucht im Kostüm und mit dem lyrischen Duktus von „Les Sylphides“ auf.

Vaslaws Familie ist auch da. Seine Eltern, seine Schwester Bronislava Nijinska (die auch choreografierte) sowie sein geisteskrank gewordener Bruder Stanislaw (der bei Neumeier ein furios-eindringliches Solo für seinen Wahn hat). Und auch Nijinskys Nachfolger bei Diaghilev und den Ballets Russes tanzt an: Leonid Massine.

"Nijinsky" von John Neumeier beim Semperoper Ballett in Dresden

James Kirby Rogers als „Nijinsky“ bei seinem letzten Auftritt im Suvretta House. Foto vom Semperoper Ballett: Admill Kuyler

Und jetzt setzt hoffentlich auch bei Ihnen jene Wissensdurstspirale ein, die John Neumeier in Bezug auf Nijinsky schon vor vielen Jahren erfasst hat: „Mein Bild von Nijinsky bekam immer mehr Facetten. Je mehr ich wusste, umso mehr wuchs mein Interesse.“ Nijinsky wurde zur Urkraft und zum Antrieb für Neumeier, immer weiter zu forschen und kreativ zu arbeiten. Die inzwischen legendäre Sammlung Neumeiers aus  Kunstexponaten, Dokumenten und Büchern, in der Vaslaw Nijinsky eine zentrale Position einnimmt, ist dann allerdings schon ein weiteres Kapitel der Saga Neumeier.
Gisela Sonnenburg

Die Dresdner Premiere von Nijinsky“ findet am 24.01.25 statt.

www.semperoper.de

Die Zitate von Neumeier und Nijinsky stammen aus dem derzeit nicht mehr erhältlichen Programmheft vom Hamburg Ballett zu „Nijinsky“.

"Nijinsky" von John Neumeier beim Semperoper Ballett in Dresden

Stanisław Wegrzyn als „Nijinsky“ beim Semperoper Ballett. Foto: Serghei Gherciu

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