Sturmgeläut im Krieg Ein Mahnmal gegen den Krieg: „Nijinsky“ von John Neumeier mit Schostakowitschs 11. Sinfonie beim Dresdner Semperoper Ballett

"Nijinsky" von John Neumeier beim Semperoper Ballett

Mann, Frau, Schmerz und Liebe: Joseph Gray als „Nijinsky“ von John Neumeier beißt sich ebenso wie Neumeiers Alter ego in seinem jüngsten Werk „Epilog“ in die eigene Faust. Bianca Teixeira als Romola bewahrt ihren Mann Nijinsky übrigens vor dem Schlimmsten. Foto vom Dresdner Semperoper Ballett: Admill Kuyler

Eine Frau zieht einen Schlitten. Darauf sitzt, in sich zurückgezogen und fast leblos, ihr Mann: Vaslav Nijinsky, der psychisch schwer erkrankte Weltstar des Balletts, der einst als Tänzer und Choreograf Furore machte. Dazu zirpt, ploppt, dröhnt die 11. Sinfonie von Dmitri Schostakowitsch. Die Beziehung des Paares beginnt zu atmen, mit innigen akrobatischen Umarmungen. Doch es bleibt schwierig: Der Mann zappelt, die Frau barmt. Der emotionale Winter, der die beiden in Sommerkleidung erwischt hat, wird wohl niemals enden. Gänsehauttreibend. So ist es, wenn das Dresdner Semperoper Ballett das Megaballett „Nijinsky“ von John Neumeier tanzt.

"Nijinsky" von John Neumeier beim Semperoper Ballett

„Nijinsky“ tanzt durch Dresdens Stadtbild, etwa an der Litfaßsäule. Foto: Gisela Sonnenburg

Vor 25 Jahren fand in Hamburg die Uraufführung dieses zweieinhalb Stunden langen Stücks statt, bei dem zeitweise rund 50 Personen wild tanzend auf der Bühne sind. Es ist frisch und ergreifend wie am ersten Abend. Dabei wird – höchst untypisch für Ballett – gekreischt und geschrien, marschiert und gestampft. Im ersten Teil versucht Njinsky zu Musiken von Robert Schumann und Nikolaj Rimskij-Korsakow, seinen Erinnerungen und Visionen zu entfliehen. Den Rahmen dessen bildet sein letzter Auftritt 1919, vor geladenen Gästen in einem Luxushotel in den Schweizer Bergen. Im zweiten Teil besiedeln Soldaten ohne Waffen die Bühne, kämpfen um ihr Leben.

"Nijinsky" von John Neumeier beim Semperoper Ballett

Joseph Gray in der ersen Szene des Geniestreichs „Nijinsky“ von John Neumeier. Man schreibt das Jahr 1919, Nijinsky tanzt noch einmal: im Luxushotel „Suvretta House“ in der Schweiz… Foto vom Semperoper Ballett: Admill Kuyler

Es ist der Erste Weltkrieg, der das Leben der Titelfigur zerstörte, zusätzlich zur beruflichen und privaten Krise. Nijinsky war ein Star der Ballets Russes in Paris. Und er hatte ein Verhältnis mit deren Chef und Impresario Serge Diaghilev. Nach der „unerlaubten“ Eheschließung 1913 warf der eifersüchtige Diaghilev ihn jedoch raus – für Nijinsky wurde das zum Anfang vom Ende. Hypersensibel litt er zudem unter den politischen Geschehnissen jener Zeit.

"Nijinsky" von John Neumeier beim Semperoper Ballett

Moisés Carrada Palmeros tanzt den „Goldenen Sklaven“ zur Musik von „Scheherazade“ von Rimsky-Korsakow (die sich übrigens im ersten Teil des Stück wiederholt). Foto vom Semperoper Ballett: Admill Kuyler

Die Angst und Hysterie, die Sinnlosigkeit und Brutalität von Krieg ist indes nicht auf den Ersten Weltkrieg begrenzt. Und der Krieg ist hier nicht nur ästhetisch, sondern auch erschütternd auf die Bühne gebracht. Scharen von Männern in nicht zugeknöpften Militärjacken über Shorts wirken wie versprengte Truppen, die schlicht dem Tod entkommen wollen. Das komplizierte Liebespaar bildet die private Folie aus Nijinskys Leben dazu, ergänzt von den Geschwistern und der Mutter.

"Nijinsky" von John Neumeier beim Semperoper Ballett

Wahnsinn liegt in der Luft… der ältere Bruder von Vaslav Nijinsky verfällt früh der geistigen Umnachtung. Vincenzo Mola tanzt sein Irrewerden. Foto vom Semperoper Ballett: Admill Kuyler

All das wurde in vier Besetzungen einstudiert. Bei der Premiere in der Semperoper tanzten James Kirby Rogers und Svetlana Gileva das starke Künstlerpaar Vaslav und Romola. Aber auch Joseph Gray und Bianca Teixeira reißen mit, brillieren mit Gefühlsintensität und Präzision in den Bewegungen.

"Nijinsky" von John Neumeier beim Semperoper Ballett

Svetlana Gileva hier als Mutter von Nijinsky mit Joseph Gray in der Titelrolle, rechts Jenny Laudadio als Bronislava Nijinska. Foto vom Semperoper Ballett: Admill Kuyler

Überraschenderweise hat John Neumeier für diese Einstudierung, die er „Rekreation“ nennt, fast nichts geändert. Und das ist gut so. Die Choreografien der einzelnen Figuren wie der Corps-de-ballet-Gruppen sitzen bis ins i-Tüpfelchen. Und die prachtvolle Ausstattung entspricht ebenfalls der Hamburger Version: Die Werkstätten der Semperoper leisteten ebenso wie die Künstler auf der Bühne ganze Arbeit.

"Nijinsky" von John Neumeier beim Semperoper Ballett

Eine ikonische Szene: Der große Schlitten-Pas-de-deux, der die Beziehung zwischen Romola und Vaslav Nijinsky zeigt. Flankiert ist er von Soli: Zunächst von Romolas, später von Vaslaws. Hier tanzen James Kirby Rogers die Titelrolle „Nijinsky“ und Svetlana Gileva seine Gattin. Foto vom Semperoper Ballett: Admill Kuyler

Die hohe Qualität der Aufführung setzt sich im Orchestergraben fort. Schon für das akustische Ereignis, Schostakowitsch derart nuanciert und doch dramatisch ausgespielt zu hören, lohnt sich der Besuch.

Simon Hewett, ehemaliger Erster Ballettdirigent in Hamburg, dirigiert die hervorragende Sächsische Staatskapelle: glasklar, flüssig, auf den Punkt genau, mit stringenten Steigerungen. Manchmal geht er mit der Lautstärke bis an die Schmerzgrenze, und das ist Absicht.

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Pauken und Glocken bilden das ungewöhnliche Gespann, das hier alarmieren soll. Schostakowitsch schrieb bis 1957 an der Sinfonie, aber sie trägt den Titel „Das Jahr 1905“. Gemeint ist der Petersburger Blutsonntag, an dem die Zarenwache demonstrierende Arbeiter niedermetzelte. Arbeiter- und auch Volkslieder bilden motivisch die Grundlagen des Klangkunstwerks.

Die Unterdrückung des nicht mal begonnenen Aufstands entspricht der Unterdrückung durch den Krieg. In John Neumeiers Interpretation ruft das Sturmgeläut auch zur Zukunft. Wenn der Choreograf, der auch für die hoch elegante, immer sinnvolle Ausstattung zeichnet, Tänzerinnen und Tänzer wie wilde Horden toben, dazu irre kreischen und schier aus der Haut fahren lässt, dann ist das ein Mahnmal gegen den Krieg. Im von Dramaturgin Anna Breke gut gemachten Programmheft zitiert Neumeier denn auch „das Gefühl des Grauens im Ersten Weltkrieg“ als sehr gegenwärtig.

"Nijinsky" von John Neumeier beim Semperoper Ballett

Applaus für das Semperoper Ballett nach „Nijinsky“ am 2.2.25! Foto: Gisela Sonnenburg

Konterkariert werden die erschreckenden Passagen von den Idealen der schöngeistigen Kunst. So begeistert Ayaha Tsunaki als durchs Stück geisternde Ballerina Tamara Karsavina, die oftmals die Bühnenpartnerin von Nijinsky war. Weitere Tänzer verkörpern die wichtigsten Rollen des damaligen Superstars, etwa Francisco Sebastião als „Spectre de la rose“ und Moisés Carrada Palmeros als „Goldener Sklave“. Jenny Laudadio stakst zudem so haltgebend wie modernistisch auf Spitzenschuhen durchs Stück: als Schwester Nijinskys, Bronislava mit Vornamen, die selbst eine berühmte Choreografin wurde.

Eine männliche Figur aus dem Kanon der Ballette, die im Stück zitiert werden, berührt im Kontext besonders: „Petruschka“, von Filippo Mambelli verkörpert, ist eine altrussische Kasperlefigur, die im nach ihm benannten Ballett von Igor Strawinsky zum Sinnbild des tragisch-vorwitzigen Verlierers wird. Bei Neumeier tanzt Petruschka mit halb lachendem, halb weinendem Gesicht: im Krieg, der alle gnadenlos vereinnahmt.
Gisela Sonnenburg

"Nijinsky" von John Neumeier beim Semperoper Ballett

Detailblick im Foyer der Semperoper in Dresden, die nach ihrem Architekten benannt ist. Foto: Gisela Sonnenburg

ballett journal