Was ist er doch für ein fabelhafter Entertainer! Niemand bringt einen so intelligent und doch sinnlich zum Lachen und zum Weinen wie er. John Neumeier, scheidender Ballettintendant vom Hamburg Ballett, ist nicht nur der bedeutendste Choreograf der Gegenwart und für viele sowieso der wichtigste Künstler aller Zeiten – und das schon seit Jahrzehnten – sondern auch ein versierter Moderator seiner Mission. Seine 85 Lebensjahre merkt man ihm nicht an, höchstens im Knowhow, das er in sich versammelt. Und wenn er mit dem Mikro in der Hand auf der Bühne steht, locker, aber in aufrechter Haltung, und zum Publikum mit einem fast stürmischen Engagement spricht, als gehe es um den letzten Sinn der Dinge, wobei er selten laut wird, so mag man kaum glauben, dass diese 241. Ballett-Werkstatt seine letzte sein soll. Als „Poesie der Bewegung“ ist sie übertitelt. Es ist eine magische Poesie, die von seinen Stücken ausgeht, und diese Poesie findet man tatsächlich in jedem seiner Werke, ob kurz oder lang, ob Solo, Pas de deux oder Massenszene. Wirklich daneben geht da nie etwas, wohl auch deshalb, weil er selbst mit sich streng ist und alles solange bearbeitet, bis es ihm selbst gefällt. Aber John Neumeier wäre nicht John Neumeier, wenn er sich für diese letzte Hamburger Neumeier-Werkstatt am gestrigen Sonntag nicht auch etwas Besonderes ausgedacht hätte.
Die bewährte Mischung seines Prinzips einer Tanzpredigt – aus persönlichen Erinnerungen und historischen Fakten, aus subjektiven und objektiven Details aus der Ballettgeschichte, aus amüsanten wie nachdenklich stimmenden Anekdoten – spannte den Bogen von seiner ersten Hamburger Ballett-Werkstatt am 9. September 1973 bis zur mit großer Spannung erwarteten, kommenden Uraufführung „Epilog“ am 30. Juni 2024.
51 Jahre international bedeutsame Ballettgeschichte liegen dazwischen: eine legendäre Ära, die weder ein Vorbild kennt noch je wiederholt werden wird.
Im dunklen Trainingsanzug mit hellblauen Einlagen und hellem Shirt kommt John Neumeier so selbstverständlich auf seine Bühne der Hamburgischen Staatsoper, als wechsele er gerade aus einer Probe heraus ins voll besetzte Opernhaus. Notizen, um sie abzulesen oder sich daran festzuhalten, braucht er schon lange nicht mehr. Der erfolgreichste lebende Choreograf spricht frei. Und erinnert sich auch ohne Teleprompter.
„Ich freue mich, dass ich hier bin und gerade hier“ – so hatte er sich 1973 erstmals live seinem Publikum präsentiert, erzählt er. Der Satz ging aber weiter: „… um Ihnen mein Ensemble vorzustellen.“ Allerdings hatte er damals bereits eine Problematik hinter sich, die wohl die ärgste in seiner Laufbahn in Hamburg war. Denn im Vorfeld hatte der von Intendant August Everding berufene Neumeier etwas getan, das heute als ganz normal gilt bei Amtsantritt eines Ballettdirektors: Er hatte etliche Tänzerverträge nicht verlängert. Das empfand das hanseatische Selbstverständnis aber als Attacke. Die Lokalpresse in Hamburg besorgte dafür Schlagzeilen mit Skandalnimbus.
Er habe, so berichtet Neumeier, bei so viel Feindlichkeit im Vorfeld tatsächlich überlegt, den Wechsel nach Hamburg abzusagen und Ballettdirektor in Frankfurt am Main zu bleiben.
Der Komponist Hans Werner Henze, mit dem er befreundet war, riet ihm sogar, vielleicht auch im Eigeninteresse: „Geh da doch nicht hin! Bleib in Frankfurt, da kommen doch alle zu dir.“
Zum Glück hörte Neumeier nicht darauf, sondern stürzte sich, wie vertraglich abgemacht, ins Hamburger Abenteuer. Mit diesem Vorspiel als Hintergrund war sein erstes Auftreten in Hamburg jedoch etwas bitter grundiert.
Die Idee zu den Ballett-Werkstätten hatte derweil sein Intendant August Everding. „Damals hat man mit dem Intendanten noch gesprochen“, sagt Neumeier und legt damit den Finger in die Wunde der gegenwärtigen Theaterbetriebe: Häufig wird intern viel zu wenig kommuniziert, Entscheidungen werden hierarchisch getroffen, die Befehlsebenen funktionieren paramilitärisch statt demokratisch – und Innovationen, die von unten kommen, werden im Keim erstickt. Es sei denn, sie sind ohnehin von oben als vermeintlicher Trend initiiert worden. Aber war man vor 50 Jahren hier zu Lande nicht viel offener für Neues in der Kunst in den großen öffentlichen Einrichtungen?
Die Oper hat sich nach Beobachtung Neumeiers vom Ballett abgekapselt. Er selbst war seit 1996 Ballettintendant, hat seinen Vertrag also mit der Stadt Hamburg und nicht mehr mit dem Intendanten des Opernhauses. Aber in vielen Städten sind die Ballettdirektoren abhängig von den Opernchefs, nicht direkt von der Politik. Was mehr Freiheiten allgemein und Schutz der Freiheit der Kunst insbesondere bietet, mag je nach Einzelfall unterschiedlich sein. Fakt ist: Das Gerangel um Macht hat nicht gerade abgenommen.
Vor 50 Jahren beherrschten noch Arbeitsteilung und Repräsentanz die theatrale Praxis. So trat August Everding mal vor den Vorhang und entschuldigte, dass eine andere Besetzung als angesagt im Ballettprogramm tanzen werde.
Sieben Werkstätte gab es in der ersten Spielzeit; in der jetzigen, Neumeiers letzter, sind es immerhin auch noch vier. Und jede einzelne erforderte eine aufwändige Vorbereitung, eine spontane Bestform sowie die Einbindung in ein Konzept. So geraten „Workshops“, wie sie auf Amerikanisch heißen, wohl.
Bei seiner ersten Werkstatt 1973 jedoch war Neumeier nervös. Sah er sich doch vor ein Publikum gestellt, „das mich hasst“, davon war er überzeugt.
Doch Fleiß und Charme und auch Ehrlichkeit siegten. Legendär ist die Anekdote, dass Neumeier während seiner ersten Werkstatt den Faden verlor und vor Aufregung einen Blackout hatte. Er gab das zu, entschuldigte sich dafür, drehte sich um, zum Pianisten, der dort am Flügel auf Instruktionen wartete. Aber Neumeier sah erstmal in seinen Aufzeichnungen nach – und als er sich wieder zum Publikum drehte, brandete Mut machender Applaus auf.
Von da an, so Neumeier, wurde es eigentlich immer nur besser. Und das, obwohl auch ein Neumeier noch so manches erst lernen musste.
„Klassische Technik in der modernen Choreografie“ – so hölzern klang der Titel seiner ersten Werkstatt. Das Repertoire zeigte damals zwei Stücke von George Balanchine, eines von John Cranko („Jeux de Cartes“) und, als erstes Werk des neuen Ballettdirektors, „Désir“ von John Neumeier. Dieser Pas de deux zu Klaviermusik des subtil-synästhetisch vorgehenden Russen Alexander Skrjabin. Geradezu „besessen“ sei er damals von Skrjabins Musik gewesen, meint Neumeier im Rückblick. „Désir“ („Wunsch“) wird denn auch der Abschluss der letzten Ballett-Werkstatt sein.
Als Anfänger in der Alsterstadt war John Neumeier für sein heutiges Empfinden nachgerade provokant. „Ich sagte Sätze wie: ‚Ich glaube, dass Kunst auch ein Konsumprodukt ist‘ und ‚Wenn etwa nicht gut ist, wird es nicht konsumiert.‘“ Da würde er heute wohl stärker differenzieren.
Sein Restaurant-Beispiel dürfte hingegen schon Lehrstoff sein: Wenn einem Koch im Restaurant das Steak – auch das vegane Steak, wie Neumeier lächelnd ergänzt – nicht gelingt, nützt es dem hungrigen Gast nichts, wenn der Koch ihn in die Küche holt und ihm zeigt, was er gemacht hat, was er machen wollte und warum das Steak so wurde, wie es ist.
Kunst muss schmecken und verständlich sein. Nur darum ist zusätzlich die Ballett-Werkstatt interessant, nicht als didaktischer Ersatz für etwas, das der Tanz an sich nicht leisten kann. Dass die Kunst aber nicht plump, platt und eingängig wie Kindertheater sein soll, versteht sich bei John Neumeier von selbst.
Kernpunkt sei der Mensch, also der erwachsene Mensch. „Der Mensch steht im Ballett im Mittelpunkt“, so Neumeier. Dadurch, dass der ganze Körper zum Instrument wird, kann davon ja auch gar nicht abgesehen werden. Dennoch sollte – so meine bescheidene Meinung – auch inhaltlich das Menschliche die Botschaft sein, und eben nicht der Technikwahn, der manche Opernhäuser heutzutage erfasst wie eine mentale Erkrankung.
Jetzt kommt die Praxis ins Spiel. Lloyd Riggins, der das Training vorab für die Tänzer zum Warmwerden leitete, wird auf die Bühne gerufen und darf im Hintergrund, während Neumeier weiter spricht, weiter das Training leiten. Er beginnt mit einem Adagio (Neumeier sagt wie immer „Adage“, seine eigene, eigenwillige, multinational klingende Wortkreation, die er sympathischerweise in all den Jahren seiner Karriere beibehalten hat).
Und Neumeier doziert: „Modern bedeutet nicht, dass alles neu sein muss.“ Sondern: „Es geht um die moderne Auffassung von dem, was man machen kann.“
Pirouetten und Balancen werden im Hintergrund geübt. JN: „Damit ein Choreograf dann etwas ganz Verrücktes von den Tänzern verlangen kann, müssen sie diese Übungen machen“.
Ob „Rechtsdreher“, wie die meisten Menschen, oder ein seltener „Linksdreher“ – Ballett bedeutet auch: Kontrolle über den Körper.
Und: „Man kann nicht alles erklären.“ Man kann es nur versuchen.
Vor 51 Jahren kosteten die Tickets zu den Werkstätten übrigens zwischen 1,10 DM (ermäßigt), normal 1,50 DM, und 10 DM auf den besten Plätzen im großen Haus. In den ersten Jahren wurden diese Veranstaltungen zwar bei den eingefleischten Fans rasch Kult, aber ausverkauft – wie später meistens – waren sie darum noch lange nicht. Kunst hat mit Quote eben nichts zu tun, und damals wusste man das, auch die Intendanten und Politiker wussten das.
Zeit für etwas mehr Historie: Im 16. Jahrhundert war Ballett eine Art Gesellschaftstanz. Die Bühne war dort, wo im Festsaal getanzt wurde – und die anderen Festgäste schauten zu. Eine Handlung oder ähnliche Inhalte wurden noch nicht vermittelt. „Tanz wurde angesehen wie so etwas wie Blumenarrangements“, sagt Neumeier. Der Ausdruck von Lieblichkeit und Schönheit war entscheidend, nicht die dramatische Emotion.
In der Renaissance war tatsächlich alles Künstlerische noch nah am Dekor, und die Inhalte, die transportiert wurden, steckten verdeckt darin. Man kann das auch sehr schön an den bildnerischen Werken der italienischen Renaissance studieren.
Es folgte die Mode, mit Masken zu tanzen. Die Masken standen für Charaktere, für Stilisierung, für Ausdruck. Sie waren das erste Kostüm.
Der Tanzerneuerer Jean-Georges Noverre, auch als Buchautor tätig, kam dann ohne Masken aus. „Ballet d’action“, „Ballett der Handlung“, war das neue Schlagwort. Der Tanz war mittlerweile auf die Bühne gewandert. Pantomime und Handlung waren da aber noch strikt getrennt.
Miteinander verflochten werden Gestus und Tanz hingegen im 19. Jahrhundert, so im Höhepunkt der Ballettentwicklung namens „Schwanensee“ in der Choreografie von Marius Petipa und Lew Iwanow von 1895.
Anna Laudere und Edvin Revazov zelebrieren, nach 11.30 Uhr ist es jetzt, den ersten Tanz an diesem Vormittag. Eine halbe Stunde dauerte die Ein- und Hinleitung, und sie hat sich gelohnt.
Aber wer außer JN traut sich das noch? Wer außer John Neumeier ist heute noch bereit, auf Häppchen-Philosophie zu Gunsten satter Inhalte zu verzichten? Er wird sehr fehlen in Hamburg, und das schwingt doch immer mit, wenn man sein Wirken betrachtet.
Die überragenden Fähigkeiten seines Ensembles werden hingegen hoffentlich bleiben. Obwohl bekannt ist, dass die Motivation im Ballett besonders wichtig ist und jeder Ballettchef so etwas wie ein wandelnder Leuchtturm für seine Truppe sein sollte.
Hoch elegant und sichtlich inspiriert bieten Anna Laudere und ihr Ehemann Edvin Revazov den „Schwanensee“-Pas de deux als Paartanz der großen Liebe dar. Ihre Pirouetten in seinen Händen, ihre Posen, die er fabelhaft ergänzt, die Hebungen, die Zuwendungen und schließlich, als Schlusspose, das Penché, der vertikale Spagat, bei dem sie als Odette auf Zehenspitzen steht – all das vermittelt bereits jenes Flair der Klassik, das im Ballett eine Kernkompetenz und unverzichtbar ist.
Von oben hängt übrigens eine Art Lichtblase aus einer leicht spiegelnden Decke, was zusätzlich zu den Scheinwerfern ein indirektes, also schattenarmes Licht auf die Bühne bringt. Überflüssig zu erwähnen, von wem diese Idee stammt, denn John Neumeier hat nicht nur als Choreograf und Librettist, sondern auch als Lichtdesigner und Kostümdesigner einen berechtigt hervorragenden Ruf.
„Ballett ist eine lebendige Kunst“, so JN, „und das auch in Russland.“ Sogar die Sankt Petersburger Tradition von Ballett sei eine andere als in Moskau. Haargenaue Rekonstruktionen von historischen Aufführungen seien nicht möglich, man könne nur versuchen, die Quellen zu studieren.
Und dann sei wesentlich, dass die Kunst benutzt werde, um etwas über Menschen und ihre Beziehungen auszusagen. Wohl war. Wer würde da widersprechen, der oder die die Kunst ehrlich liebt?
Bei der Kreation jedoch spielen die Persönlichkeit, die Fähigkeiten und manchmal auch die Schwächen der jeweiligen Tänzer eine große Rolle. Der Maler hat seine Farben, er kann sie selbst auf der Palette mischen und nach Belieben auftragen. Im Tanz aber hat der Choreograf lebendige Wesen als Material – und genau das ist die besondere Herausforderung aller Performance-Künste
Die Überarbeitung seiner eigenen Werke ist bei John Neumeier in den letzten beiden Jahrzehnten schon fast zur Gewohnheit geworden. Sein „Dornröschen“-Prinz etwa trug bei der Uraufführung 1978 nur in der Rahmenhandlung Jeans und ein weißes Hemd. Seit 2021 behält er sein zeitgenössisches Outfit auch an, wenn er im Traum in die höfische Welt von Prinzessin Aurora eindringt. Etwas schräg mutet es an, wenn er dort den Hochzeitstanz in Jeans und schwarzem Hemd vollführt, während seine Braut und alle anderen Anwesenden in prachtvollen Märchenbrokat gewandet sind. Aber auch die Rahmenhandlung selbst änderte JN, passte sie einer Jugend an, die lieber Bier trinkt und an Blumen riecht, als sich mit der Naturgewalt eines Gewitters auseinander setzen zu müssen.
Das Gros der Choreografie aber blieb. So das Adagio aus dem Grand Pas de deux, welches Madoka Sugai und Alessandro Frola exzellent und mit viel Herzblut zeigen. Neumeier kommentiert, dass es für eine verwöhnte Prinzessin, die als Kind „ziemlich eingebildet“ war, eine unerhörte Geste der Demut ist, dass sie vor ihrem Prinz mit einer Referenz anmutig zu Boden geht.
Seine Aurora ist keine Herrscherin, sondern eine Geliebte, ein luxuriöses, aufwändiges Spielzeug auf hohem Niveau, ein Sexsymbol in Tutu – wunschtraumgemäß, denn das Ganze ist bei Neumeier ein Traum des jungen Mannes, der sich im Wald verläuft.
Dennoch ist „Dornröschen“ gerade in den Pas de deux insofern dominant, als alle Bewegungen auf den weiblichen Part abgestimmt sind und nachgerade der Verherrlichung der Weiblichkeit, auch der Jugendlichkeit, dienen. Bis zur Schlusspose, dem freihändigen „Fisch“, den das Tanzpaar formvollendet und mit sichtlichem Vergnügen ausführt. Bravo!
Noch mehr Jugend gibt es in „Romeo und Julia“ zu sehen. Marianne Kruuse, Neumeiers Ur-Julia, war schon eine ungewöhnliche Besetzung, so erinnert sich der Meister, aber dann entdeckte er auf seiner Ballettschule die damals 15-jährige Azul Ardizzone, eine Argentinierin mit dem Charme und der Anmut von Audrey Hepburn, die sehr zielstrebig ihre Talente auszubauen weiß. Mit hoher Exzellenz tanzt die heute 17-Jährige hingebungsvoll den Teenager Julia: Verliebtheit als erste große Welterfahrung. Mit dem nur wenig älteren Louis Musin fand sie einen passenden, ebenfalls begeisternden Partner, und als Paar auf der Bühne werden uns die beiden hoffentlich noch lange erhalten bleiben.
Es war, sagt Neumeier, „ein Experiment“, das Stück von 1971 – er brachte es aus Frankfurt mit – so blutjung zu besetzen. Anzumerken ist, dass Neumeier seine Handlungsballette bis in die letzten Details durchdenkt und wirklich allen, die darin auftreten, eine besondere Eigenheit verleiht. „Romeo und Julia“ sind darum so viel mehr als nur die Titelfiguren, aber das wird jede und jeder wissen, der Neumeiers Shakespeare-Vertanzung mal gesehen hat.
Und es geht noch einmal um den Tanznachwuchs auf der Bühne. Taissa Pache Pimentel macht gerade ihren Abschluss in der Neumeier-Schule und wird dann in seinem Bundesjugendballett anfangen. Er bleibt übrigens dessen Intendant und wird also von daher nicht alle Chefposten räumen, die er beim Hamburg Ballett inne hat.
John Neumeier lässt die künftige Profi-Ballerina auf der Werkstatt ein Solo aus dem 1972 entstandenen Collage-ähnlichen Stück „Dämmern“ zeigen. Die Musik am Klavier stammt wiederum von Alexander Skrjabin.
Doch die Nervosität ist scheinbar zu groß für die junge Ballerina, und zwei Durchläufe sind mehr oder weniger verwackelt. In der Tat sei das Stück schwierig, wie JN betont, und er diktiert der Tänzerin die Anfangsschritte live, während sie versucht, sich durch die Konzentration auf den Tanz zu sammeln. Die Anweisungen Neumeiers geben ihr Halt. Dann funktioniert’s: Der dritte Durchlauf ist wunderbar, und die große Kraft dieses Tanzes, der mit den erhobenen Fäusten am Kopf als Verzweiflungsgeste beginnt, kann erstrahlen.
Ob das Mädchen wirklich zu nervös war oder ob das Ganze eine gut einstudierte Show war, werden Außenstehende wohl nie erfahren. Faktisch ist gerade dieses Solo und gerade dessen Beginn technisch nicht so schwer, wie Neumeier vorgab: Auch arrivierte Laien können auf einem Bein auf halbe Spitze gehen.
Stefanie Arndt tanzte dieses Solo übrigens einst live im Fernsehen bei Alfred Biolek. Lang ist es her, dass ARD und ZDF so hochkarätiges Ballett zeigten. Heute findet man so etwas mit wenigen Ausnahmen nur noch bei 3sat und arte.
Dieses Frauensolo aus „Dämmern“ leitet unmerklich über zur jüngsten Kreation von Neumeier, zum „Epilog“. Es ist die Stimmung, die hier entscheidend ist.
Um es gleich zu sagen: „Epilog“ verspricht, ein ganz großes Werk zu werden. So wie John Neumeier sich auch mit seiner letzten Ballett-Werkstatt Mühe gab, als sei es seine erste, so durchdacht und kongenial geht er auch an seine letzte Hamburger Schöpfung heran.
Andere würden vielleicht einen Schlendrian schieben, würden sich sagen: Ich habe sowieso Erfolg, egal, wie gut oder nicht gut es ist.
Neumeier aber ackert so gewissenhaft, als gelte es zu beweisen, dass er seinen Weltruhm verdient.
Zusammen mit dem Pianisten David Fray suchte er Piano-Stücke von Franz Schubert, die einerseits die Melancholie, andererseits die Noblesse des frühen 19. Jahrhunderts auf den Punkt bringen.
Kombiniert wird dieser Klassik-Sound mit eingestreuten Songs von Simon & Garfunkel, jenem Folk-Duo, das mit akustischer Gitarre und einschmeichelndem Gesang chansonähnlich über das Leben sinniert. Für den jungen Neumeier war diese Musik, die damals unter Homosexuellen besonders kursierte, so etwas wie ein Trostspender, erzählt er.
Für mich war das übrigens viele Jahre lang der Songsound von Barry White, zu dessen Orchester-Rock ich meine ersten großen Reportagen schrieb und den ich sogar mal im Konzert erleben durfte.
Über sehr gut gespielte Live-Musik geht derweil nichts. Bei der Werkstatt unterstützen Mark Harjes und Ondrej Rudcenko abwechselnd die Tänzer am Klavier.
John Neumeier aber erklärt zunächst mal den Titel des entstehenden Werks, der zunächst nur der Arbeitstitel war. „Epilog“, also „Nachspiel“ – klingt das nicht etwas endgültig? Er hoffe und glaube auch nicht, dass es sein letztes Werk werde, sagt JN, aber seine Schaffenszeit als Chef vom Hamburg Ballett wird damit tatsächlich abgeschlossen sein.
Was wohl nicht ausschließt, dass er als Gastchoreograf wieder mit dem von ihm gegründeten Ensemble zu tun hat, und die künftigen Einstudierungen seiner Stücke aus dem Repertoire wird er ohnehin auch selbst betreuen. Die neuen Neumeier-Kreationen aber werden an anderen Opernhäusern ihre Uraufführung erleben, so die Planung – und womöglich erst als Import nach Hamburg kommen, wenn überhaupt.
Wer die Stilistik und die Menschlichkeit in Neumeiers Stücken liebt, wird dann entweder an andere Stätten pilgern oder mit dem Hamburger Repertoire vorlieb nehmen müssen.
Am liebsten, so Neumeier, hätte er diese seine letzte Hamburger Kreation mit „ohne Titel“ oder gar ganz ohne benannt – aber das, so meint er, hätte Probleme mit sich gebracht. „Was druckt man dann auf die Karten?“ Es hätte zu Verwirrung führen können, in der Tat, wenn da dann nichts gestanden hätte.
Bestimmt greift jetzt jemand aus der Förderszene diese Idee auf und verteilt 90.000 Euro an jemand ohne Talent, der oder die ein namenloses Stück machen soll. Damit auf den Tickets dann steht: „Tanzstück von …“ – und nichts weiter. Denn was für John Neumeier künstlerischer Abfall ist, wird woanders noch als Trend vergoldet.
Franz Schubert hingegen wurde längst nicht so erfolgreich zu Lebzeiten wie JN, und er starb schon im Alter von nur 31 Jahren. Aber er hinterließ Hunderte von romantisch-gefühligen Liedern, etliche interessante Sinfonien und andere Orchesterwerke sowie ein nachhaltiges Klavierwerk. Bereits mit 13 Jahren fertigte er nahezu vollkommene Stücke.
Die „Klaviersonate B-Dur D 960“ entstand jedoch drei Monate vor Schuberts Tod, der wahrscheinlich durch Typhus, in Kombination mit einer bestehenden Lues, hervorgerufen wurde. Ruhe, Wärme, Kontemplation, aber auch Hinterfragung, Skepsis, Zweifel gehen von ihr aus.
Auf der Bühne steht ein Tisch mit weißem Kaffeegeschirr, drei Stühle sind anbei, ein vierter liegt umgeworfen da. Ein wenig Retro-Flair umweht dieses Arrangement, ein wenig atmet hier auch der Stil der DDR-Kantinen.
„Schubert arbeitet mit Wiederholungen, und das habe ich hier übernommen“, erklärt John Neumeier. So sei ein Vokabular, ein tänzerisches Vokabular, entstanden, das typisch für dieses Ballett sei. Man könnte auch Leitmotivik dazu sagen, wobei die Bewegungen hier weniger als Pointe als vielmehr wirklich als Wiederholung einer Ausgangsbasis gemeint sind.
Zu sehen ist der „Fast-Beginn“. Louis Musin, der vorhin den Romeo tanzte, steht frontal zum Publikum – und umarmt eine imaginäre Person vor sich mit rund und stilsicher gehaltenen Armen. Das ist die erste, na, sagen wir mal „Leitbewegung“ hier.
Es geht offenbar um Einsamkeit, ein großes Thema der Moderne. Musin exerziert vorsichtig und dennoch kraftvoll Sprünge und kleinere Bewegungen, die Sehnsucht nach Kontakt und Kommunikation, ja auch nach Liebe bezeugen.
Es handelt sich um ein Verzweiflungssolo, das aber zugleich auch von einer optimistischen Selbstfindung erzählt. Diese Kontraste in einem Stück Tanz zu vereinen, gelingt wohl nur John Neumeier.
Auch ausgestreckte Arme im Profil, die klatschend aufeinander schlagen wie der schnatternde Schnabel eines Vogels, bilden so eine Leitbewegung, die ohne Verluste mehrdeutig ist.
Eine andere ist das Laufen mit vorgestrecktem Brustbein, was dann in ein leichtes Cambré übergeht. Die Arme öffnen sich dabei von oben zur Seite.
Hände werden mit gestreckten Fingern durchgeschüttelt, die Arme bilden, hinterm Kopf verschränkt, eine Art Selbstumarmung des Kopfes.
Auch in einem getanzten Duett zweier Männer sind ihre Einsamkeit und die Versuche, ihr zu entrinnen oder sie erträglicher zu machen, das Thema.
Caspar Sasse, derzeit noch Aspirant beim Hamburg Ballett und aus der Neumeier-Schule kommend, steht auf dem Tisch und tanzt maliziös-vorsichtig, auch er bringt die imaginäre Umarmung.
Musin holt, nein: trägt ihn vom Tisch, und synchron tanzen sie ihre Liebe zum Leben, ganz ernsthaft. Rücken an Rücken geben sie sich Kraft, und in einem Paartanz wie aus einer Folklore sprechen sie sich tänzerisch Mut zu.
Mit Chainés, bei denen die Arme erhoben sind, kreiselt Caspar Sasse nach links ins Off.
Ein anderer Pas de deux zeigt hingegen Ida Praetorius mit Louis Musin, der damit beginnt, dass er ihr Voranschreiten aufhält. Schönste Neoklassik entwickelt sich daraus, wie eine moderne Variante des „Dornröschen“-Hochzeitstanzes.
„Life is all – it’s just one time“, diese lyrische Zeile kam John Neumeier dazu beim Kreieren in den Sinn. „Wie Fragmente eines Lebens“ wirken manchmal aber auch seine eigenen choreografischen Arbeiten auf ihn, sagt er.
Entsprechend kommen nun „Simon & Garfunkel“ ins Spiel. Alessandro Frola, dieses Multitalent, steht jetzt im Mittelpunkt. Die Tonart d-moll vom hingehauchten Song „Sound of Silence“ folgt hiermit auf die B-Dur-Sonate von Schubert.
Frola sitzt auf einem Stuhl, mit dem Rücken zum Publikum und tanzt im Sitzen, während Caspar Sasse vor ihm steht, das Publikum anschaut.
Am Ende dieser Sentenz steht Sasse auf dem Stuhl, eine Hand auf dem Mund haltend, ganz so, als verbiete er sich, etwas zu sagen, das er weiß.
Noch später trägt er den Stuhl, hoch über seinem Kopf gehalten, stolz davon, wie eine Krone. Das Trostpflaster wirkte offensichtlich.
Zurück zu Schubert. Sieben Paare tanzen jetzt den dritten Satz aus der B-Dur-Sonate, und es beginnt flippig, zappelig, arm- und kopfwerfend. Manche tanzen rückwärts, repetieren immer wieder dieselbe rhythmische Schritt-Kombination.
Mal sind es sieben, dann wieder sechs verschiedene Choreografien, die zeitgleich abgespult werden; die Parallelwelten der Individuen werden dadurch sichtbar.
Eine der sie verbindenden Bewegungen könnte dabei aus der tibetischen Hormongymnastik kommen: Die Individuen reiben ihre Handflächen aneinander, um Kraft und Wärme zu erzeugen.
Die Paartänze hier sind besonders raffiniert choreografiert. Da hüpfen die jungen Damen den Jungs in die Arme, belassen ihre Knie gebeugt und lassen sich so, wie kleine Kraftpakete, empor heben.
Ganz leicht wirkt das, weil die Männer die Damen nicht nur irgendwie auffangen, sondern sie zeitgleich, schon im Moment des Fangens, anheben.
Dieser erste Teil von „Epilog“ wird also ein spielerischer Kampf mit den Unwegbarkeiten des Daseins, mit den Problemen gerade des modernen Lifestyles, mit aller Unbill, die sich trotz voluminöser Technik nicht vermeiden lässt. Die Liebe hat auch hier ihre Chance, als Nächstenliebe und Freundschaft ebenso wie als Erotik.
Der zweite Teil von „Epilog“, choreografiert zu den „Vier letzten Liedern“ von Richard Strauss, verhält sich dazu wie sich der zweite Akt von „Giselle“ zum ersten Akt verhält: Es sind dieselben Tanzenden, aber die Stimmung ist ätherisch, verträumt, surreal, entrückt, wenn man so will: geisterhaft.
Das Lied vom 2. September – nach ihrer Datierung werden sie unterschieden, sie entstanden alle vier im Jahr 1948 – gibt ein Gedicht von Hermann Hesse von 1927 wieder. Es geht, natürlich, um die Liebe. Bei der Uraufführung wird übrigens Starsopranistin Asmik Grigorian singen – Grund für ein Extra-Freude.
Alina Cojocaru und Jacopo Bellussi tanzen diesen brandneuen Pas de deux von John Neumeier in der Werkstatt – und können einem damit schon ordentlich den Kopf verdrehen.
Schon als Tänzer in Stuttgart, so erzählt Neumeier, wollte er die „Letzten Lieder“ choreografieren und experimentierte mit einer Tänzerin sogar schon mal. Rudi van Dantzig kam ihm zuvor und vertanzte zu Beginn der 70er-Jahre diese wie erleuchtet wirkende Musik.
Der gezeigte Pas de deux ist superbe. Und er hat ein packendes Vorspiel:
Alina Cojocaru, im weinroten langen Kleid, und ihr Partner gehen zunächst aneinander vorbei, bis er ihr folgt und sie sich sozusagen unmerklich auf ihn einlässt.
Rückwärts umkreist sie ihn, unter seinem Arm hindurch – und erinnert damit an eine tänzerische Figur aus Neumeiers „Josephs Legende“, die er bis jetzt aber nur von männlichen Tänzern zelebrieren ließ.
Wiederholt lässt sie ihren Kopf auf seine Brust sacken, wie erschöpft, um neue Kraft zu finden, derweil ihr Körper weiterhin Abstand von ihm hält – und erst jetzt beginnt die Musik von Strauss.
Hebungen und Drehhebungen von höchster Raffinesse entwickeln sich, er hebt sie in voll erblühter Arabesque, die beiden verschmelzen zu einem Organismus. Gen Ende legt sie wieder ihren Kopf an seine Brust.
Es ist sehr interessant, im Vergleich zu diesem hoch artifiziell, auch sehr akrobatisch gearbeiteten Stück ein Frühwerk von Neumeier zu sehen.
„Désir“, dieser sehnsuchtsvolle Pas de deux nach Klavierklängen von Skrjabin, der auf der ersten Ballett-Werkstatt in Hamburg vor 51 Jahren zu sehen war, wird jetzt zum Abschluss von Silvia Azzoni und Alexandre Riabko getanzt.
„Ein Ballett wie von Tschechow“, befand vor Jahrzehnten ein Kollege. Dabei durchströmt eine Poesie das Stück, die vor allem von innen, ganz tief aus der Seele zu kommen scheint.
Azzoni und Riabko sind keine jungen Tänzer mehr, aber sie wirken hier so feinfühlig getaktet und hoch präzise, dass man sich an überirdische Wesen erinnert fühlt. Insofern passt das Stück vorzüglich zum „Epilog“, der wiederum gewissermaßen darauf Bezug zu nehmen scheint.
Eine Bewegung darin, die beide vollziehen, erinnert an ein Solo, das Azzoni mit Neumeier 2013 für das Gustav-Mahler-Stück „Um Mitternacht“ kreierte. Der Oberkörper ist dabei vorgebeugt, der Kopf erhoben, die Arme zu Flügeln seitlich gespannt.
Am Ende legt Riabko seine Partnerin zart zu Boden, auf den Bauch, und ihre Beine, die Knie gebeugt, ergeben eine Art Meerjungfrau-Pose. Ein Arm ist nach oben, der zweite nach unten gerichtet – wie in einer Schwimmbewegung verharrend.
Als sie die Spannung in ihrem Körper löst, scheint Azzoni mit dem Bühnenboden zu verschmelzen, sie erzeugt eine Stimmung der Ruhe, die schon an Erlösung und friedlichen Tod denken lässt. Aber auch an Ausruhen, an Erdung, an meditatives Auftanken von Energie.
Seinem Publikum hatte Neumeier schon zuvor gedankt: „Sie, das Ballett-Werkstatt-Publikum, waren das treueste Publikum, das mich all die Jahre begleitet hat. Danke.“
Der Applaus glich dann zeitweise ein Choral aus hunderten begeistert johlenden Kehlen. Standing Ovations für John Neumeier und seine Company brandeten etwa zwanzig Minuten lang in einer Intensität, die selbst beim erfolgsverwöhnten Hamburg Ballett selten ist.
„Bravo!“ und „Don’t go!“ riefen stimmstarke Männer – und die Künstler mussten sich wieder und wieder verbeugen. John Neumeier schien den Jubel, der für ihn bestimmt war, sehr zu genießen.
Am Ende liefen einem die Tränen über die Wangen. Der Tränenmarathon mit Herz zu Neumeiers Abschied als Chef vom Hamburg Ballett ist somit offiziell eröffnet.
Gisela Sonnenburg