Die große Welt trifft sich in Dortmund: Jährlich begeistert hier eine aktuelle Zusammenstellung von tänzerischen Highlights aus der internationalen Ballettwelt, darunter solche aus der choreografischen Hand von Xin Peng Wang, dem örtlichen Ballettintendanten. Das Ballett Dortmund hat sich unter Wang seit 2003 zu einer ernstzunehmenden Größe entwickelt, aber die Tradition der Galas am Ende und zu Beginn der Saison ist tatsächlich schon älter. Gestern premierte die Internationale Ballettgala XXXVIII mit zahlreichen glamourösen Gästen – und bot viel melancholischen Schmelz, aber auch furiose tänzerische Brillanz. Stars wie Lucia Lacarra, Javier Cacheiro Alemán und Haruka Sassa sprechen ja eigentlich schon für sich. Heute abend ist das Programm noch einmal zu erleben. Und auch, wenn die Karten eigentlich schon ausverkauft sind, so mag man an der Abendkasse, so Terpsichore will, noch Glück haben.
Es beginnt mit einer Festszene, passend zum festlichen Anlass einer Gala: Der Pas de Quatre aus „Schwanensee“ in der Version von Xin Peng Wang formuliert Größe und Erhabenheit mit zwei Paaren vom Ballett Dortmund. Manuela Souza, Yingyue Wang, Márcio Barros Mota und Keigo Muto lieferten Tanzfreude en gros ab, mit Steigerung zu den bewährten Klängen von Peter I. Tschaikowsky, die wiederum leider, wie immer in Dortmund bei der Gala, nur vom Tonband kommen. Dafür ist der Grad an getanzter Präzision und Exaktheit hoch, und das Temperament der Tänzerinnen und Tänzer zieht allemal alle Aufmerksamkeit auf sich.
Schon das zweite Stück legt sich dann aber wie Nebel auf die angeheizte Stimmung, und der freie Choreograf Andreas Heise frönt seiner großen Leidenschaft: der eleganten und rätselhaften Melancholie. Mit der „Winterreise“ von Franz Schubert hat er sich passende Musik gesucht, und zu drei Liedern daraus gibt der ehemalige Primoballerino aus Dresden István Simon, in transparentes Schwarz gehüllt, sein Bestes. Keine großen Sprünge, dafür elegische Trauer um die Vergänglichkeit zeigt das Stück: ein Juwel für alle, die gern an die tiefen Gefühle der Selbstmitleidigen glauben.
Nach so viel Charme aus dem Untergrund der Seelengefilde rückt mit dem Grand Pas de deux aus „Don Quixote“ von Marius Petipa ein unverkennbarer typischer Gala-Klassiker an: Alice Mariani (ebenfalls früher beim Semperoper Ballett in Dresden tanzend) und Mattia Semperboni, jetzt beide von der Scala in Mailand, motzen wohl jedes Tanzpotpourri auf, bieten sie doch gepfefferte Passion vom Feinsten. Ihr Tempo ist zunächst getragen von langsamen Walzer-Klängen, passend für das Hochzeitspaar aus „Don Quixote“, um sich dann zu steigern: zu fetzigen Solo-Variationen und einem fulminanten Abschluss-Pas-de-deux. Olé!
Das heißt aber nicht, dass diese Show nicht noch zu toppen wäre. Mit einem Auszug aus „Krieg und Frieden“ vom Hausherrn Xin Peng Wang zu Musik von Dmitri Schostakowitsch bringen Monica Fotescu-Uta und Javier Cacheiro Alemán vom Ballett Dortmund zum Weinen vor Rührung. Manche Fans aus der Ferne mögen sich jetzt fragen, ob sie richtig gelesen haben: Tanzt wirklich Monica Fotescu-Uta? Sie war mal Wangs bedeutendste Muse, bäckt aber längst mit der Entwicklung neuer Trainingsmethoden eigene Brötchen und kehrte jetzt für diese Gala auf die Bühne zurück. Sinnlichkeit und Verständlichkeit ihres Tanzes, auch Reife in einem positiven Sinn sind ihre großen Stärken. Mit Javier Cacheiro Alemán hat sie den besten zu habenden Partner an ihrer Seite.
Nun passt das Thema der Paartanzszene – ein junger Mann muss Abschied von seiner Liebe nehmen, um in den Krieg zu ziehen – auf eine fast bedrückende Weise in unsere Zeitläufte. Der anrührende Tanz von Monica und Javier tut ein übriges: Es handelt sich um eine genial zu nennende Performance, und wem hier nicht das Herz aufgeht, hat wohl eines aus Stein. Bravi!
Auch Kammersänger Hannes Brock, der nicht zum ersten Mal diese Gala moderiert, mit Witz und Einfühlung, zeigt eine wie erleuchtete Mimik. Er freut sich dann auch sichtlich über den großen Jubel für dieses fantastische Stück Gala.
Dagegen hat es „Matiik“ des Duos Catarina Casqueiro und Tiago Coelho schwer. Die Lehrerin in zeitgenössischem Tanz zelebriert mit ihrem Partner bodennahe Technikexzesse, gymnastisch ansprechend, flippig-geschmeidig im stilistischen Ausdruck – aber inhaltlich ist nicht viel zu erkennen. Man hat dieses Pärchen wohl als Zugeständnis an den Trend gewählt, um so etwas auch dabei zu haben. Und es ist vielleicht für Einige im Publikum, die so etwas kaum kennen, ganz interessant, es mal zu sehen. Aber unterm Strich fragt man sich, was so etwas auf einer sonst sehr bewegenden Gala mitteilen soll.
„Don’t try it at home“, mahnt derweil scherzhaft Moderator Brock, auf die knochenbrecherische, blitzschnelle Akrobatik des Duos anspielend. Aber: Mehr als Action-ohne-action ist nicht wirklich zu erkennen. Und das ist eben doch traurig, wenn die Kunst, die die Beziehungen zwischen zwei Menschen zeigen sollte, auf der Strecke bleibt.
Kunst als Berieselung – dieses Konzept wird aber niemals nachhaltig sein, und es wird immer viel Geld und Aufwand verschlingen, so etwas zu vermarkten. Komischerweise ist dafür im jüngeren Deutschland immer genügend Fördergeld da. Für viele sinnvolle freie Projekte hingegen, die nicht auf Mitmachen, sondern auf Bildung setzen, hingegen nicht mehr.
Bevor es mit solchen düsteren Gedanken in die Pause geht, blitzt aber nochmals ein Edelstein mit Hochkarat auf: Der „Grand Pas Classique“ von Victor Gsovsky wurde 1949 geschaffen, um den Esprit der Ballette von Petipa griffig auf einen Nenner zu bringen. „Dornröschen“, „Schwanensee“, „Don Quixote“, „La Bayadère“ – alles soll hier dem Stil nach in einem großen Pas de deux kulminieren, aber ohne ein einziges deutliches Zitat oder gar Imitat. Und so brilliert hier die festliche Kühle, und fast ist man geneigt zu sagen, der Stil von George Balanchine habe eine weitere Variante gefunden. Die Musik von Daniel-Francois Auber treibt das Ganze noch ins Pompöse, und wenn Haruka Sassa, die mal Prima in Dortmund war, und Martin ten Kortenaarvom Staatsballett Berlin hier so richtig aufdrehen, reißt es die Menschen fast von den Sitzen vor Begeisterung. Mehr als diesen Gala-Knüller hat Choreograf Gsovsky allerdings nicht auf diesem Niveau kreiert.
Seine Gattin Tatjana Gsovsky hingegen brachte das deutsche Nachkriegsballett mit abendfüllenden Stücken wie „Der Idiot“ mit original dafür komponierter Musik von Hans Werner Henze nach dem gleichnamigen Roman von Fjodor M. Dostojewsky entscheidend nach vorne – und ist zu Unrecht fast vergessen. Was einmal mehr beweist: Ohne geldträchtige Lobby, die mit einer Stiftung das gesamte Werk verwaltet, haben es auch noch so brillante Choreografien seit der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts schwer, im Gefüge des Overkills der Kulturangebote zu überleben.
Die Aufarbeitung und Wiederbelebung der Werke von Tatjana Gsovsky wären da eine schöne Aufgabe für künftige Förderprojekte. Expressivität und eine moderne Fortführung der Klassik stehen ungeschrieben auf ihren künstlerischen Fahnen. Allerdings wäre die Beschäftigung mit ihr, die einst zu Fuß von Prag nach Berlin ging, keine inhaltsleere Arbeit.
Von daher sehe ich schwarz für staatliche Fördergelder. Es ist ja skandalös, wenn man besieht, wie viele Millionengelder hier zu Lande in aberwitzig unsinnige freie Tanzprojekte fließen. Hochwertiges scheint hingegen nicht gut anzukommen bei den Jurys, die teils aus Yoga-Studiobetreibern, teils aus Rockmusik-Kritikerinnen bestehen.
Zeit für ein generelles Jammerlied: Bildung auf dem Terrain „Ballett“ ist in Deutschland Mangelware geworden. Man müsste ein ernsthaftes Projekt also in jedem Fall privat finanzieren. Ob das jemand liest, der dazu in der Lage wäre?
Nach einer gern von frischer Luft gefüllten Pause geht es weiter mit dem superben Solo-Ensemble-Dialog der „Traumszene“ aus „Der Traum der roten Kammer“ von Xin Peng Wang. Es ist eines seiner kongenialen Werke, und man kann es gar nicht oft genug ansehen. Simon Jones tanzte die Hauptperson gestern, heute wird es Filip Kvacak sein, der diesen Part übernimmt. Es handelt sich um den Alptraum von Gefangenschaft: Das vorzügliche Ensemble vom Ballett Dortmund tanzt die Palastwachen, die den Träumer in ihrer Mitte halten. Die minimalistische Musik von Michael Nyman verstärkt zudem den Aspekt einer Trance, sodass man gedanklich soghaft in die Szenerie hineingezogen wird.
Die „Nocturne“ – es handelt sich musikalisch um die Nocturne Nr. 55 von Frédéric Chopin – von Christian Spuck hingegen spielt mit dem An und Aus von klassischer Musik. Der Pas de deux, von Haruka Sassa und Martin ten Kortenaar dargeboten, beginnt und endet ohne Musik – und duldet die rhythmisch-starke Mitternachtsstimmung, die vom Piano kommt, eher, als dass darauf Bezug genommen wird. In neoklassischer Manier zeigt Spuck, dass er technisch das Handwerk eines Paartanzes beherrscht, inhaltlich aber guckt man in die Röhre. Es sind eher zwei Körper, die miteinander agieren, als dass die Seele von dargestellten Menschen deutlich würde. So konzentriert sich die Darbietung auf den modernen Glamour, den die Tanzenden verströmen.
Der wird aber noch getoppt vom Kern-Pas-de-deux aus „In the Middle, somewhat elevated” von William Forsythe, einem auch schon seit Jahrzehnten auf Galas bejubelt kursierenden Stück. 1987 wurde das ganze Werk, das auch über ein lustig choreografiertes Ensemble verfügt, in Paris uraufgeführt, in den Hauptpartien waren damals Sylvie Guillem und Laurent Hilaire zu sehen. Seither haben zig Paare der jüngeren Ballettgeschichte gerade diesen Pas de deux einstudiert und interpretiert – und immer mit großem Erfolg. Denn so zackig-überdreht wie hier kommt Ballett sonst fast nie einher. Forsythe schuf mit seinem besten Stück etwas, das den Nagel auf den Kopf trifft: Als Parodie und Steigerung in eins, mit Vorführung und Ausformulierung von großen Tanzgesten zugleich provoziert und beglückt dieser Pas de deux. Große Show! Und Alice Mariani mit Mattia Semperboni aus Mailand wissen den süffisanten Charme dieser Choreografie bestens herauszukristallisieren.
Da fällt es fast schwer, sich abrupt auf die etwas starre Klassik von „Esmeralda“, die nicht das stärkste Stück von Marius Petipa ist, einzulassen. Mit dem Tambourin und dem darauf klopfenden, hoch schwingenden Bein muss Margarita Fernandes vom Bayerischen Staatsballett allerhand Verve aufbringen, was ihr indes mühelos gelingt. Ihr Partner António Casalhino, ebenfalls aus München, gilt sowieso und zu Recht als Hausnummer für sich. Und so gelingt den beiden, aus einem fast flachen Bravourstück eine herzerwärmende kleine Paargeschichte zu machen. Es lebe die Lebendigkeit des klassischen Tanzes!
Wer könnte darauf tänzerisch angemessen antworten? Richtig: Lucia Lacarra, die einst eine der weltweit führenden klassisch-modernen Ballerinen war, die aus Madrid über Marseille und über San Francisco nach München kam und die überall, wo man eine Bühne aufstellt, gern die Funken ihrer großartigen Kunst versprüht. Sie hat in der Tat einzigartige Meriten, und ihre Präsenz und Eleganz auf der Bühne sind unerreicht. Die Liste der Preise, die sie international erhielt, bestätigen das. Beim Bayerischen Staatsballett sorgte sie regelmäßig für Glückshöhepunkte beim Publikum, bis sie 2016 in die Freiberuflichkeit ging.
Danach tanzte sie zunächst als Gaststar in Produktionen vom Ballett Dortmund, um seit 2020 mit ihrem aktuellen Partner Matthew Golding eigene abendfüllende Produktionen auf die Beine zu stellen. Stets bezaubert darin Lucias typischer tänzerischer Stil: mit unerhört anmutigen, langgestreckten Gliedmaßen, erotischer Gelenkigkeit und kontrastreich sich ergänzendem Paartanz, für den der einstige Sunnyboy des Balletts, Matthew Golding, mit seiner ausgeprägten, felsenfest wirkenden Souveränität wie gemacht ist.
„Lost Letters“ („Verlorene Briefe“) heißt ihre aktuelle Produktion, die noch nicht als Ganzes in Deutschland zu sehen war, aber mit dem auf der Gala zu sehenden Pas de deux „Remembrance“ („Erinnerung“) zeigt Matthew Golding, dass er auch als Choreograf eine Menge drauf hat.
Die Videoprojektion hinter dem Tanzpaar zeigt einen Drohnenflug über ein rot in rot erglühendes Mohnfeld. Das schafft schon mal eine Atmosphäre aus natürlicher Sehnsucht und Schönheit der Natur, die von der beinahe schnulzigen neoklassischen Musik von Max Richter noch verstärkt wird.
Der Mann auf der Bühne, also Matthew, erinnert sich an seine Geliebte, die – getanzt von Lucia – in einem mohnroten Kleidchen auftaucht und ihn mit exzellenten Posen aus seiner eigenen Erinnerung heraus bezaubert und beglückt.
Da weiß man, was Liebeslust im Sommer sein kann… zumindest im Traum, und der utopische Charakter dieses erotischen Miteinanders ist gerade die besondere Note, der besondere Gehalt dieses bildgewaltigen Kammertanzes.
Als Duo sind Lacarra und Golding in dieser Tanzwelt unersetzlich, denn niemand sonst vermag es, als Paar mit so wenigen Mitteln so große Kunst auf die Beine zu stellen.
Aber erhalten sie Fördermittel aus dem Topf von ungefähr 70 Millionen Euro, die Bund und Länder in Deutschland pro Jahr für freie Tanzprojekte ausgeben? Nein. Warum nicht? Weil Lacarra und Partner so gut sind. Weltniveau zählt hier zu Lande nicht, wenn Hip-Hop-Projekte zum Mithüpfen, das Rumwälzen in Blumenerde („Black Velvet“ hieß das Stück einer Unbegabten zum Thema Gardening) und unentschlossene Akrobatik, die sich als Kunst ausgibt, wichtiger sein sollen.
Die Vermassung einer Kultur, in der jedes Theater ständig „ausverkauft“ vermelden soll und jede größere Ausstellung mit Schul- und Touristengruppen hoffnungslos vollgestopft wird, hat halt ihren Preis.
Hoffnungsvoll hingegen das Schlussstück dieser Gala: „Affairs of the Heart“ zur Musik von Marjan Mozetich in der meisterhaften Choreografie von David Dawson stammt aus dem aktuellen Repertoire vom Ballett Dortmund und lässt noch einmal das Corps de ballet hier erblühen.
Daria Suzi und Javier Cacheiro Alemán als Solisten darin zeigen, wie fein und doch stark modernes Ballett sein kann. Hin und her geht das Sich-Verstehen dieses Paares, und jedes Mal, wenn es zusammen findet, scheint das Band, das es vereint, noch inniger zu sein. Dennoch schwingt auch hier stets ein Hauch von Weltschmerz mit, auf eine Weise, die so ästhetisch ist, dass man sich in einer Zeitblase aus Ewigkeit wähnt. Ach, würde dieser Abend doch nie zuende gehen!
In der Erinnerung hält er an – und gibt Inspiration für kluge Gedanken ebenso wie für heilsame Gefühle.
Großer Dank an Xin Peng Wang, der wieder gezeigt hat, dass das Ballett Dortmund zu den besten Ballettensembles Europas zählt und seine Galas entsprechend grandios auszurichten weiß.
Gisela Sonnenburg / Franka Maria Selz