Von Neid erfüllt blickt vor allem das Berliner Ballettpublikum nach Wien. Was gab es dort alles in nur einer Spielzeit zu sehen: „Die Kameliendame“ von John Neumeier; „Les Sylphides“ von Mikhail Fokine; „Dornröschen“ von Martin Schläpfer; „Don Quixote“ von Rudolf Nurejew; „Goldberg-Variationen“ von Heinz Spoerli; außerdem eine berührende „Giselle“, einen berückenden „Schwanensee“, eine entzückende „Coppélia“, eine interessante Produktion namens „Jolanthe & Der Nussknacker“, ein existenzielles „Promethean Fire“ sowie ein sinnliches Programm namens „Im siebten Himmel“. Nomen est omen: Ballettdirektor Martin Schläpfer verschafft den Fans ihren siebenten Himmel, und er hat ganze Arbeit geleistet, um sein Publikum mit Tanz zu becircen und zu halten.
Schläpfer hat dabei die Klassik, die einen Großteil der Begeisterung im Ballett ausmacht und die zu Wien gehört wie das Amen in die Kirche, nicht schleichend abgeschafft, sondern sogar weiter entwickelt.
Und er hat Modernes und Zeitgenössisches in ein solides Verhältnis dazu gerückt. Er hat dafür gesorgt, dass man up to date an der Donau ist.
Aus meiner Sicht zählt Schläpfer zu den ganz Wenigen im Kulturgeschäft, die sich kontinuierlich entwickeln und in der Lage waren, einen absolut zu überraschen. Bravo!
Und für talentierte Insider gibt es in Wien sogar noch ein besonderes Schmankerl: mit der wöchentlichen „Open Class“ bietet das Wiener Staatsballett allen befähigten Interessenten die Möglichkeit, für nur 20 Euro Unterrichtsentgelt selbst mit den Tänzerinnen und Tänzern ein klassisches Training zu absolvieren.
Open Classes sind eine gute alte Tradition im Ballett, die all jenen, die nicht das Glück hatten, einen Staatsballettvertrag erhalten zu haben, die Möglichkeit bietet, auf deren Niveau zu arbeiten. Es ist lobenswert, wenn diese Chance nicht nur unter der Hand vergeben wird, sondern eine normale öffentliche Anmeldung den Weg dahin frei macht. Am 1. Juni 24 leitete sogar Martin Schläpfer höchstselbst das Training – für angehende oder schon seiende Profis und Semiprofis ganz wunderbar, solchermaßen auch als von außen Kommende mit dem Ballettchef arbeiten zu können.
Am kommenden Samstag, am 29. Juni 24, wird Samuel Colombet unmittelbar vor der mit Spannung erwarteten Nurejew-Gala mit jugendlicher Frische das Training leiten, das um 16 Uhr beginnt. Duschen sind ja vor Ort vorhanden, wer schnell ist, kann also beide Termine wahrnehmen: Training und Gala. Viel Erfolg allen Teilnehmenden!
Auch die für den Nachwuchs zuständige Ballettakademie der Wiener Staatsoper macht, zumindest von außen betrachtet, einen guten Eindruck, wobei man sich auf eine Tradition seit 1771 berufen kann, die hoffentlich nie ganz abbrechen wird. Es gibt zudem eine Jugendkompanie, auch wenn man zumindest im Ausland nicht allzu viel von ihr hört oder sieht.
Aber vor allem das Programm vom Wiener Staatsballett überzeugt, ohne Wenn und Aber. Tanz in Hülle und Fülle und in Vielfalt, ohne Abstriche, was das künstlerisch-schöpferische Können angeht. So soll es sein!
Würde das Ballett-Journal einen Preis vergeben, so würde ihn – neben John Neumeier und dem Hamburg Ballett, die alljährlich einen Preis erhalten würden, und dem Ballett Dortmund, das unter Xin Peng Wang einfach mal einen verdient hat – das Wiener Staatsballett mit Martin Schläpfer bekommen. Trotz starker Konkurrenz von deutschen und internationalen Ensembles.
Aber die Schwierigkeit, im glanzvoll geprägten Wien weder den Staub noch das Experiment regieren zu lassen, und das vorhandene hohe Niveau dabei noch zu steigern, ist besonders hoch und wurde von Schläpfer mit Bravour gemeistert.
Jetzt lockt, zum Spielzeitende, wie in jedem Wiener Sommer, als die Saison abschließender Superevent die „Nurejew-Gala“. Und sie kommt dieses Jahr sogar bis ins Wohnzimmer von jedermann und jederfrau: per kostenfreiem Live-Stream, was wirklich großzügig und zudem äußerst glanzvoll ist. Und: Sie bleibt 72 Stunden online, sodass Live-Besucher der Wiener Staatsoper sie nachträglich auch nochmals auf dem Bildschirm genießen können.
Die Gala weist übrigens nicht nur mit ihrem Titel darauf hin, dass das Wiener Staatsballett – damals noch Wiener Staatsopernballett heißend – in seinen Jahren mit Nurejew maßgeblich geprägt wurde. Der Genius des gebürtigen Russen, der aufgrund seiner Verdienste um das Wiener Ballett die österreichische Staatsbürgerschaft erhielt, ist also wie ein Schutzgeist allgegenwärtig.
Von 1964 bis 1988 trat Nurejew in Wien auf, in 22 verschiedenen Rollen und Partien mit 167 Vorstellungen. Mit dabei: sein eigenhändig inszenierter „Schwanensee“, bis heute nicht ohne Grund ein Publikumsmagnet, wie auch sein „Nussknacker“ mit dem Mitleid erregend hinkenden Drosselmeyer und sein „Don Quixote“ mit seiner umwerfenden Brillanz und Vitalität.
Menschlich und für die Kolleginnen und Kollegen war Rudi wohl nicht immer ganz einfach, und es sind schon wahre Hassliebesgeschichten überliefert, die ihn als arrogant und egozentrisch kennzeichnen. Aber es gibt mindestens genau so viele Berichte über ihn, die ihn als unglaublich motivierend, lehrreich, faszinierend beschreiben. Unterm Strich dürfte sich ein bisserl Leiden unter seiner Fuchtel gelohnt haben.
Vor allem an die Schokoladenseiten der Kunstausübung im Ballett erinnert jetzt am Samstag, den 29. Juni 24, ab 18.30 Uhr die kommende „Nurejew-Gala“, die als kostenfreier Live-Stream auch zu Ihnen nachhaus kommt.
Choreografien von August Bournonville, Martin Schläpfer, John Neumeier, Hans van Manen, Victor Gsovsky und Harald Lander machen aus der Show eine rasante, rundum liebenswerte Gala der Virtuosität und der Vitalität.
Von Bournonville gibt es im dänischen Romantik-Stil einen Pas de trois als „La Ventana“, der stimmungsmäßig sanft zum ersten Akt aus Nurejews „Schwanensee“ geleitet. Zu Musik von Györgi Ligeti tanzt dann Sonia Dvorak das Solo „Ramifications“ von Martin Schläpfer wie eine moderne Meditation.
„Four Schumann Pieces“ von Hans van Manen, unter anderem vom sanft-brillanten Davide Dato getanzt, der „Wiener Blut Walzer“ von Martin Schläpfer mit den Primaballerinen Olga Esina und Hyo-Jung Kang sowie weiteren Tanzstars dargeboten, der „Grand Pas Classique“ von Victor Gsovsky, der von Stargästen aus Paris interpretiert wird, und der violette Pas de deux aus der „Kameliendame“ von Neumeier mit Ketevan Papava mit Timoor Afshar berücken einzeln wie am Stück.
Was für ein Power-Programm!
Dann folgen Hyo-Jung Kang und Marcos Menha als verliebtes Dreamteam in „Dornröschen“ in der hervorragenden Schläpfer-Version, und der dann folgende furiose Fandango aus Nurejews „Don Quixote“ wird die Stimmung ganz sicher nicht absinken lassen.
„Schwanensee“-Eleganz mit schönster Tutu-Weißheit kommt dann noch einmal von den Pariser Gästen, also von Valentine Colasante und Marc Moreau.
Das Finale aus Harald Landers „Études“ mit seinen wunderschönen Silhouetten lässt, wie ein Rondo, nochmals die dänische Klassik vom Beginn des Abends anklingen und zeigt auch die souveränen Aspekte des Trainings, wie sie das unverzichtbare Corps de ballet vom Wiener Staatsballett drauf hat.
Alles in allem ein Termin, auf den man sich als Tanz-Feinschmecker wie als Ballett-Einsteiger unbedingt freuen darf. Viel Vergnügen – und nicht vergessen, dass der Stream drei Tage und drei Nächte lang zur Verfügung steht!
Gisela Sonnenburg