Es ist Freitag, der 13., und ein Schneewetterchaos verhindert etliche Zugfahrten. Die Anreise nach München ist also bereits abenteuerlich – und die Spannung steigt umso mehr. Tatsächlich aber lohnt die Fahrt, denn die „Gala mit Stars des Bayerischen Staatsballetts“ sprüht etliche Funken! Auch wenn es sich hierbei um eine Gala als reines Heimspiel handelt, denn die sonst für Gala-Veranstaltungen typischen Stargäste mussten draußen bleiben. Wie der Titel schon sagt… Aber auch, wenn sie später als Livestream online zu sehen sein wird, so hat diese Ballettcollage auf der Bühne im Prinzregententheater in München vom Zuschauerraum aus schon mal ein hervorragendes Flair. Die Sitzreihe 13 im Parkett passt zudem vorzüglich zum Datum, auch die Sicht ist von dort aus nachgerade optimal. Auch, wenn echte Ballettfans natürlich nie weit vorn genug sitzen können. Der Beginn der Gala kommt aber dennoch – ganz ohne Moderation, wie es beim Bayerischen Staatsballett (BS) seit langem üblich ist – etwas überrumpelnd.
Schwupps, knallt einem schon Peter I. Tschaikowskys „Der Nussknacker“ musikalisch tänzelnd entgegen. Auf der Bühne tut sich allerdings nicht ganz so viel. Die erste wird auch die schwächste Nummer dieses Abends sein, zumindest ist das am Freitag, dem 13.1.17, so.
Tatiana Tiliguzova und Dmitri Vyskubenko müssen in der Tat noch viel üben, wenn sie den Schmelz und die Grandezza eines Grand Pas de deux aus dem „Nussknacker“ so richtig hinkriegen wollen. Auch, wenn es eine Choreografie von Vasily Vainonen ist, in der noch vier weitere Herren die Dame ab und an heben dürfen. Es wirkt dennoch fast dilettantisch, was man sieht, von den sehr gelingenden Pirouetten abgesehen. Oder fällt es dem Paartanzpaar hier so schwer, als relativ unerfahrene Nicht-Erste-Solisten den Auftakt zu machen? Ein eher blasser Einstieg in einen Abend, der doch so viel verspricht.
Dafür vereinnahmt das zweite Stück, „Parting“ von Yuri Smekalov, umso mehr. Maria Shirinkina und ihr Mann Vladimir Shklyarov räkeln sich mit Aplomb durch diese berserkerhafte Tango-Show, und die Komplikationen einer sich in Auflösung befindenden, dennoch leidenschaftlichen Beziehung formulieren ihre Körper trefflich.
Smekalov schuf, als am Vaganova-Institut in Sankt Petersburg ausgebildeter Tänzer sowie als Choreograf, der seit 2008 immer mal wieder eigene Stücke vorstellt, mit diesem Piece einen echten Gala-Renner.
Es ist ein Pas de deux, das um einen mit auf der Bühne stehenden schwarzen Stuhl kreist. Lichteffekt wie ein sich ausbreitender Spot und diverse Blaulichtstrahlen unterstützen die surreal-passionierte Atmosphäre.
Auf den ersten Blick scheint das Stück stilistisch vor allem von Jiří Kylían beeinflusst, aber auch Zitate von Maurice Béjart mischen sich in das teils gemeinsame, teils solistische Ringen einer Frau und eines Mannes um das, was man Liebe nennt.
Schließlich aber obsiegen typisch russische Sprungelemente. Mit viel Temperament und durchaus originell illustrieren sie das Auftrumpfen des individuellen Lebenswillen über die Gemeinsamkeiten in einer Liebe.
Fast hat das Ganze dann streckenweise etwas sehr Sportives.
Andererseits ist genau das auch das Besondere an der Umsetzung dieses Auseinanderdriftens zweier Menschen. Und: Es ist typisch für die jungen, nachwachsenden russischen Choreografen, die zumeist selbst brillante Tänzer sind – wie Yuri Smeklaov, der diese Nummer übrigens mal mit Evgenia Obraztsova und durchgestylt bis in die kleinste Regung der Fingerspitzen selbst getanzt hat.
Dazu der knackig treffende Titel. „Trennung, Abschied“. Das heißt „Parting“ übersetzt, und am Ende springen denn auch beide zwar zunächst zeitgleich auf den Stuhl, der längst ihre vereinsamende Beziehung symbolisiert.
Aber dann preschen die zwei Noch-Liebenden auch schon auseinander wie zwei Bestien, die einander nicht mehr ausstehen können. Wusch! Und Schluss!
Fulminant, und man hätte sich dieses Stück als Beginn der Gala durchaus gewünscht – und den ohnehin nicht richtig hingefummelten „Nussknacker“-Pas de deux dann gar nicht vermisst.
Leider kommt dann aber nach „Parting“ wieder nur so eine „Pflichtnummer“, die man sich im Grunde gern ersparen würde, weil sie in dieser Form die Stimmung drückt.
Prisca Zeisel, eine in Wien hervorragend ausgebildete Ballerina, und Erik Murzagaliyev aus dem Kasachstan (der seit 2010 zum BS gehörte, jetzt dort aber nur noch als „Gasttänzer“ rangiert) versuchen sich am weißen „Schwanensee“-Pas de deux. Sie leiern dieses Stück Weltkunst aber völlig uninspiriert und lediglich auf die technische Richtigkeit bedacht herunter. Vielleicht gab es hier viel zu wenig Proben? Oder verkrampfte man sich, weil man allzu akkurat sein wollte? Kann mal passieren, aber bitte: nachbessern!
Jedenfalls geht echter „Schwanensee“-Glanz ganz anders, und wenn man, wie hier, den Eindruck hat, der Drill des klassischen Tanzes würde alles andere überlagern, dann ist da doch massiv was schief gelaufen. Wir sind gespannt, wie sich diese Sache bis Sonntag, bis zum Live-Stream, noch entwickelt…
Immerhin ist dieses Stückchen Klassik auch am Freitag nicht ganz so fade ausgefallen wie eingangs der „Nussknacker“-Auszug. Und mit ein paar Proben mehr – unter der richtigen ballettmeisterlichen Anleitung etwa von Judith Turos – darf man auf den bedeutenden, entrückt-beseligenden Ausdruck der Partien hoffen. Vom Potenzial her müssten dieses Tänzerpaar das eigentlich schaffen.
„Die Flamme von Paris“, die Alexei Ratmansky am Bolschoi-Theater rekonstruierte, reißt einen da in jedem Fall ganz schön vom Plüschsitz. Vasily Vainonen, der Choreograf, erdachte einige raffinierte Petitessen, die den Spaß an der französischen Revolution zwar nicht eben vereinfachen, dafür aber auf der Bühne umso sehenswerter machen.
Elizaveta Kruteleva und Adam Zvonar entwickeln denn auch eine eigene, charmante Interpretation dessen, vor allem Adam mit seinen Supersprüngen zu sehr exakten, lieblichen Linien – auch wenn die Bolschoi-Vorbilder hier ein wenig arg drücken mögen. Dasselbe Problem belastet ja bereits den „Spartacus“, die jüngste Premiere beim BS.
Igor Zelensky, Münchens Ballettdirektor und Ausrichter der Gala, würde vielleicht gut daran tun, sich nach Stücken für seine Tänzer umzusehen, die weniger vom Weltruhm des Bolschoi zu zehren versuchen – und die statt dessen künstlerisch eigenständige, auch eigenwilligere Noten nach Bayern bringen.
Denn den Vergleich mit dem Ensemble vom „Ballett-Olymp“, vom Bolschoi in Moskau, kann man in München so oder so nicht bestehen. Da wäre es darum umso wichtiger, sich gerade nicht simpel Eins zu Eins am „ganz oben“ des Balletts zu orientieren. Das hat doch immer was von provinzieller Nachmacherei.
Die „Raymonda“ von Ksenia Ryzhkova lässt da allerdings schon viel mehr aufatmen. Grazil, elegant, souverän und sehr dynamisch, insofern etwas ungewöhnlich, tanzt die Primaballerina diese an und für sich lyrische Partie, und sie ist schlicht ein Augenschmaus! Schön zu sehen, dass sich da jemand einlebt in München…
Auch das Ensemble verdient großes Lob für seinen Auftritt in dieser Nummer: eine so fröhlich-festliche Hochzeitsfeier mit Folkloreelementen kann sicher nicht jede „Raymonda“ bieten. Da weiß man dann, wozu ein Polka da ist!
Ach, aber der „Spartacus“! Er macht doch auch Kummer. Erik Murzagaliyev ist als Crassus ein kräftiger, ganz fantastischer Springer. Aber das Schauspielerische, das diese ganze Partie trotz all der Kunststückchen tragen muss, das geht dem jungen Tänzer einfach noch zu sehr ab.
Crassus ist jemand, der sich aufstacheln lässt, er ist motiviert von Vernichtungswillen, von Hass und Rachsucht. Darum springt er so hoch! Er ist kein Romeo, der vor lauter Verliebtheit seine tollkühnen Sprünge vollführt. Diesen Unterschied muss man beim Tanzenden sehen können – und da muss Erik seinen Ansatz einfach komplett überdenken.
Semyon Chudin – haha, da ist es wieder, das Bolschoi – tanzte diese Partie in Moskau meisterhaft generös-hasserfüllt, und nur dadurch wurde die Rolle auch psychologisch verständlich. Yuri Grigorovich, der Choreograf, hat sich viel dabei gedacht, den Bösewicht Crassus mit solchen Ausnahmetänzen zu bedenken.
Prisca Zeisel ist als Crassus’ Gattin Aegina auf der Gala allerdings eine angenehme Überraschung! Ihre Aegina ist lasziv schillernd, niederträchtig-souverän, und ihr schlanker Körperbau kommt der flirrenden Choreografie sehr entgegen. Ein einziger Wille zur Macht ist dieses Persönchen hier! Bravo! (Na bitte, hier zeigt eine Wienerin, was in ihr steckt!)
Ein Highlight dann: Die in München bereits vor einigen Jahren viel bejubelten, mitreißend walzernden „Frühlingsstimmen“ nach Johann-Strauß-Walzer-Klängen von Frederick Ashton. Mai Kono, die lyrische Japanerin, und Javier Amo, an der John Cranko Schule in Stuttgart ausgebildet, sind darin einfach ein Dreamteam!
Leicht, lebendig, erfrischend, virtuos – ihre Darbietung erbaut und erhebt, sie muntert auf und macht doch klammheimlich ein kleines Stück weit melancholisch, kennt doch dieser furiose Pas de deux des großen klassischen Briten so viele Facetten der Lebensfreude und der Zweisamkeit. Ach, und wie vergänglich ist all das…
Da poltert auch schon „Le Corsaire“ heran, mit dem Paar Shirinkina und Shklyarov allerdings phänomenal gemacht! So gewinnen diese beiden Münchner Neulinge vermutlich etliche zusätzliche Fans. Die grandiosen Sprung- und Drehtechniken der russischen Klassik beherrschen sie beide ohnehin, und hier stimmt endlich auch mal der Ausdruck der beiden!
Die Piraterie, die Verwegenheit, die Bereitschaft, auch in Sachen Liebe alles auf eine Karte zu setzen – das ist die emotionale Grundierung dieses Stücks, das Rudolf Nurejev in der westlichen Ballettsphäre zum Prüfstand für bravoursüchtigen Klassikstars machte.
Und es wurde zu einem festen Bestandteil des weltweiten Gala-Repertoires.
Vladimir Shklyarov springt hier so leichtfüßig in die Höhe, als sei es das Einfachste von der Welt! Leidenschaftlich, voller Genuss, aber auch voll Ehrfurcht vor seiner Dame ist sein Vortrag. Maria Shirinkina lässt ihm da den Vortritt, was die Aufmerksamkeit des Publikums angeht – und er darf das voll auskosten. Im übrigen erinnert Shklyarov hier an den Dresdner Ballerino István Simon, der in seinen besten Zeiten ebenfalls mit dem ganzen Körper geschmeidig sprang statt zu reißen.
Stimmungswechsel. Vom großen Aufbegehren zur heimlichen Verliebtheit… Ein weiteres Highlight folgt: die Balkonszene (ohne Balkon, aber szenisch gut gelöst) aus John Crankos „Romeo und Julia“, getanzt von dem jungen englischen Überflieger Jonah Cook und der hier kindlich-liebreizenden Ksenia Ryzhkova.
Oh, Cook kann sich kaum halten vor lauter Quickheit und guter Laune. Er verkörpert durch und durch den total verliebten Buben, der vor lauter Gefühl und Hormoncocktails fast platzt. Seine Julia ist mit Ryzhkova zart und niedlich – es ist gut zu sehen, wie Ksenia Ryzhkova in dieser Rolle auf ganz andere Weise erblüht denn zuvor als dynamische Raymonda. Es kennzeichnet sie als großes Talent, dass ihr dieser Wechsel hier so reibungslos gelingt.
Die übermütigen Sprünge, mit denen Crankos „Romeo“ sein Mädchen beeindrucken will, passen hervorragend zu diesem Pärchen hier, und Ryzhkovas liebes Lächeln ergänzt ihre feinen Linien in den Ports de bras.
Eine bessere Werbung für die „Romeo und Julia“-Vorstellungen in München kann man sich nicht denken.
Aber es gibt noch ein Highlight, das finale: Den Grand Pas de deux aus „Don Quijote“, den hier Ivy Amista und Osiel Gouneo tanzen.
Der Kubaner Gouneo wirbelt und strudelt und springt und pirouettiert über die Bühne, als wolle er irgendwelche Rekorde brechen. Er ist wie ein geschmeidiges Raubtier auf der Jagd – nur passt all dies leider nicht zur Rolle. Technisch und stilistisch hat Gouneo wirklich viel zu bieten.
Aber: Der Basil(io) im „Don Quijote“ ist ein trickreicher Dorflümmel, und ihm allzu viel edel gezähmte Wildheit einzuimpfen, kann nicht gut gehen. Dann bleibt die Nummer wie ein Stück aus dem Zirkus, mit viel technischer Rasanz und verführerischer Raffinesse, aber ohne Herz.
Man traut es dem manchmal selbstbewusst mit dem Publikum spielenden Osiel Gouneo indes zu, dass er sich noch entwickelt. Nicht wenige junge Tänzer lernen erst das Technische eines Stücks, einer Partie, um dann den Ausdruck einzustudieren. Und Potenzial hat der schöne Gouneo in jedem Fall.
Da ist aber seine Petipa-Partnerin hier, die Brasilianerin Ivy Amista, schon weiter. Sie ist keine übliche Kitri, vereint jedoch die notwendige Spritzigkeit dieser Wirtstochter mit schelmischer Koketterie.
Eine große Verspieltheit, gepaart mit feingliedriger Leichtigkeit, eine gewisse Keckheit in der Mimik und ein langer Atem sowohl bei den Sprüngen als auch beim Ausdruck prägen ihren Auftritt.
Amistas serielle Fouettés verdienen unbedingt genaues Hinsehen: Ivy beginnt sie langsam und steigert dann das Tempo. Sehr extravagant wirkt das – und sehr erotisch!
So ist Ivy Amista das beste Beispiel in dieser Münchner Show, wie man technische Mittel variieren kann, um einen bestimmten Ausdruck zu erzielen.
Bleibt die Aufgabe, Igor Zelenskys selbst gesetzte Zielvorgabe abklopfend zu überprüfen. „Eine Entdeckungsreise durch 150 Jahre Ballettgeschichte“ will er, so schreibt er im Vorwort des Programmhefts, mit diesem Gala-Programm anbieten.
Nun, für eine Reise hätte das Ganze vielleicht chronologisch oder thematisch sortiert sein müssen. Statt dessen ist nicht klar, nach welchen Kriterien die Reihenfolge der einzelnen Stücke überhaupt geordnet wurde. Am ehesten wohl noch nach dem bewährten Mittel der beständigen Kontrastierung.
Außerdem muss man sich fragen, ob die letzten 150 Jahre der Ballettgeschichte wirklich ohne die Pariser Ballets Russes von Serge Diaghilev auskommen. Und ohne den New Yorker George Balanchine. Und ohne den Deutsch-Amerikaner John Neumeier.
Ohne den dänischen Ballettstil und ohne den französischen. Ohne den italienischen und ohne den spanischen. Ohne – na, ich denke, wir haben Zelensky hier bei seinem Schwachpunkt erwischt.
Igor Zelensky glaubt vermutlich tatsächlich, dass nur das russische Ballett zählt, und darum hat er ganz vergessen zu sagen, worum es hier eigentlich geht.
Nämlich: nicht um 150 Jahre Ballettgeschichte, sondern um 150 Jahre russisch-sowjetisches Ballett, inklusive Ashton und Cranko als Beilagen.
Dafür ist es dann eine schöne Gala geworden!
Gisela Sonnenburg / Franka Maria Selz
Online (kostenlos) als Livestream aus dem Prinzregententheater in München am Sonntag, 15.1.2017, ab 17.55 Uhr auf www.staatsballett.de