Der widerspenstige Wundertänzer Alexandr Trusch ist mit 25 Jahren schon Erster Solist beim Hamburg Ballett. Vielleicht tanzt er bald beim ABT in New York. Aber erstmal gibt er sein Debüt in „Napoli“.

Ein Kobold, ein Traumtänzer: Alexandr Trusch

Hingebungsvoll bis zur Grenze des Möglichen: Alexandr Trusch als Puck in John Neumeiers „Ein Sommernachtstraum“. Foto: Gisela Sonnenburg

Es ist so eine Sache, einen jungen Tänzer mit Rudolf Nurejew vergleichen zu wollen. Eigentlich kann das gar nix bringen. Aber im Fall von Alexandr Trusch gibt es eine Gemeinsamkeit mit dem berühmtesten aller Tänzer, die man einfach nicht verschweigen möchte. Dabei ähneln sich die zwei optisch – von der Figur, vom Gesicht her – überhaupt nicht. Auch nicht von der Motorik her. Und auch ihre erotische Ausstrahlung ist sehr unterschiedlich.

Es sind auch nicht die eigenwillig-markanten hohen Sprünge Nurejews, die an Trusch erinnern könnten. Aber: Da ist dieser Fleiß. Dieser fühlbar vorhandene, unbändige, eiserne Willen, den eigenen Körper für das zu benutzen, was man damit vorhat. Dieses Sich-den-Körper-untertan-machen-wollen. Dieses unbedingte Wollen, das bis zu einer Selbstsehnsucht gesteigert ist: das zu werden und zu sein, was einem vorschwebt. Es ist dieses Kämpferische, und sei es lediglich für eine höhere Arabeske, was die beiden verbindet.

Nurejew hatte es damit nicht einfach. So talentiert und auffallend er war, er umwickelte sich die Beine mit elastischen Binden, um die Muskeln zu entlasten. So stark trainierte er, auch als reifer Tänzer noch, oft über seine Kräfte hinaus. Dafür wurde dieses Streben nach Vervollkommnung ein natürlicher Teil seiner Persönlichkeit, ohne Verbissenheit, ohne Verkrampfung. Es wurde, bei Nurejew und bei Trusch, irgendwann ein Hauptcharakterzug. Irgendwann im Laufe der Ausbildung oder der ersten Berufsjahre. Fast unmerklich.

Der Lohn dieser steten Anstrengung, mit sich selbst immer besser zurecht zu kommen, ist selbstreferenziell: Man strengt sich immer mehr an, ohne es selbst überhaupt noch als Anstrengung zu empfinden. Und bei beiden, bei Nurejew wie bei Trusch, speist sich dieser Ehrgeiz aus einer Art Widerborstigkeit und Trotz, aus einer Abneigung gegen das Mittelmaß und gegen das Laue, aus einer Widerwehr gegen alles Angepasste und sowieso gegen das so genannte Normale.

Romeo und Julia mit Alexandr Trusch

Alexandr Trusch als Romeo mit Florencia Chinellato als Julia: ein entzückendes junges Paar, überwältigt von den eigenen Liebesgefühlen… Foto: Holger Badekow

Er ist ein Senkrechtstarter. Mit 19 Jahren brillierte Alexandr Trusch bereits als Titelheld in John Neumeiers „Josephs Legende“. Da war er gerade mal ein Jahr lang Ensembletänzer – eine Typbesetzung. Schmächtig war er damals noch und längst nicht so sicher und versiert in vielen Ausdrucksmitteln wie heute. Aber: Es war schon zu sehen, dieses Talent, das nicht viele haben, das aufblitzt und funkelt und einen als Zuschauer nicht mehr loslässt, wie ein seltener Schmuckstein, der bei einem Juwelier vorgeführt wird. Mit lichternen Reflexen, die viel kostbarer erscheinen als jedes Sonnenlicht. Schelmisch, wirrköpfig, heißblütig, visionär – aber dabei anmutig bis zur Sylphidenhaftigkeit, so wirkt Alexandr Trusch auf der Bühne.

Auch als Puck in „Ein Sommernachtstraum“ – der ein Seelenverwandter vom Joseph ist, allerdings mehr Elf und Kobold als Mensch – verströmt Alexandr Trusch ein unnachahmliches Flair. Geschmeidig ist diese Kreatur, wie ein weiches Seidentuch im Wind, aber dennoch innerlich richtig zerrissen. Nie weiß ein Puck, was er wirklich will – und stets sucht er Abwechslung um jeden Preis. In Pucks Augen lächelt der Witz, aber er kann auch richtig bösartig sein. Trusch tanzte das entschieden kontrastreicher und manischer als andere – und profilierte sich somit gleich für weitere Bühnenjobs. Für den Romeo in Neumeiers „Romeo und Julia“ zum Beispiel: Jungenhaft und naiv erscheint er da in seinem übergroßen Verliebtheitskostüm, aber auch dekadent und egozentrisch in seiner Todessehnsucht unter der freundlichen Maske.

Auch der Lenski in John Crankos „Onegin“, beziehungsweise der Lensky in Neumeiers „Tatjana“, ist so ein doppelbödiger Charakter, wenn Trusch ihn darstellt (den Lensky hat er sogar kreiert): Einerseits ist dieser junge Mann lyrisch-charmant und hingebungsvoll, andererseits aber so cholerisch und melancholisch, als wolle er ein Modell für lebensuntaugliche Charaktere abgeben. Gespenstisch ist das – es jagt einem eine Gänsehaut über den Rücken. Gleichzeitig ist dieser Verlierercharme aber auch tränentreibend, man leidet und fühlt so sehr mit ihm… Es ist schon ein ziemlich starkes Stück, was Trusch da abliefert, als hypersensible, leicht entflammbare Künstlerseele russischer Machart.

Romeo und Julia in Hamburg

Es lohnt sich ein Blick ins Programmheft zu „Romeo und Julia“ beim Hamburg Ballett: mit Alexandr Trusch und Florencia Chinellato. Faksimile: Gisela Sonnenburg

Und wenn Alexandr Trusch gar den Cassio in „Othello“ tanzt, dann ist das gleich ein anderes Stück, so scheint’s: Der eigentliche Anti-Held des Abends ist dann nicht der im Eifersuchtswahn mordende Othello, sondern sein vertrauter Fähnrich Cassio. Der nämlich will immer nur das Beste für seinen Chef, dient so korrekt und biedermännisch, dass es einen fast gruselt vor so vielen Hofschranzentugenden – aber im entscheidenden Moment versagt der Helfershelfer. Aus Ehrerbietung, aus Scheu, weil er Othello zuviel Spielraum lässt – der brave Untertan, alias Truschs Cassio, will nicht wahrhaben, dass sein Chef gerade schwach und irre ist und eigentlich vor sich selbst (und vor allem: seine Frau vor ihm) beschützt werden müsste.

Choreograf John Neumeier schenkte dieser Figur im Prolog von „Othello“ eine kleine Szene, die Cassio als Opfer zeigt: Cassio wird von aggressiven Soldaten überfallen, ausgeplündert, klein gemacht. Statt aufzumucken, passt Cassio sich künftig stärker an, wird ganz besonders militärisch-treu und preußisch-redlich. Als Othello und Desdemona zusammen finden, hütet er deren zweisames Glück, als sei er ein Amor oder ein Ehekuppler. Und doch: In Othellos Fantasie mutiert Cassio zum Verführer Desdemonas, zum Ehebrecher, zu einem Sexmonster, zum glühenden Geliebten seiner Frau. Tragisch, dass Cassio sich gegen diese Zwangsvorstellungen Othellos nicht wehren kann – und am Ende hilflos ist, mit seiner Trauer viel zu spät kommt. Erstaunlich, was so ein Wundertänzer aus dieser Fast-Nebenrolle herausholt.

Programmheft Hamburg Ballett

Auch ein zweiter Blick lohnt sich: Das Programmheft zu „Romeo und Julia“ beim Hamburg Ballett bietet bildnerisch und textlich einen Überblick. Faksimilie: Gisela Sonnenburg

Truschs Erfolgsrezept klingt leicht, ist aber schwer durchzuziehen: Er arbeitet täglich extrem hart an seiner Tanztechnik, zum einen, und er übt, zum anderen, das wortlose Spielen so ernsthaft, als sei er ein tanzender Schauspieler. Das Resultat: Ein lebendiges, aufmerksamkeitsfesselndes Spiel mit tänzerischen Delikatessen, um sich alle zehn Finger danach abzulecken.

Bei einem morgendlichen Training beginnt er in langer Trainingshose und geschlossener Jacke. Der Körper ist wärmebedürftig. Aber Alexandrs Pliés sind weich und federnd, die Ports de bras dazu sind so austariert, als ginge es um eine Vorstellung. Die Tendus sind entsprechend. Nie habe ich so gelassen-ernsthafte Tendus gesehen, meistens wirken sie ja irgendwie heiter, vorwitzig, sogar abenteuerlustig. Nicht so bei Trusch. Hier sind sie vor allem gleichmäßig, ernsthaft, majestätisch auch; jedenfalls ganz so, als tanze der überkorrekte Cassio sie oder sogar ein Prinz, der sich damit auf eine wichtige Etikette vorbereiten will. Auch das saubere Schließen in der fünften Position hat bei ihm seinen bedeutsamen Stellenwert – nicht zu schnell und nicht zu hurtig darf es sein, aber auch nicht nebensächlich oder lahm.

Romeo und Julia im Programmheft

Alexandr Trusch macht das Programmheft zu „Romeo und Julia“ zu einem Highlight. Hier wieder mit Florencia Chinellato als Julia. Faksimile: Gisela Sonnenburg

Richtige Schwerstarbeit werden dann die Frappés – die Trainingsleiterin Irina Jacobson ist aber auch ein Feger! Sie ist um die 80 Jahre alt, sie hat mehr als nur viel Erfahrung, und ihre Kombinationen strotzen nur so vor Raffinessen. Überall lauern Schwierigkeiten… Ihre Frappés trainieren die Schnelligkeit und die Formschönheit des Fußes, und dass der Fuß hier oft als Coupé um den Knöchel gewickelt werden muss, statt sich mal eben für je eine schlappe Sekunde vorm Knöchel entspannen zu dürfen, spricht für sich. Trusch fährt sich mit beiden Händen durch das volle Haar. Der Mann fängt an zu schwitzen, und das ist gut so.

Natürlich fiebert man seinen Grands battements entgegen, will sehen, wie der Wundertänzer sie meistert. Ah, ja! Zwanzig Minuten später ist es so weit. Die dicke Trainingshose ist mittlerweile ausgezogen, die Jacke steht offen. Und die beschuhten Beine fliegen sanft, aber kontrolliert, in die Höhe, auch hier dominiert das Gleichmaß im Tempo, was besonders schwer und besonders effektiv ist. Später geht das auch ohne Handkontakt zur Stange gut, also in freier Balance, Trusch wackelt nicht ein einziges Mal dabei. Der Oberkörper bleibt musterhaft ruhig. Nach Pirouetten sind seine Landungen so weich, als trage er wattierte Schuhe – und dennoch wirken sie, zumal als Pirouette en attitude, so kraftvoll-männlich, wie es sein soll.

Romeos Tod im Programmheft

Auch Männer können auf der Bühne schön im Tod sein – wie das Programmheft des Hamburg Balletts zurecht verspricht. Faksimile: Gisela Sonnenburg

Aber es fällt ihm nichts in den Schoß. Alexandr Trusch hat sich harte Korrekturen geben lassen von Irina, die sich ihm auffallend viel zuwendet. So ein Talent will gefordert werden! Da sitzt mal ein Arm nicht ganz so, wie er soll, wenige Millimeter nur sind an der Pose zu ändern, aber an den Attitüden, nun ja, vor allem an denen nach vorn und zur Seite, da darf noch mal kräftig gedreht werden. Bis sie sitzen, jawoll! Geduldig macht Truschs Muskelkraft all das mit, harrt aus, hält das Bein in voller Höhe, jetzt etwas mehr seitlich als zuvor, und das Gesicht verrät die Anspannung der Korrektur mit keinem Zucken. Im Gegenteil: Mit der eifrigen Miene des Fachmanns für den eigenen Körper nimmt er begeistert jeden Hinweis zur Korrektur an. Es ist ja im Sinne seines eigenen Strebens, wenn er sich selbst immer weiter besiegen kann, immer stärker, immer öfter.

Müde wird er während so eines Trainings sowieso nicht. Manchmal springt er sogar statt in nur einer in zwei Gruppen mit. Macht also doppelt so viel, wie vorgesehen. Na, ist ja genügend Platz da! Und Trusch-Energie offensichtlich auch. Und sein Failli hat dieses Präzis-Lässige, ach – diese Nonchalance! Die hohen Sprünge, die Beinwürfe, die Pirouetten – alles lebt bei Trusch von scheinbarer Leichtigkeit im Verein mit einer hoch ästhetischen Passform. Als habe man das Ballett gerade für ihn erfunden!

Alexandr Trusch nach der Vorstellung

Lächelt auch nach einer anstrengenden Vorstellung: Alexandr Trusch, der oft blumenbeschenkte Publikumsliebling, in Hamburg. Foto: Gisela Sonnenburg

Alexandr Trusch grinst, wenn man ihm mit Schmeicheleien kommt. Er weiß mittlerweile, dass er was taugt und hat wenig Lust, sich was drauf einzubilden. Irgendwie ist er ja ein ganz einfacher Junge, einer, der aus Pinneberg in Schleswig-Holstein kommt. Aber geboren ist er an einem Ort in der Ukraine, mit dem für deutsche Zungen unaussprechlichen Namen Dnipropetrovsk. Ein Industrie- und Finanzzentrum, direkt am Dnepr gelegen, diesem mächtigen Fluss, der ins Schwarze Meer mündet. In dieser Stadt südöstlich von Kiew tanzte „Sascha“, so Truschs Spitzname, in einer Kinderfolklore-Truppe. Solche Folklore-Ensembles gibt es dort auf hohem, auch professionellem Niveau.

Auch Rudolf Nurejew fing als Kind in so einer Folkloretanzgruppe an, in Baschkirien, übrigens. Bis er von seiner Mutter in eine Ballettvorstellung mitgenommen wurde – ab da kannte er seine Bestimmung. Und befand sich bald in Leningrad, in der Ausbildung zum Balletttänzer. Bei Alexandr Trusch war es anders: Er hatte seine gesamte frühe Kindheit über nichts mit Ballett zu tun. Immer nur mit Volkstanz. Und wenn Saschas Familie in der Ukraine geblieben wäre, er wäre heute vielleicht Folkloretänzer von Beruf.

Aber als er zwölf war, kamen er, sein Bruder und seine Eltern nach Deutschland. Alexandr lebte sich in Schleswig-Holstein schnell ein, vermisste aber die Bewegung nach Musik, das Tanzen. Er landete, fast zufällig, in der Ballettschule Hamburg – John Neumeier. Nurejew hatte als Halbwüchsiger an der Waganowa-Akademie vor allem einen wichtigen, ihn prägenden Lehrer: Alexander Puschkin, er hieß wie der Dichter. Nurejew wohnte sogar bei ihm und seiner Frau, in einer Einzimmerwohnung, mit der Frau verband den späteren Homosexuellen ein Techtelmechtel, man kann wohl von einer Menage à trois sprechen.

Sascha Trusch musste nie bei irgendwelchen Leherern privat wohnen. Aber einen wichtigen, ihn prägenden Ballettlehrer hatte auch er: Kevin Haigen, dessen Rollenrepertoire er dann übernahm. Joseph, Puck, Vaslav, der Junge in Gustav Mahlers Vierter Sinfonie, das Solo „Le Train bleu“ – all das waren einst typische Haigen-Rollen, und sie stehen heute, nach vielfach verschiedener Interpretation durch die unterschiedlichsten Tänzer, wieder bereit, um ein neues Gesicht zu erhalten. Das von Trusch steht ihnen außerordentlich gut.

Seinen früheren Lehrer und heutigen Ballettmeister Kevin Haigen inspirierte der kindliche Trusch übrigens so sehr, dass Haigen  ein Kinder- und Jugendballett für ihn schuf: „Jeux d‘ Enfants“ („Kinderspiele“ ).  Es schildert die Geschichte eines Jungen, der sich morgens im Garten an Rosen erfreut, dann im Zirkus einen Clown erlebt und abends am Strand voll Neugier junge Liebende beobachtet. Nachts hat er dann einen wilden Traum – bis er aufwacht und ein neuer Tag anhebt. Die Mitwirkenden von der Ballettschule Hamburg, vor allem Sascha Trusch, konnten in dem Stück zeigen, was sie in ihren Trainingsstunden gelernt hatten: von den Ausbildungsklassen bis zu den Theaterklassen, also den fast fertigen Absolventen. Und manchmal, wenn man sie miteinander sprechen oder arbeiten sieht, sind sie ein Stück weit wie Vater und Sohn, der alte Haigen und der junge Trusch.

Blick ins "Giselle"-Porgrammheft

Das Programmheft zu „Giselle“ lädt beim Hamburg Ballett ein, im ersten Akt mitzuschwelgen: in modern-orangenen Farbtönen. Faksimile: Gisela Sonnenburg

Dennoch gab es eine mühsame Entwicklung bei diesem frühen Wundertänzer Trusch, weg von der dilettantischen Haltung, vom Genervtsein des Ewiggleichen im Ballett, hin zur Profi-Disziplin. Weg damit auch von der puren Sorglosigkeit und Ausgelassenheit des kindlichen Tanzens und hin zur kontrollierten, durch und durch muskelbeherrschenden klassischen Technik. Es war keine Liebe auf den ersten Blick bei ihm mit dem Ballett, es war da nicht wie bei Rudi Nurejew, und Trusch wollte auch nicht unbedingt raus aus seiner kleinbürgerlich-kindlichen Weltsicht, anders als Nurejew, der in bitterer Armut groß wurde. Erst nach einigen Jahren packte Sascha Trusch dann doch der Ehrgeiz: als er begriff, dass ihm der Beruf des Tänzers Möglichkeiten des Selbstausdrucks bieten würde. Aber viele Jahre galt er auf der Ballettschule als der Widerspenstige, der nicht so richtig wollte, was er doch konnte und sollte.

Dass er schauspielerisch so viel aus sich macht, ist denn auch ebenfalls kein Ergebnis des puren Talents. Sondern ein Resultat des späten fleißigen Lernens. Als Zuschauer konnte man in den letzten Jahren mit ansehen, wie sich mit Alexandr Trusch ein Künstler immer weiter entwickelt, wie der Bewegungsfluss schöner und gediegener wird, wie die Balancen immer besser zur Geltung kommen, aber auch, wie das Gesicht und auch der Körper mehr und mehr für den schauspielerischen Ausdruck tauglich werden. Da war am Anfang nicht viel los mit Spielen, heute aber ist er darin kaum zu überbieten, im internationalen Vergleich nicht.

Der Regisseur Leander Haußmann, der früher selbst auch Schauspieler war, sagt es so: „Man muss als Schauspieler die Fähigkeit haben, sich vollkommen in dem zu verlieren, was man tut.“ Dennoch haben besonders gute Schauspieler zugleich eine gewisse Distanz zu ihrer Rolle, bis zum demonstrativen Ausstellen derselben, im Sinn des Brecht’schen Verfremdungseffekts. Michael Maertens ist ein Theaterakteur, der das besonders beherrscht, auch Henry Hübchen oder Dörte Lyssewski sind darin genial. Dieses Talent zur – ich nenne es jetzt mal so – künstlerischen Übertreibung zeigt sich aber auch bei Alexandr Trusch. Und es ist absolut außergewöhnlich, es bei einem Tänzer zu sehen!

Ein Paar im Programmheft zu "Giselle"

Zum Mitschmachten, wegen großen Talents: Alexandr Trusch und Alina Cojocaru überzeugen schon im Programmheft in Hamburg. Faksimile: Gisela Sonnenburg

Es muss etwas mit der Bereitschaft zu tun haben, die eigene Lebenserfahrung ganz bewusst mit in die künstlerische Darstellung aufzunehmen. Es gibt aber auch bestimmte Voraussetzungen des Gemüts dafür. Das „Denken mit dem Bauch“, das Instinktive, Intuitive spielt hier eine Rolle. Nurejew wurde oft mit einem Tiger verglichen, mit einem gezähmten (Pierre Lacotte) oder mit einem Tier in freier Wildnis. Charles Jude beschrieb es so: „Wenn er die Bühne betrat, war er ein Tiger! Kein Mensch mehr, nicht Mann noch Frau.“ Diese Ungestümtheit, dieses das-wilde-Tier-in-sich-Zeigen – das kann Trusch auch.

Ich erinnere mich an eine „Sommernachtstraum“-Vorstellung im März 2013, da hatte ich fast Angst um diesen Puck, weil er soviel von sich zeigte, so viel von sich hergab, sich so dermaßen verausgabte, dass es vielleicht schwer sein würde, sich nach der Vorstellung wieder einzukriegen. Trotz oder gerade wegen der schwierig-akrobatischen Choreografie ging Trusch völlig im Spielen des arglistig-sinnenfreudigen Koboldes auf. Er verschwand als Person völlig, funkelte umso heftiger als chamäleonartiger Puck.

Da torkelte er blind vor lauter Weltverliebtheit über die Bühne, die Brille einer Liebhaberin auf der Nase. Da spielte er mit den Elfen und trieb den irrsinnigsten Unfug mit seiner Zauberblume. Da ärgerte er seinen Elfenboss und ahnte doch schon die Strafe dafür. Jede Drehung, jedes en tournant, jedes bisschen Gleitschritt drückte diesen Charakter aus, zwischen Aufsässigkeit und Tollkühnheit. Ob gymnastische Übungen am Boden oder hohe Sprünge durch die Luft, ob solistisches Kreiseln oder das Herumschleppen von schlafenden Verzauberten: Dieser Puck lebte wie ein Borderliner auf der Bühne – und zeigte mehr Seele, als für einen grantigen Gnom üblich ist. Das sah nicht nur witzig, sondern auch riskant aus. Aber er blieb sicher im Geleis, rutschte nicht aus, fiel nicht hin, verletzte sich nicht. Alles wurde gut.

DANN PASSIERTE EIN UNFALL

Kürzlich ist dann doch etwas passiert, etwas Gefährliches. Ein Autounfall, im November. Trusch saß mit Kollegen in einem Auto, das angefahren wurde. Sein Gesicht bekam schwer was ab. Er bekam neue Zähne, die reizende Lücke zwischen seinen oberen Schneidezähnen musste rekonstruiert werden. Sein rechts Auge war wochenlang geschwollen. Am Kinn trägt er seither eine Narbe. Aber was soll man sagen? Der Picasso-Effekt tritt ein. Der junge Mann wirkt seither noch schöner als zuvor. Die Spuren der Beschädigung betonen nur noch die helle, feine Haut, die tiefblauen, manchmal Blitze werfenden Augen, die sinnlichen Lippen. Nicht zu vergessen: die geschwungenen Brauen. Mit diesem Gesicht müsste er einen fantastischen „Petruschka“ abgeben, überhaupt warten all diese typischen Vaslav-Nijinsky-Rollen noch auf ihn…

Die Arbeit wurde allerdings nach dem Unfall erstmal nicht leichter, nach diesen Verletzungen. Tapfer stand Trusch zwar bald wieder auf der Bühne, fuhr auch bald wieder Auto, er hat einen Mini-Cooper, so ein heiß geliebtes Bastel- und Kultobjekt, dem Trusch schon eigenhändig mehrfach den Motor aus- und einbaute und der bei dem Unfall nicht dabei war. Aber die Angst, die sitzt wie selbstverständlich in den Knochen nach so einem Vorfall. Da weiß man: Man muss dagegen ankämpfen. Auch Nurejew hätte so gehandelt, Trusch gönnte sich kaum Ruhe. War bald zurück auf der Bühne. Vorstellung für Vorstellung wurde die Angst wieder sichtlich weniger. Und siehe da – jetzt gewannen Gesicht und Körper noch an Darstellungskraft dazu. Gefühlsabgründe wie Verzweiflung, Depression, Trauer kann er jetzt noch deutlicher mitteilen als vor dem Unfall. So war der Schrecken wenigstens für etwas gut.

Und oft muss ein so junger Tänzer sowieso vor allem Fröhlichkeit verkörpern. Als Günther im „Nussknacker“ ist Trusch der zuverlässig muntere Held, der mit der kindlichen Heldin spielt, der mit den Gefährten Tours en l’air springend tanzt – und der beim Grand pas de deux seine Verlobte auf Händen zu tragen weiß. Auch Tadzio aus dem „Tod in Venedig“ trägt zwar eine gewisse jugendliche Sehnsucht in sich, besteht aber vor allem aus naiver Lebensfreude. Truschs Graf Alexander – in den „Illusionen – wie Schwanensee“ – ist hingegen ein loyal-liebenswürdiger junger Mann mit zwei Seiten: ein bekümmerter Freund des Königs und ein sorglos-glücklicher Verlobter. Das sind nun nur einige der facettenreichen Prinzen und Nicht-Prinzen, die Alexandr Trusch schon verkörperte. Aber für einen 25-Jährigen ist bereits das allerhand an Bühnenerfahrung.

Trusch als Tadzio

Mit Lloyd Riggins tanzte Alexandr Trusch als Tadzio im „Tod in Venedig“ – eine Lustobjektfantasie eines alternden Mannes. Foto: Holger Badekow

Er ist seit 2010 Solist, seit 2014 Erster Solist. Rund 35 interessante Parts sind nachzuzählen, darunter sind allein in dieser Spielzeit bislang vier Debüts. Da ist auch Komisches dabei – grotesk-lustig ist etwa, wie Trusch den ungebliebten, aber hartnäckig verehrenden Grafen von N. in der „Kameliendame“ darstellt – und extrem Tragisches, wie sein Romeo, der nicht nur an einem Missverständnis zu sterben scheint, sondern auch daran, dass wahre Liebe im Grunde nur Neider, aber keine Freunde hat.

Neben den schon erwähnten Partien (Joseph, Puck, Cassio, Lensky und Lenski) lockt Trusch abwechselnd als Louis und als Ein schüchterner Junge in den „Liliom“. Der „Vaslav“ ist eine technisch schwierige, darstellerisch ebenfalls hochkarätige Nummer; die „Vierte Sinfonie von Gustav Mahler“ tanzte Trusch noch blutjung, es ist die Geschichte eines Heranwachsenden, er konnte zunächst sich selbst tanzen, sozusagen. Ein unbefangen jugendlicher Held ist er ja allemal… bei den hohen Beinen!

Alexandr Trusch als Lensky

Alexandr Trusch als Komponist Lensky in John Neumeiers Schöpfung „Tatjana“: schwärmerisch, heißblütig, verliebt. Foto: Holger Badekow

Nun ist sein Tänzerprofil natürlich geprägt vom Hamburger Chefchoreografen John Neumeier. Die hier aufgezählten Ballette stammen alle von ihm. Der Lensky in „Tatjana“ ist insofern etwas Besonderes, als Trusch diese Hauptrolle auch kreierte. Sie ist ihm, mit vielen fließenden Développés und Gelenkigkeit erfordernden akrobatischen Manövern, sichtlich auf den schönen Leib choreografiert. Auch sein Liebhaber in „Giselle“ ist erkennbar der Neumeier’sche Albert, nicht der klassisch-romantische Albrecht. An der Seite der früher in solchen Rollen frenetisch gefeierten, mittlerweile zu sehr von sich überzeugten Alina Cojocaru als Gaststar in der Titelrolle, lässt Alexandr Trusch die Zuschauer von „Giselle“ dahin schmelzen. Welche Brillance, welche Weichheit, welche Lyrik in den Beinen!

Trusch und Cojocaru

Alexandr Trusch als Albert mit Alina Cojocaru als „Giselle“ in Neumeiers Fassung des romantischen Balletts. Foto: Holger Badekow

Aber Trusch war auch schon mit anderen Choreografen glücklich. Der ebenfalls lyrische, aber durchaus auch bieder-romantische Lenski in John Crankos Evergreener „Onegin“ ist hier wichtig: Er hat Sascha heftigen interpretatorischen Auftrieb gegeben. Da traute sich mal einer was! Insbesondere die Wutszene, in der Lenski Onegin zum Duell fordert, erhielt mit Trusch so mitreißendes Temperament wie nie. Nun liegen Cranko und Neumeier stilistisch nicht allzu weit auseinander. Aber Trusch war auch schon in ganz anderen Stilen daheim, etwa in einem Stück von George Balanchine („Der verlorene Sohn“). Und in den hoch schwierigen, dennoch ganz leichtfüßig anzubietenden „Dances at a Gathering“ von Jerome Robbins (Truschs tragende Rolle dort: „Man in Brick / Mann in Terracotta“) war er eine Augenweide! Somit hat Alexandr Trusch sich auch im abstrakt-modernen Tanz bereits vituos behauptet – es könnte vielleicht ruhig mehr auf diesem Sektor werden.

Ob er langfristig in Hamburg bleiben wird, kann niemand mit Sicherheit sagen. Trusch hat zweifelsohne das Talent und auch die nötige Willensstärke für eine ganz große internationale Karriere. Einen ausführlichen Eintrag im englischsprachigen (nicht im deutschen) Wikipedia hat er schon. Und: Sein Rollenprofil ähnelt dem des brillanten Argentiniers Herman Cornejo. Der ist seit 2003 beim American Ballet Theatre in New York ein Principal, und man könnte sich Trusch glatt als dessen Nachfolger vorstellen. Aber auch in andere hervorragende Compagnien wie in das heutige Staatsballett Berlin würde er wohl passen.

In Hamburg hingegen liegen Glück und Unglück für herausragende Solisten nah beieinander: Die Verletzungsquote in der multibeschäftigten, aber relativ kleinen Power-Truppe ist seit einigen Spielzeiten nicht ohne Grund sehr hoch. Auch stabil wirkende Tänzer wurden im Laufe der Jahre dort aufgebraucht und stark verschlissen. Der Vorteil ist derselbe wie der Nachteil beim Hamburg Ballett: viele, viele, vielleicht zu viele Auftritte für die Ersten Solisten.

Das Publikum kommt hingegen für den Namen John Neumeiers – und wenn er 2019 das Zepter an Lloyd Riggins übergibt, muss dieser damit beginnen, sich ein neues Stammpublikum heranzuziehen. Das werden sicher keine mageren, aber doch ziemlich harte Zeiten fürs Hamburg Ballett werden. Fraglich, ob sich ein Supertalent wie Alexandre Trusch da nicht irgendwie verschenken würde. Denn nur für tolle Tänzer kommen die Zuschauer heutzutage nicht mehr. Der ganze Nimbus einer Truppe muss vielmehr der Magnet sein.

Riggins kann was, er wird es – auch mithilfe seiner begabten Frau Niurka Moredo – zweifelsohne schaffen, sich ein solches magisches Ensemble aufzubauen. Aber: Das wird nicht von heute auf morgen gehen. Und die Tänzergeneration Trusch wird, wenn es denn endlich geschafft ist, ihre besten Jahre unwiderruflich hinter sich haben. Die Früchte des Erfolgs werden dann andere ernten. Insofern sollte sich jede und jeder überlegen, ob Gehen oder Bleiben für sie oder ihn jeweils sinnvoll ist.

Trusch als Albert

Ein junger Mann arbeitet Schuldgefühle auf: Albert (Alexandr Trusch) in Neumeiers „Giselle“-Version. Foto: Gisela Sonnenburg

Aber all das ist Zukunftsmusik. Jetzt debütiert Alexandr Trusch erstmal mit dem furios-meisterhaften Part des Gennaro in Lloyd Riggins Bournonville-Glanzstück „Napoli“. Das bedeutet: viele Sprünge, viele Hebungen, ein temperamentvolles Finale, zuvor einige Pantomimen – und mittendrin eine Szene mit der Möglichkeit, schauspielerisch ganz groß zu brillieren. Wenn nämlich Gennaro, dieser bedauernswerte Liebende, der seine Geliebte in den Fluten des wilden Meeres verlor, auszieht, um sie zu suchen: zwischen Furcht und Hoffnung hin- und hergerissen…
Gisela Sonnenburg

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