Himmlische Träume von Weltenbummlern Gefeierte Premiere: Mit „Shades of Blue and White” knüpft das Stuttgarter Ballett an seinen Erfolg von „Shades of White“ an

"Shades of Blue and White" beim Stuttgarter Ballett

„Das Königreich der Schatten“ aus „La Bayadère“ bildet einen unvergesslich schönen Auftakt zu den „Shades of Blue and White“ beim Stuttgarter Ballett. Daiana Ruiz, Abigail Willson-Heisel und Veronika Verterich tanzen die Solo-Variationen. Foto: Roman Novitzky

Noblesse, Eleganz, Zeitlosigkeit: Eine Ballerina in Weiß nach der anderen schreitet voran, zelebriert ihre Schritte, als marschiere sie in die Ewigkeit. „Das Königreich der Schatten“, es ist eine berühmte Szene aus dem Ballett „La Bayadère“ von Marius Petipa – und es bildet den Beginn des neuen Erfolgsabends „Shades of Blue and White“ („Schattierungen von Blau und Weiß“) beim Stuttgarter Ballett. So malerisch der Titel, so herausfordernd die tänzerische Umsetzung. Die Handschriften von William Forsythe („Blake Works I“) und Uwe Scholz („Siebte Sinfonie“) werden den Abend ergänzen. Aber dessen Einstiegssensation, in der durchaus berühmten Version von Natalia Makarova inszeniert, ist bereits überwältigend: 44 Tänzerinnen – bei der Uraufführung in Sankt Petersburg 1877 waren es sogar 64 – kommen darin nacheinander auf die Bühne, hinten rechts auf einer Anhöhe beginnend. Sie gehen einen Schritt vor und führen langsam eine Arabeske aus, dann senken sie das Spielbein und wandeln es zum Standbein für ein Tendu en avant. Drei gleichmäßige Schritte vorwärts folgen.

"Shades of Blue and White" beim Stuttgarter Ballett

Akkurat und synchron, dennoch lieblich, individuell bildschön und keineswegs ohne eigene Identität: Das weibliche Corps de ballet ist ein Star im „Königreich der Schatten“, zu sehen in „Shades of Blue and White“ beim Stuttgarter Ballett. Foto: Roman Novitzky

Dann beginnt das Ritual von vorn. Angeordnet ist das Ganze in Serpentinen, die die ganze Breite der Bühne und auch ihre Tiefe erfassen. Schießlich ist die Bühne gefüllt mit Ballerinen im klassischen Tellertutu, und sie führen synchron und präzise immer wieder diese Schrittfolge aus.

Die ersten machen das 39 Mal. Bis die Choreografie ihnen erlaubt, schnell laufend erst einen Kreis und dann vier Reihen zu bilden. Der elegische Tanz aber geht weiter, mit anmutigen Posen im Stehen, Drehen, Sitzen – und das Publikum verfällt regelmäßig in einen Rausch vor Begeisterung, bewundert wie hypnotisiert die Schar entrückt wirkender Schönheiten auf der Bühne.

Das musikalische Vorspiel dazu ist geprägt von zartem Harfenspiel und wird von violinenreichem Orchesterklang fortgeführt. Ludwig Minkus, vielfach bewährter Ballettkomponist, ist hier der Klangschöpfer.

Der Zauber des klassischen Tanzes – noch mit Anklängen an das romantische Ballett, das als Vorläufer der reinen Klassik gilt – ergießt sich somit optisch und akustisch wie ein Strom warmer Glücksgefühle im Opernhaus. Wenn es ein Himmelreich des Tanzes gibt, dann hier!

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Für das Corps de ballet, also für das weibliche Ensemble, ist dieses Königreich der weißen Schatten sowieso eine der besten Auftrittsmöglichkeiten überhaupt: Die Zuschauenden gehören dann ganz dem Charme und dem Zusammenhalt der Gruppentänzerinnen.

Es ist ein ballet blanche, ein weißes Ballett, wie aus dem Bilderbuch, und das Stuttgarter Ballett wäre nicht es selbst, würde es das nicht auch so akkurat zeigen, wie man es im Traum erblicken könnte: voller Erhabenheit und Entrücktheit.

Nicht umsonst schwebt darüber der Vollmond, durch verklärenden Nebel verlockend leuchtend. Auch die Silhouette eines Baumes deutet an, wie naturhaft diese elfenhaften Wesen, die da tanzen, im Grunde sind. Tatsächlich sind sie Geisterfrauen, junge Damen, die allzu früh verstarben.

Wer genau hinsieht, dem erzählen die Tanzenden von ihrem Glück und ihrer Schmach, vor allem aber von ihrer Befähigung, ihr Leid zu überwinden und in sanfte Souveränität zu verwandeln.

Daiana Ruiz, Abigail Willson-Heisel und Veronika Verterich zeigen in ihren Solo-Variationen delikate Abwandlungen dessen.

"Shades of Blue and White" beim Stuttgarter Ballett

Adhonay Soares da Silva und Elisa Badenes im Rausch der Liebe mit jenseitiger Note: „Das Königreich der Schatten“ erzählt von diesem Gefühl in „Shades of Blue and White“ beim Stuttgarter Ballett. Foto: Roman Novitzky

Gegen so viel geballten Edelmut haben es die beiden Hauptprotagonisten, ein Liebespar, gar nicht mal leicht. Der junge Mann, der mit einem exzellenten Spagatsprung die Bühne entert, hat aber einen Platzvorteil: Er ist dem Libretto nach derjenige, der diese Szene im Opiumrausch träumt, und auch, wenn die Handlung von „La Bayadère“ hier weggelassen wird, so dominiert doch der männliche Wille nach Schönheit und Vergebung die Struktur des weißen Aktes.

Adhonay Soares da Silva tanzte schon 2018 diese Partie des Solor im „Königreich der weißen Schatten“, und er hat sich seither eher noch gesteigert. Kraftvoll, dennoch geschmeidig und ausdrucksstark, dennoch technisch hoch entwickelt ist seine Darbietung. Er ist Mann gewordene Poesie – und er beherrscht die lyrischen Passagen ebenso wie die dramatischen.

"Shades of Blue and White" beim Stuttgarter Ballett

Adhonay Soares da Silva vom Stuttgarter Ballett: ein Solor wie aus dem Bilderbuch des klassischen Tanzes. Foto: Roman Novitzky

Seine Partnerin Elisa Badenes als Nikija entspricht der Partie der betrogenen und ermordeten Tempeltänzerin, die im Jenseits im Reich der Schatten zu sich selbst finden kann, mit Verve. Ihre Drehungen sind ebenso von Perfektion geprägt wie ihre Posituren.

Einzeln wie als Paar überzeugen sie und entführen in ein Reich der Liebe ohne zeitliche und räumliche Grenzen. Sie schweben, als sei das die natürliche Daseinsform des Menschen – und sie vermitteln damit ein Flair, das nur vom klassischen Ballett erzeugt werden kann.

Der Paartanz steht hier für das Weiterleben in einem Paralleluniversum, welches dort beginnt, wo etwa „Schwanensee“ aufhört.

"Shades of Blue and White" beim Stuttgarter Ballett

Daiana Ruiz in Aktion mit dem Corps de ballet: Erhabenheit und Souveränität, ätherische Formen und elegante Posen: Der erste Teil von „Shades of Blue and White“ lässt nichts vermissen. Foto: Roman Novitzky

Das Reich der weißen Schatten, die ex negativo und wie auf Röntgenbildern auf einem dunklen Grund erscheinen, ist damit sich selbst genug. Es braucht keinen Kontext aus irdischer Handlung, keine Einbindung in die getanzten schnöden Irrungen und Wirrungen aus Leidenschaften und niederen Trieben. Oder doch?

Wen es nach Handlung – im Sinne von Action oder auch von Entwicklung – gelüstet, bleibt halt  zuhause oder geht ins Kino. Und ärgert sich bitte gehörig, weil er oder sie dann was verpasst. In „Shades of Blue and White“ triumphiert nämlich der genussvolle Moment an sich, und das Programm ist gestaltet wie eine Aneinanderreihung von Höhepunkten.

Dem ersten berauschenden Himmelstraum vom Schattenreich, der international ja eh eine große Hausnummer im Ballett darstellt, folgen alsbald zwei weitere, gefühlt kleinere, aber ebenfalls jeweils etwa vierzig Minuten lange Stücke. Sie sind weder harmlos noch langweilig, enthalten aber auch keine Charaktere oder Handlungen im theaterwissenschaftlichen Sinn. Damit muss man sich abfinden diesen Abend: Abstraktion ist das Motto.

Dirigierte im ersten Teil Mikhail Agrest das Staatsorchester Stuttgart, um die Originalpartitur von Minkus zum Schwingen zu bringen, stehen die Zeichen beim Mittelstück ganz auf Kontrast dazu:

„Blake Works I“ bedeutet Tanz zu sieben Elektro-Pop-Songs von James Blake, die vom Band kommen.

"Shades of Blue and White" beim Stuttgarter Ballett

Lässig, aber auch elegant: Die himmelblauen „Blake Works I“ von William Forsythe mit den Stuttgarter Tänzerinnen und Tänzern (von links): Adhonay Soares da Silva, Flemming Puthenpurayil, Rocio Aleman und dem Ensemble. Foto: Roman Novitzky

Choreograf William Forsythe, der in diesem Jahr 75 wird, kreierte das Stück 2016 für das Ballett der Pariser Opéra. Es ist seine recht eigenwillige Liebeserklärung an den klassischen Tanz, auch an die Neoklassik. Speziell lehnt sich Forsythe an den Stil von George Balanchine an, an jenen Russen, der über Paris nach New York kam und dort zum künstlerischen Begründer der School of American Ballet wie auch des New York City Ballet wurde.

2018 ließ das Stuttgarter Ballett bekannterweise das umjubelte Programm „Shades of White“ premieren (hier geht es zur Rezension von damals). Daran knüpft nun „Shades of Blue and White“ nicht nur im Titel an. Aber damals gab es tatsächlich ein Stück von George Balanchine als Abschluss des dreiteiligen Abends. Die „Sinfonie in C“ nach der Musik von George Bizet zeigt nämlich deutlich Mister B.s exzentrisch-elegante Weiterentwicklung des Gedankens vom ballet blanc: Weiß gekleidete Damen tanzen mit schwarz glitzernd gewandeten Herren in einem imaginären, puristisch nur angedeuteten Kristallpalast, nach welchem zunächst auch das ganze Stück betitelt war.

"Shades of Blue and White" beim Stuttgarter Ballett

Flemming Puthenpurayil mit Witz und Bravour in „Blake Works I“ von Forsythe, dem Mittelstück von „Shades of Blue and White“ beim Stuttgarter Ballett. Foto: Roman Novitzky

Heuer präsentiert man in Stuttgart die jüngere Tanzgeschichte als Folge der „Bayadère“. Forsythe – der übrigens der letzte Tänzer war, den John Cranko, der Macher des Stuttgarter Ballettwunders, noch selbst engagierte – gilt als einer der fortschrittlichsten Choreografen überhaupt. Sein technisch-akrobatischer, dennoch satirisch überhöhter Stil vermag es, die modernen Zeiten in angenehmer Hinsicht auf einen Punkt zu bringen.

Forsythe ist ein Weltenbummler par excellance. Viele Ballettkünstler arbeiten international, und das war sogar schon zu Petipas Zeiten so. Dass ihre Himmelsträume von allen oder zumindest vielen Nationen verstanden werden, macht ihre Werke so weltumspannend. Tanz, wenn er hochkarätig ist, richtet sich ja im Grunde immer an die ganze Welt als Zuschauer.

Das Element des Schwebens findet sich in den „Blake Works I“ allerdings auch in der vom Blues inspirierten Popmusik, die ausgiebig Ich-Reflexion betreibt. Mal sanft und soft, mal fetzig und mitreißend: Der britische Musiker Blake, Jahrgang 1988, kann in seinen Songs ganz fein säuseln, aber auch pulsierende Klänge hervorbringen. Das täuscht aber nicht darüber hinweg, dass hier ohne Elektrizität musikalisch gar nichts laufen würde: Blake wird vom Syntheziser begleitet und ist rundum, bishin zum oft verfremdeten Gesang, von der Elektrizität abhängig.

"Shades of Blue and White" beim Stuttgarter Ballett

Elisa Badenes und Jason Reilly in „Blake Works I“: witzig, spritzig, keck, frivol. Foto vom Stuttgarter Ballett: Roman Novitzky

Insgesamt ist der Ausdruck der Soli, Paar- und Gruppentänze hier dennoch so fröhlich-beschwingt, leicht, sogar vordergründig, als würde es sich um eine moderne Operette handeln. Nur der Forsyth’sche Sinn für Hintergründigkeit reißt immer mal wieder die Fassade ein.

Rocio Aleman begeistert hier am meisten, sie hat den Stil von Forsythe, der zwischen zackig und poetisch changiert, vollkommen verinnerlicht. Aber auch Elisa Badenes, David Moore, Flemming Puthenpurayil und wieder Adhonay Soares da Silva sind absolut sehenswert und machen aus dem Tableau ungebrochener Lebensfreude ein nuancenreiches Tanzschauspiel.

"Shades of Blue and White" beim Stuttgarter Ballett

Rocio Aleman und David Moore: rasant und ein Höhepunkt der Höhepunkte in „Blake Works I“ beim Stuttgarter Ballett. Foto: Roman Novitzky

Himmelblau sind hier die Kostüme wie die Stimmungslagen – frech-frivol und rasant-schnell wird sich dazu manchmal bewegt, sodass man von einem modernen Jenseitsentwurf sprechen könnte. Aber ist es überhaupt ein Garten Eden, den Forsythe da zeigen will? Immerhin mahnt keine Geste an die Sterblichkeit, die hier – wenn auch auf andere Art – ebenso überwunden scheint wie im „Königreich der Schatten“.

Mit einem euphorischen Pas de deux von Rocio Aleman und David Moore endet das Stück, als wäre es ein Paukenschlag. Genießt das Leben, so oder so! Das scheint uns Choreograf William Forsythe, genannt „Billy“ und auch „Bill“,  vehement hinterherzurufen.

Ab geht es also in die zweite Pause, die mit einem Sekt zum Programmheftlesen ihre Pointe finden kann.

"Shades of Blue and White" beim Stuttgarter Ballett

Scholz überall: Erst im Programmheft, dann auf der Bühne und auch als Schriftzug auf dem Sektglas in der Pause. So gesehen beim Stuttgarter Ballett. Foto: Ballett-Journal

Zufälligerweise – aber gibt es Zufall im Theater? – steht auf dem Sektglas auch noch der der Name der Weinimportfirma Scholz verzeichnet. Mit einem Scholz, nämlich mit einem Werk des Choreografen Uwe Scholz, der 2004 früh verstarb, geht es dann weiter, um den Abend angemessen prächtig zu beenden.

Die „Siebte Sinfonie“ ist die von Ludwig van Beethoven. Meinte Balanchine noch, man könne Beethoven nicht vertanzen (wiewohl dieser doch selbst explizite Ballett- und Tanzmusik komponierte), vermochte Scholz eine Einfühlung und eigenwillige Interpretation, die man nur als Höhenflug bezeichnen kann.

Das Stück stammt von 1991, Deutschland befand sich im Umbruch und Aufbruch, und wohin das mal führen sollte, war damals keineswegs allen klar. Die pathetische Musik Beethovens passt jedenfalls genau zu jenem etwas selbstrührigen Lebensthema, das damals gern angeschlagen wurde.

Scholz ersann dazu eine utopische Gesellschaft im neoklassischen Stil, die in viel Weiß, verquickt mit den deutschen Nationalfarben Schwarz-Rot-Gold sowie mit Grün und Braun, hervorragende Spagatkombinationen, Sprünge und Paartänze, aber auch komplizierte Schrittfolgen exerziert.

"Shades of Blue and White" beim Stuttgarter Ballett

Die „Siebte Sinfonie“ von Beethoven und Uwe Scholz berückt: Alicia Torronteras und Pryscilla Gallo im starken Spagatsprung. Foto vom Stuttgarter Ballett: Roman Novitzky

Der Eindruck von Leichtigkeit überwiegt auch hier. Wiewohl mitunter ein gleißend grelles weißes Licht wie ein heiliger Fleck – etwa eine moderne Version des Grals – auf der Bühne erscheint und dann von den Tänzern staunend umrundet wird.

Das Mysterium, das angebetet wird, ist es echt? Oder eine Verkaufslüge? Werden die arglosen Menschen hier auf der Bühne womöglich in ihr Unglück gelenkt?

Wir wissen es nicht. Scholz wusste es auch nicht. Aber er hatte, wie jeder hochbegabte Zeitgenosse, so seine Ahnungen.

Sein Esprit und sein Gespür für Spiritualität kommen hinzu.

"Shades of Blue and White" beim Stuttgarter Ballett

Die „Siebte Sinfonie“ von Beethoven mit einem Paartanz von Uwe Scholz beim Stuttgarter Ballett, hier lebendig-elegant mit Miriam Kacerova und Martí Paixà. Foto: Roman Novitzky

Uwe Scholz war zuletzt selten nüchtern, der Alkohol und wohl auch andere Drogen waren sein großes Problem. Aber wenn man seine Stücke sieht, denkt man, er habe das Hirn eines Weltmeisters im Kopfrechnen gehabt oder zumindest sehr viel Talent für die Mathematik. Wohlgeordnet, hoch ästhetisch, ganz logisch sind die Körper in Bewegung angeordnet.

Im Januar 2016, also vor fast genau acht Jahren, zeigte das Stuttgarter Ballett schon einmal eine Premiere mit dieser „Siebten Sinfonie“ (zur Rezension von 2016 geht es hier).

Damals wurde sie auch mit einem Forsythe-Werk zusammen präsentiert und stand ebenfalls als Tüpfelchen auf dem „i“ am Ende des Programms. Was hat sich seither geändert, wie hat sich die Wirkung der „Siebten Sinfonie“ verändert?

Der utopische Charakter des Werkes hat zugenommen, denn Deutschland war in der Tat seit 1945 nicht soweit vom idealen Staat entfernt wie heute. Der getanzte Traum von Frieden und Verstehen, von Harmonie und Toleranz, den Scholz auf die Bühne brachte, er wirkt heute fast wie ein modernes Märchen.

"Shades of Blue and White" beim Stuttgarter Ballett

Und noch ein Pas de deux aus der gesegneten Hand von Uwe Scholz in „Siebte Sinfonie“ zur Beethoven-Musik beim Stuttgarter Ballett: mit Jason Reilly und Agnes Su, im Hintergrund außerdem Tanz in einem anderen Licht, aus einer anderen Sphäre. Foto: Roman Novitzky

Faszinierend ist, wann immer man ihn sieht, der Beginn des Stücks. Die Tanzpaare stehen da mit dem Rücken zu uns auf der Bühne, und es bleibt still, während die Herren die Damen synchron packen und erheben. Erst, wenn die Frauen oben sind, setzt die Musik von Beethoven mit einem Tusch ein.

Das Unerwartete mit der Erwartungshaltung zu koppeln, ist einer der großen Kniffe von Scholz. Oftmals suggerieren seine Tänze Wünsche, die sie dann auch prompt erfüllen – aber meist in anderer Hinsicht, als der Wünschende es sich vorstellte.

Das gilt für Männer- wie für Frauenrollen im Stück, das gilt aber auch für den raffinierten Umgang, den Scholz mit seiner Musik pflegte. Mal konterkariert er sie, mal illustriert er sie. Mal will er sie übertrumpfen, mal beugt er demütig vor ihr das Haupt.

Auch der Mann, der hier für den Menschen schlechthin steht, hat eine enorm breite Palette seines Könnens zu zeigen. Zärtlich, aber auch entschieden muss er sein, technisch virtuos, dennoch auch hingebungsvoll verträumt.

"Shades of Blue and White" beim Stuttgarter Ballett

Auch das Ensemble hat seine fulminanten Paar-Auftritte in der „Siebten Sinfonie“ von Uwe Scholz. Foto vom Stuttgarter Ballett: Roman Novitzky

Jason Reilly tanzte auch 2016 diesen männlichen Hauptpart, damals war Alicia Amatriain an seiner Seite. Heute übernahm Agnes Su diese Rolle – und verkörpert mit Reilly ein spannendes, lebendiges Paar. Am Ende stehen sie mit dem Ensemble wie Erleuchtete im hellen Licht da – und überlassen es dem Publikum, das zu deuten. Eine irgendwie jenseitig gemeinte Komponente ist aber nicht abzustreiten, auch wenn hier auch das Moderne, das genial Einfache als Stilform obsiegt. Wie eine Schar Unsterblicher behaupten sich Solisten und Corps auf der Bühne. Es ist ein wenig so, als hätte Scholz seinen eigenen Tod, der ihn mit nicht ganz 46 Jahren ereilte, schon erspürt.

Auch die Musik scheint zwischen Irdischem und Überirdischem vermitteln zu wollen. Leise lyrische Passagen wechseln mit pathetisch hervorgehobenen, stets frohgemut im Impetus, manchmal aber auch nachdenklich verharrend. Beethoven holte alles aus sich raus, als er diese Sinfonie 1811/1812 schrieb, und es ist, als würde er den Noten hörbar von Satz zu Satz mehr Engelsflügel  verleihen. Insgesamt steigert sich hier der Frühling zum Hochsommer, so könnte man es auch sagen: Die erwartungsfrohe Haltung darin erfüllt sich stets in weiterer Erwartung.

Im Stuttgarter Opernhaus aber lebte bei dieser Premiere jener Geist auf, der sich dort einst mit John Cranko seinen Olymp einrichtete. Bravi!
Gisela Sonnenburg / Anonymous

www.stuttgarter-ballett.de

"Shades of Blue and White" beim Stuttgarter Ballett

Weil sie so schön und erhaben sind, noch ein Rückblick auf die tanzenden weißen Schatten aus „La Bayadère“, zu sehen in „Shades of Blue and White“ beim Stuttgarter Ballett. Foto: Roman Novitzky

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