Umarmungen mit segensreichen Widerhaken Das Stuttgarter Ballett zeigt mit „Forsythe / Goecke / Scholz“ zwei Arbeiten von 1991 und eine Uraufführung: ein erfrischend kantiges Programm

Manche Ballettabende sind ein Antidepressivum in drei Phasen.

Erfrischend agil: Das Stuttgarter Ballett in „the second detail“ von William Forsythe im Abend „Forsythe / Goecke / Scholz“. Foto: Stuttgarter Ballett

Wenn man in einer melancholischen Stimmung ist, sollte man bloß nicht in eine klamottig-lustige Komödie gehen. Alle eindeutigen Witze erscheinen einem dann platt und primitiv – und deprimieren einen noch mehr, als man vielleicht sowieso schon ist. In einer Tragödie fühlt man sich in solchem Zustand hingegen zwar verstanden, allerdings wird das negative Weltbild dann noch derart bestätigt, dass der Trauerflor alles völlig zu verdunkeln vermag. Da sind gemischte Programme doch die beste Lösung! Wenn Heiterkeit und Spott, Wehmut und Sehnsucht, Tempo und Trauer, Liebe und Liebeskummer sich ohne allzu viel Scheu voreinander verbinden, können jene künstlerischen Gebilde entstehen, die einen wohl aus fast jedem Tief zu reißen vermögen. Der Dreiteiler „Forsythe / Goecke / Scholz“, den das Stuttgarter Ballett neu im Programm hat, hat genau dieses Potenzial: Man könnte von einem Antidepressivum in drei Phasen sprechen. Die Stücke ergänzen einander, liefern aber auch Kontraste. Eine munter-geometrische Kantigkeit ist ihnen gemeinsam – die meisten segensreichen Widerhaken hat dabei das mittlere Stück, von Marco Goecke kreiert und somit zur Uraufführung gebracht; es wird von den anderen beiden „umarmt“ bzw. umrahmt.

Den Anfang macht „the second detail“ („das zweite detail“) des heute 66-jährigen William Forsythe. Das implizierte erste Detail ist offenbar die zwanghafte Kleinschreibung des Titels, die im übrigen nicht von jedem Theater so akribisch eingehalten wird wie vom Stuttgarter Ballett. Was dann das zweite Detail sein soll, darüber lässt sich gar nicht streiten: Es ist Forsythes Spezialität, die Rezipienten mit absurd-witzigen Titeln und entsprechenden Symbolismen in die Irre zu leiten.

So auch hier. Zum aus Forsythe-Arbeiten sattsam bekannten Splash-Sound von Thom Willems, einer schrammelnden Syntheziser-Musik, werden in eng anliegenden Leotards – in einem blässlichen Hellblau von Yumiko Takeshima kreiert – die Beine immer wieder schmissig seitlich hochgeworfen. Bis in die Spagathöhen. Zackig muss das aussehen, fast roboterhaft, dennoch auch erfüllt mit sportiv-anmutiger Freude – und Lust an der puren Bewegung.

Manche Ballettabende sind ein Antidepressivum in drei Phasen.

Furios, aber lebendig und temperamentvoll, keineswegs statisch oder verhärtet: Das Stuttgarter Ballett mit Agnes Su im Kleidchen in „the second detail“ von William Forsythe. Foto: Stuttgarter Ballett

Die Solisten des Stuttgarter Balletts – allen voran Hyo-Jung Kang, Jason Reilly, Elisa Badenes und vor allem Agnes Su im Kleidchen – legen das bravourös hin. Man hätte fast nicht gedacht, dass ihnen der schnittige, schräg-geometrische Forsythe-Stil aktuell derart gut gelingt. Und: Das Stuttgarter Ballett tanzt den Forsythe weniger orthodox, weniger klinisch-steril, weniger kalt als beispielsweise das Dresdner Semperoper Ballett. Mir gefällt der Spielraum für individuelle Wildheit und Ausgelassenheit lassende Interpretationsstil der Stuttgarter aber sehr gut; er wirkt noch erfrischender und „künstlerischer“ als die etwas sture Werktreue der Dresdner.

Forsythe ist ja eher ein Anti-Klassiker als eben nur ein irgendein Moderner unter den bedeutenden Choreografen. Alle noch so avantgardistisch anmutenden Ideen in seinem Bewegungsvokabular sind direkt oder indirekt eine Antwort auf den klassischen Tanz. Mehr noch: Vieles mutet an wie eine implizite Beantwortung der strengen, auf Geradheit abzielenden neoklassischen Schule eines George Balanchine.

In „the second detail“ steht darum zu Beginn ein Schild vorn an der Rampe: „THE“ steht drauf. Einfach nur „DAS“. Damit man auch fleißig darauf wartet, dass der Satz vollendet wird oder wenigstens der Rest des kryptischen Titels erscheint, ist das Schild auch nicht eben klein gehalten.

Aber nix da! Kein „SECOND“, kein „DETAIL“. Forsythe narrt uns viel zu gerne, leitet uns anhand unserer eingefahrenen Erwartungshaltungen und Gewohnheiten ins Nichts. Dieses Schmunzeln-auch-über-sich-selbst, das er so immer wieder schafft, gehört zu seinen Errungenschaften im Tanz. Außer Merce Cunningham in seinem Frühwerk hat das kaum ein Guru des zeitgenössischen Tanzens so sehr kultiviert.

Manche Ballettabende sind ein Antidepressivum in drei Phasen.

Können es sich leisten zu lachen: Die Tänzerinnen und Tänzer vom Stuttgarter Ballett nach „the second detail“ von William Forsythe am Abend der Premiere von „Forsythe / Goecke / Scholz“ am 29. Januar 2016. Foto. Gisela Sonnenburg

Vor allem der Alleskönner unter den Stuttgarter Primoballerini, Jason Reilly, vermag es entsprechend, Selbstironie, Publikumsprovokation und Muskelkraft auf einen Nenner zu bringen. Phänomenal! Da ist mal ein furioser Sprung das Thema, mal eine hektisch zu absolvierende, knifflige Kombination. Das Sich-Abrackern nach allen Regeln der Kunst gehört bei Forsythe nun mal dazu: Und immer wieder werden die geraden Linien von betonter Lässigkeit durchbrochen. Da latschen die Tänzer auch mal nonchalant über die Bühne, so, als seien sie bei einer Probe und müssten erst mal Kraft tanken für die nächste Phrase. Aber hoppla, da kommt sie schon!

Auch der Spitzentanz erfährt hier eine neue Dimension, wird als brillanzverheißendes Werkzeug immer wieder demonstrativ vorgeführt. Die Damen haben mächtig damit zu tun! Wenn dann auch noch in Windeseile ein vertikaler Spagat an der Hand eines Kavaliers vollführt wird, dann ist das eigentlich jedes Mal ein Extra-Bravo wert.

Hinzu kommt eine an Unwahrscheinlichkeit grenzende, delikate Synchronizität in der Gruppe. Die Tänzerinnen und Tänzer fühlen ihre Choreografie offenbar mit jedem Pulsschlag, sie ist ihnen unter die Haut gegangen, sie atmen sie. Darum nimmt man sie ihnen auch so ab, und eigentlich will man noch nicht mal wissen, wie viele nervenzerreibende Proben hierzu notwendig waren. Sicher nicht ganz wenige. Die Mühe lohnte!

Einstudiert haben Noah Gelber und Stefanie Arndt das Forsythe-Stück, und ganz offensichtlich stand ihnen der Stuttgarter Ballettmeister Filip Barankiewicz ratsam zur Seite, indem er half, die jeweiligen Stärken der Ballerinen und Ballerini herauszufiltern und für die Umsetzung der Choreografie nutzbar zu machen. Wenn so etwas gut funktioniert, ist es überhaupt nicht nötig, ein vollendetes Werk weiter zu entwickeln – work in progress ist halt manchmal auch eine Ausrede dafür, dass eine aktuelle Besetzung nicht so gut zum Urstück passt.

Chainés, Coups de pied und rudernde Armbewegungen verweisen hier im Kontext sogar auf den Stil von Marco Goecke, der sicher von Forsythe geprägt ist.

So sieht man an einem Abend den Generationenzusammenhang in der Welt der Choreografie, mit Stuttgarter Verortung; und alle drei Tanzschöpfer des Abends „Forsythe / Goecke / Scholz“ waren bzw. sind Hauschoreografen beim Stuttgarter Ballett.

Manche Ballettabende sind ein Antidepressivum in drei Phasen.

Und noch einmal bitte zum Verbeugen: Das Publikum kennt kein Ende… Das Stuttgarter Ballett nach „the second detail“ beim Applaus. Foto: Gisela Sonnenburg

Wenn dann sechs Tänzer, die in voller Blüte stehen, simple und doch verzwickte Tendus équartés so synchron zeigen, als seien der Sixpack aus Jungs ein einziger Organismus, dann kann einem schon das Herz aufgehen, zumal nach all den virtuosen Sprung- und Drehmanövern in der Choreo.

Dennoch möchte ich zu bedenken geben: Man kann Forsythes Stil, wenn er so gut getanzt wird wie hier, immer als brillant, raffiniert und witzig, als hintergründig und auch geistreich empfinden. Dennoch hat seine Herangehensweise auch etwas von Danse pour la Danse. Tanz für den Tanz.

Und wenn man streng sein will, kann man das als stupide, dekadent und oberflächlich, als unmoralisch oder gefühlskalt werten. Inhaltsloser Tanz sucht sich nämlich automatisch Themen, aber die geraten dann leicht in die Verflachung.

Modernes Ballett als akrobatische Showeffekthascherei – das ist die Gefahr. Die übergroße Vergötterung, zu der „Bill“ Forsythes Anhänger neigen (früher nannte er sich „Billy“, seit einigen Jahren nur noch „Bill“), sollte angesichts der oftmals essenzlos wirkenden Konstruktion seiner Ballette relativiert werden. William Forsythe ist fraglos ein bedeutender Künstler – aber ihn zum Nonplusultra der Tanzkunst zu erheben, ist schlicht verblendet.

Manche Ballettabende sind ein Antidepressivum in drei Phasen.

Nehmen den Dank vom Publikum gern an: Die Tänzer vom Stuttgarter Ballett von „the second detail“ nach dem Stück beim Applaus im Stuttgarter Opernhaus. Foto: Gisela Sonnenburg

Auch Marco Goecke ist ganz sicher keiner, dem man das Prädikat „in jeder Hinsicht genial“ verleihen würde. Goecke hat aber einen ganz eigenen, leicht wiedererkennbaren Stil entwickelt, der seine Stücke zu Teilen einer fiktiven seriellen Arbeit macht. Ich habe die mal scherzhaft „Die Unterdrückten“ genannt, weil die heutige Arbeitswelt mit ihrer kraftraubenden, persönlichkeitsinfiltrierenden Wirkung darin sehr präsent ist. Immer tauchen bestimmte Hand- und Armbewegungen bei Goecke als Leitmotive auf, die an Gesten der Fließbandarbeit erinnern. Ins Areal der Büroangestellten übertragen, gerät selbst der Gedankenaustausch bei einem Meeting zu solchen gestischen Automatismen. Das ist furios anzusehen, ermüdet indes den Blick und den Geist, wenn dem nichts entgegen gesetzt wird.

Genau das aber ist Goecke in seiner jüngsten Arbeit fraglos gelungen. „Lucid Dream“, der „Tagtraum“, setzt rasant schlängelnde Armbewegungen, elegische Rückenbeugungen und orientalisch inspirierte, vibrierende, auch schwingende Hüftmanöver sowie fast intime Momente gegen die eckig-skurrilen, hitzigen Fabrikbewegungen.

Das macht Sinn: Die Romantik bricht ein in die Avantgarde, als Traum, als Sehnsuchtsausdruck, als nostalgische, aber überlebensnotwendige Utopie. Da ist auf einmal Raum bei Goecke für ein wunderschönes, modern übersteigertes, aber klassisch-lyrisch inspiriertes Cambré; Arme, Schultern und Rückenmuskulatur dürfen sich auf einmal miteinander zu einem organischen Bewegungsapparat vereinen – und in Schönheit geradezu baden.

Manche Ballettabende sind ein Antidepressivum in drei Phasen.

Der Choreograf Marco Goecke mit Dackel auf den Stufen zum Stuttgarter Opernhaus. Ob Goecke seinen wachsamen Hund „Gustav“ nach Gustav Mahler oder „Gustaf“ nach Gustaf Gründgens nannte, ist unbekannt. Fest steht, dass Herrchen das Hundchen nicht allein zuhause lässt, wenn eine Premiere ansteht. Foto: Gisela Sonnenburg

Andere Choreografen werden härter und abgestumpfter, wenn sie älter werden, Goecke hingegen wird sensibler. Das tut gut! Der bald 44-Jährige ist endlich insofern gereift, als ihm Penetranz und Monotonie, Absurdität und Aberwitz nicht mehr alles sind. Zumindest in „Lucid Dream“ hat er eine Vorgehensweise gefunden, die absolut überzeugt und die seinen Tanz als zärtlich präsentiertes, aber eben auch authentisches Kind unserer Zeit erscheinen lässt.

Nun hat er sich musikalisch aber auch einen choreografisch bereits vielfach erprobten Leckerbissen dafür ausgesucht: das Adagio der Zehnten Sinfonie von Gustav Mahler. Allein John Neumeier hat schon zwei Mal zu diesem Musikwunderstück voll Sehnsucht und Fügung choreografiert, erstmals als Teil seines 1980 uraufgeführten Werks „Lieb und Leid und Welt und Traum“, zum zweiten Mal 2011 als Teil seines Gustav-Mahler-Dramas „Purgatorio“. Und schon John Cranko schuf 1973 sein letztes Ballett „Spuren“ zu diesem Adagio – für Cranko wie für den Komponisten wurde es rückblickend ein Abschied vom Leben.

Mahler, der sehr abergläubisch war, rang beim Komponieren zudem mit der Angst vor dem Tod. Er hatte ja, eben aus dem Aberglauben heraus, wie Beethoven während der Komposition an der Zehnten zu versterben, seine eigentliche Zehnte nur „Das Lied der Erde“ genannt. Ohne Nummerierung. Faktisch ist „Das Lied der Erde“ aber seine zehnte Sinfonie, und das Adagio entstammt somit faktisch der elften Sinfonie von Gustav Mahler, die allerdings nie angezählt wurde.

Fakt ist aber auch, dass Mahler (wie Beethoven) tatsächlich während des Erschaffens seiner so genannten Zehnten starb, und er stellte nur diesen einen Satz, das Adagio, eigenhändig fertig.

Es ist ein berührend melancholisches, wagnerianisch-tragisch fühlendes, dennoch punktuell auch mozartianisch-melodiöses Werk. Teils hat es Kammermusik-Charakter, teils einen cineastischen Sog. Andere Sinfonien Mahlers werden darin zitiert, die dritte und die vierte beispielsweise, aber vor allem ergibt das kontrapunktisch angelegte Streichergebälk dem Ganzen eine unnachahmlich schwebende Aura. Hoffnung, Vision, Schmerz, auch Angst scheinen sich darin zu mischen – es ist ein dem Traum vom Leben ohne konsumistische Hintergedanken geweihtes Werk.

Spielte man es früher vor allem breit und ausladend, lässt Gastdirigent Kevin Rhodes sich auf die hellen, melodiereichen Stränge ein. Gerade diese Helligkeit in der Musik betont kontrastierend die wie immer von Goecke verordnete Düsternis der Bühne.

OHNE VORSPIEL GEHT ES LOS

„Lucid Dream“ beginnt auf den ersten Taktschlag mit einem herein laufenden Tänzer, dem bald ein zweiter folgt. Nackter Oberkörper, Anzughose, Schläppchen – und eine gefasste, neutrale Miene dazu sind ihr Outfit. Aber statt lethargisch in der Wehmut der langgezogenen Bögen der Musik zu schwelgen, bewegen sie sich rasch und schnellläufig über das Metrum hinweg. Manchmal ertönt ein lautes, hartes Atmen von ihnen.

Und dann stehen da, mit einem Mal, zehn männliche Tänzer, identisch gekleidet, im Équarté, mit dem Rücken im Halbprofil zu uns und mit ihren verhalten erwartungsfrohen Blicken nach hinten rechts gewandt, ganz so, als kämen von dort unhörbare etwaige Chefanordnungen.

Wenn sie gemeinsam laut ausatmen, klingt das wie eine Windmaschine.

Ihre Armarbeit greift das Thema Luft und Natur auf, Flügelbewegungen entstehen. Eckig sind sie, akkurat und wie mathematisch abgemessen. Das ist keine simple lyrische Schwärmerei. Aber im Kontrast zur tief schwelgerischen Musik ergibt das eine höchst reizvolle Spannung.

Man kann diesen Effekt – reduzierte, moderne Tanzbewegung zu einer prächtigen, schwelgerischen Musik – übrigens auch fein mit instrumentalen Strecken von Richard Wagner erzielen. Die Performerin Michèle Murray hat das schon gemacht, zum „Lohengrin“-Vorspiel, aber auch der „Tristan“-Akkord wäre dafür sehr geeignet. Es ist also nicht so, dass Goecke hier nun das Ei des Kolumbus erfunden hätte. Aber er nutzt eine Technik der Gegenüberstellung von Musik und Tanz, die ein durchaus hohes Karatgewicht hat. Und: Er verspielt kein Jota davon, vielmehr beherrscht er vollauf die choreografische Ausreizung dessen. Das ist wunderbar anzusehen: gleichermaßen herzergreifend wie auch all die Romantik hinterfragend.

Die flinken, äußerste Motilität verlangenden Handgesten – typisch für die Formensprache von Marco Goecke – gewinnen vor dem opulenten musikalischen Hintergrund an inhaltlicher Präzision. Sie grenzen sich sozusagen ab vom Abstrakten, gehen hin zum Konkreten. Man muss an Masturbationsübungen denken, und solche werden den zeitgenössischen Karrieristen ja in der Tat in geistiger Hinsicht häufig genug abverlangt.

DIE FINDUNG VON SPRACHE

Die Firma ist alles – und du bist ein Nichts. Streng dich an, um zu dienen – aber zu mehr als zum Überleben wird es im Grunde nicht ausreichen, was man dir gibt. Denn du bist gar nichts, aber die Konzerne sind alles.

Dieses Credo moderner Motivationsstrategien ist ein Unterdrückungsmuster, das Goecke immer wieder anprangert. Seine Männchen, die – wieder wunderbar synchron – sich gegen den Schmerz wehren, indem sie in zuckende, zappelnde Geometriemuster verfallen, sind Produkte einer Arbeits- und Gesellschaftswelt, die auf Rationalisierung und Entmenschlichung abstellt. Aber weil hier der Glaube an Befreiung noch nicht ganz erloschen ist, und weil die Bemühungen um Individualität hier und da urplötzlich durchbrechen, hat das Ganze sehr viel mit uns zu tun. Mit uns, die wir an die Kunst glauben – und nicht nur ans Geld.

„Heh“, kommt manchmal ein gestammelter, gerufener Laut von den Tänzern, ein Hilferuf auf avantgardistisch.

„Haaah!“ Ein kurzes Gebrüll erinnert an einen martialischen Schlachtruf: Auf in den Kampf gegen die Konkurrenz, scheint er zu besagen, zugleich aber steckt auch der wohltuende Widerhaken des Widerstands gegen das reine Mitläufertum in diesem so gar nicht zur körperlichen Geschmeidigkeit der Choreografie passenden Urlaut.

Die Findung von Sprache ist für mich stets besonders spannend im Ballett. Man sollte hier nicht von Tanztheater sprechen, aber die Einbringung menschlicher Laute bedeutet eine Erweiterung des Horizonts, eine Öffnung der Kunstsparte, die bestimmten Szenen einfach nur wohl tut. Das gilt für Gruppenszenen ebenso wie für Soloparts.

Dem solistischen Leiden stehen in „Lucid Dream“ alsbald die sich abarbeitenden Oberkörper eines Quartetts entgegen. Ihre Hüften führen dabei ein Eigenleben, vibrieren isoliert, verströmen sexuelle Spannung – und eine energetische Bereitschaft zu fast allem.

Manche Ballettabende sind ein Antidepressivum in drei Phasen.

Die Tänzer und der Choreograf beim Applaus anlässlich der Uraufführung von „Lucid Dream“: Das Stuttgarter Ballett und Marco Goecke dürfen sich freuen. Foto: Gisela Sonnenburg

Wenn dann noch vier Paare zu einem achtköpfigen Corps werden, hat das – ohne, dass hier eine Fahne geschwungen würde – schon beinahe etwas von einem revolutionärem Akt, denn die Kraft der Masse, die so entsteht, hat keine berechenbare Zielrichtung mehr.

Schnell peitschende Armbewegungen machen aber deutlich, wie lebensgefährlich das Ausscheren aus dem Mitläufertum, aus dem Mainstream, zu sein scheint. Hier wird nicht gerudert, um Boss zu werden. Hier regiert die reine Notwehr!

Am schönsten aber sind die zumeist kurzen, besonders intensiven Paartänze in „Lucid Dream“. So zarte Momente zu zweit sind mit solcher Poesie meines Wissens nach bei Goecke noch nie zu sehen gewesen

Da kommt das Hecheln endlich auch mal aus einem anderen Kontext als aus dem der Anstrengungen der Arbeitswelt. Sehr sexy.

Mit raumgreifenden Schritten darf dann auch wieder im Corps gemeinsam geatmet werden. Sechs schöne, halbnackte Männer wirken endlich auch nicht nur unerotisch, wiewohl das Diktum der Anpassung und Entindividualisierung wie ein Menetekel über ihnen schwebt. Fast könnte man an Pier Paolo Pasolini denken – aber das ist vielleicht mehr eine Anregung als eine Interpretation.

Wenn sich ein Tänzer dann noch die Zeigefinger über Kreuz in die Mundhöhle steckt und sich keuchend die Backen auseinander zieht, ist aber klar, dass hier ein durchaus masochistisch-quälerischer Existenzialismus gemeint ist.

Dagegen bilden die lyrischen Cambré-Posen, die bald folgen, zugleich eine Erholung wie auch den vielleicht unerreichbaren, dennoch zugkräftig wirksamen Tagtraum aus dem Titel.

Mit weiteren Soli und Pas de deux strebt das Stück seinem Höhepunkt zu. Ein Prospekt wird am Bühnenhorizont herunter gelassen, er zeigt eine schwarz-weiße, florale Ornamentik (Ausstattung: Michaela Springer).

Die Natur, da ist sie wieder, als Zitat, man hat sie als Tänzer ja ohnehin immer im Rücken – und hier wird sie als papierene Trennwand zur Zivilisation der Bühne durchfetzt: indem drei Tänzer durch sie hindurchbrechen. Schwupp – da sind sie, und die somit entstandenden wehenden Schlitze im Prospekt wirken sogar noch irgendwie poetisch.

NEU BEI GOECKE: POESIE

All das ist wild und auffällig. Und gleicht gar nicht mehr den in sich geschlossenen, durchgestylt-nervösen Miniaturwelten, die Goecke sonst oft serviert. Modischer Autismus ade – es wird offenbar Zeit für eine frische Weltanschauung, auch für Marco Goecke.

Und tatsächlich – als Dame darf man sich dafür bedanken – erscheint genau jetzt die Ballerina, die hier allein das weibliche Prinzip verkörpert: Mit sanften, aber durchaus zielbewussten Bewegungen, die puristisch, aber nicht verkrüppelt wirken, entert Agnes Su die Bühne.

Die gebürtige Kalifornierin mit asiatischen Wurzeln ist blutjung, ein Mitglied des Corps de ballet und tanzt seit 2013 im Stuttgarter Ballett. Sie kommt von keiner weltberühmten Schule, erhielt aber seit 2010 in der John Cranko Schule in Stuttgart den letzten, compagnieträchtigen Schliff. Ihre Vielseitigkeit, zumal in modernen choreografischen Partien, scheint immens zu sein. Auch in Forsythes „the second detail“ gefällt sie, dort aber mit stürmisch-temperamentvollen Bewegungen: Sie ist darin das Mädchen, das statt des Trikots ein asymmetrisches, eine Schulter frei lassendes, zugleich  blendend weißes Gewand tragen darf, das die Unschuld eines Strandkleides verströmt.

Manche Ballettabende sind ein Antidepressivum in drei Phasen.

„Lucid Dream“ – hier der zarte, dennoch auch modern-nervöse Pas de deux, den Marco Goecke für Agnes Su und Constantine Allen vom Stuttgarter Ballett choreografierte. Foto: Stuttgarter Ballett

Goecke lässt sie im hautfarbenen Oberteil zur Anzughose auftreten und auf den ersten Blick ein angepasstes Element der Männer- und Arbeitswelt sein. Aber: Von Beginn an verweigert diese Frau, vielleicht auch aus einem Gar-nicht-anders-Können-heraus, den rein eckigen, narzisstischen Gestus der Jungs.

Sie ist für das Partnerschaftliche, das Kommunikative, das Anziehend-Schmeichelnde zuständig. Warum auch nicht? Ein Pas de deux mit einem Tänzer entspinnt sich, der gleich in die Vollen geht. Zumindest für Goeckes Verhältnisse, denn die üblichen Hebefiguren und geführten Arabesken passen selbstredend gar nicht zu seinem stilistischen Webmuster. Es werden neue Wege des Beieinanderseins gefunden: Hektisch übt das Paar mit flatternd-robotisierten Armbewegungen und gegenseitigen Berührungen die Beziehung. Ja, auch das kann gehen.

Die Momente von Nähe, die da entstehen, sind ungeheuer sympathisch, überhaupt gar nicht gekünstelt, radikal echt – und das ist im zeitgenössischen Ballett gar nicht mal so einfach hinzukriegen. Chapeau!

Sogar eine Replik auf die berühmt-berüchtigte, filmische Liebespaar-Kreuzigungs-Pose am Bug der Titanic gelingt, ohne Kitschigkeit, ohne falsche Sentimentalität, aber auch nicht zu unterkühlt.

Nun sind solche Momente der Seligkeit hier knapp bemessen, und fast muss man rätseln, ob sie auch der Tanzrealität oder nur der Tanztraumzeit zuzurechnen sind. „Lucid Dream“, „Tagtraum“: der Titel hat schon seine Berechtigung.

Man kann „Lucid Dream“ auch mit „Wachtraum“ übersetzen und somit stärker in die psychologische Ecke rücken. Am inhaltlichen Bezug der Tänzer zueinander ändert das nichts. Denn eine eitle Nabelschau ist gerade dieses Ballett nun eben nicht. Wenn man die beiden Wörter analysierend einzeln betrachtet, ergibt sich Folgendes: „Lucid“ heißt „klar, wach, präzise“, während „dream“ nur für „Traum“ steht. Ein „klarer“, also deutlicher und als solcher verdeutlichter Traum deutet auf den starken Willen des Träumers – der hypnotisch-suggestive Aspekt darf dabei ruhig zu Gunsten der bewussten Entscheidung für eine bestimmte Sache entfallen. Darum passt „Tagtraum“ meiner Ansicht nach besser als „Wachtraum“.

Die Philosophie prägte den Begriff der „inneren Notwendigkeit“, und diese fällt einem ein, wenn man sich anschaut, wie die männliche, unterdrückte Meute in „Lucid Dream“ mit ihren Emotionen und Wünschen umgeht. Nur unter äußerstem Druck formulieren sie sich, aber da sie tatsächlich ständig unter einem solchen Druck stehen, trauen sie sich aus dieser inneren Not heraus auch zu träumen. Alles zu riskieren. Sich dem Gegensätzlichen auszuliefern. Sich dem Fremden anheim zu stellen und diese Ergebung zu genießen.

Das ist nun nicht die übliche Siegermentalität der westlichen und auch nicht der islamischen Gesellschaften. Sondern das hebt sich wohltuend vom Immergleichen ab.

Manche Ballettabende sind ein Antidepressivum in drei Phasen.

Beglücken mit einer Erweiterung des Stils von Marco Goecke um lyrisch-gebrochene Phrasen: Die Tänzer der Uraufführung von „Lucid Dream“ vom Stuttgarter Ballett beim Applaus. Foto: Gisela Sonnenburg

Und wenn dann die Gruppe erneut zappelt und fuchtelt und in perfekter Synchronizität (Choreografische Assistenz: Rolando D’Alesio) ihren Alltag durchexerzieren muss, so beinhaltet ihr Auseinandertrippeln doch eine Note der Feinfühligkeit, die sie vor dem Auftreten der Frau hier nicht an sich hatte. Ach wäre es doch so, würden die Männer doch mehr von uns Frauen lernen! Auch das ein „Lucid Dream“…

Noch ein Solo widerstrebt der allgemeinen Betriebsamkeit, noch einmal wird sich besonnen auf das, was der Mensch immer hat und haben wird, sein Ur-Innerstes, als Rüstzeug gegen alle Unbill.

Die Unterarme werden jetzt wichtig, sie sind nun die tätigen, ausübenden Körperteile – und wie zu Beginn des Stücks beginnen nach dieser irgendwie auch fleißig wirkenden Einlage die Tänzer wieder damit, über die Musik hinwegzulaufen.

Ein Einzelner kommt dann wie ein wandelndes Kraftwerk von links nach rechts, marschierend, tatkräftig, und mit ebensolcher Tatkraft marschiert er alsbald – rückwärts.

Ein Sinnbild, das sich zurecht wiederholen darf.

In Frozen Positions, die sich jedes Mal mit Vehemenz lösen, wird auf die sich sammelnde Sturmkraft im Menschen aufmerksam gemacht. Es ist ja richtig: Ein Traum oder auch viele Träume ergeben noch lange keine faktische Weltverbesserung. Da gehört die Tat dazu.

Und noch eine nostalgische, wenn auch modern gebrochene Zitierung erlaubt einen Traum: Die vor dem Unterleib gekreuzten Arme eines Mannes mit lang ausgestreckten Fingern erinnern an „Schwanensee“, und die Kraft, mit der diese Bewegung betont und ausgestellt wird, lässt hoffen, dass die Vergangenheit sich nicht nur mit negativen Aspekten in der Zukunft finden lassen wird.

Constantine Allen, Özken Ayik, Matteo Crockard-Villa, Alexander Mc Gowan, Roman Novitzky, Ludovico Pace, Robert Robinson, Cédric Rupp, Adam Russell-Jones und Louis Stiens haben, neben der schon belobigten Agnes Su, ihre respektvolle Erwähnung verdient. Sie haben sich von Goecke und D’Alesio zur Höchstform treiben lassen, wow!

Es scheint, Reid Anderson hat mit seiner intuitiven Einschätzung von Marco Goecke als Hauschoreograf des Stuttgarter Balletts doch Recht behalten. Danke!

Vollendet wird die Umarmung der Avantgarde durch die Moderne mit einem sehr beliebten, aber nur scheinbar durch und durch heiteren Stück des 2004 früh verstorbenen Uwe Scholz. Die „Siebte Sinfonie“, die sich auf die lieblich-dramatisch-bewegte siebente Sinfonie von Ludwig von Beethoven bezieht, wurde, wie das Forsythe-Stück „the second detail“ 1991 uraufgeführt.

Als Gegensatz zu Goeckes Stil krallen sich hier die Widerhaken des Superästhetizismus, des hemmungslosen Bekenntnisses von Uwe Scholz zum Schönen-Reinen-Guten ins Fleisch des zeitgenössischen Tanzes.

Wie aus Porzellan geschaffen wirken die Solisten und das Ensemble – filigran und graziös, formvollendet und mit exzessiver Schwerelosigkeit suchen sie das Publikum zu bestechen. Das gelingt – weil das Stuttgarter Ballett sich auf die wirklich schwierigen, kleinteiligen Details der Choreografie vollends einlässt.

Manche Ballettabende sind ein Antidepressivum in drei Phasen.

Uwe Scholz schuf die „Siebte Sinfonie“ nach der Beethoven-Klangdichtung – ein beliebtes, aber nicht nur heiteres Werk. Foto: Stuttgarter Ballett

Man könnte derweil, um das Wortspiel fortzuführen, hier das zweite Detail suchen, das William Forsythe zu Beginn des Abends im Titel versprach. Denn so detailfreudig – vor allem im Bereich der Beinarbeit – wie diese „Siebte Sinfonie“ sind nur wenige moderne Ballette.

Interessant ist dann auch der Umgang mit der Musik. Wenn der Vorhang hoch geht, stehen einige Paare mit dem Rücken zu uns bereit. Noch vor Musikbeginn werden die Damen von den Herren hoch gehoben, und erst wenn sie oben sind, wumm, setzt Beethovens Musik wie mit einem kurzen Tusch ein. Ein fulminanter, höchst origineller Einstieg!

Die A-Dur-Tonart dringt aber auch durch Mark und Bein. A wie Alarm, ist man versucht zu sagen. Dem gestrichenen Hauptton folgt, leise und zart, eine aufstrebende Melodie, die erneut vom Hauptton unterbrochen wird. Erst bei mehrfachen Anläufen, also Wiederholungen des Themas, setzt sich die Melodie durch – und beherrscht fortan den ersten Satz. Da können sich die Bässe noch so wehren, sie sind hier vorerst zur Erfolglosigkeit verdammt und verharren im untermalenden Bereich.

Gruppen aus Paaren bilden sich, drei Quadrillen, also drei mal vier Paare, jagen, wie kleine Vogelschwärme geordnet, über die Bühne.

Plastischer könnte man die frühlingshafte Melodie, um die ein Joseph Haydn den fast vierzig Jahre später geborenen Beethoven ganz sicher beneidet hätte, wohl kaum in Szene setzen.

Manche Ballettabende sind ein Antidepressivum in drei Phasen.

Alicia Amatriain und Jason Reilly brillieren in „Siebte Sinfonie“ von Uwe Scholz beim Stuttgarter Ballett. Foto: Stuttgarter Ballett

Und dann die entzückend-starke Alicia Amatriain und der geschmeidig-dynamische Jason Reilly!

Die beiden, als Hauptpaar des ganzen Stücks agierend, verkeilen sich sozusagen ineinander, ohne, dass sie sich mehr als unbedingt nötig berühren.

Er hält ihre Arabesken, er lässt sie affenschnell unter seinen Händen pirouettieren, er hebt sie, als habe sie praktisch kein Gewicht – und auch in synchron zu tanzenden Sprüngen kann den beiden beim besten Willen kein Vorwurf gemacht werden. Dabei würde man bei einer so verwirbelten Hin-und-her-Choreografie immer etwas Nachsicht dafür aufbringen, wenn mal ein wenig gewackelt oder sich ganz leicht verhaspelt würde. So etwas kann und darf, natürlich nur in Maßen, auch in einer First-class-company mal passieren, denn es sind Menschen und keine dressierten Apparate, die da auf der Bühne stehen. Mehr noch: Fehlerfreiheit in der Technik ist nicht das wichtigste.

Die Stimmung, der Ausdruck, die Inhalte, die die Künstler transportieren, sollten immer wichtiger sein als die Technik, und letztere sollte immer dem ersteren dienen. Eben dies ist hier der Fall: Die hehre Stimmung des Stücks überträgt sich mit jeder noch fummelig kleinen Bewegung.

Alicia Amatriain hat dann ein Solo, das sie zur Verkörperung der Muse des ganzen Abends macht. Gestochen saubere Piqué-Arabesken und ein feines Getrippel auf Spitzenschuhen macht sie zur majestätisch-erotischen Exzellenz.

Manche Ballettabende sind ein Antidepressivum in drei Phasen.

Das 24-köpfige Ensemble, das die „Siebte Sinfonie“ tanzt, nimmt den Schlussapplaus an. So beim Stuttgarter Ballett nach der Premiere von „Forsythe / Goecke / Scholz“. Foto: Gisela Sonnenburg

Dann springen fünf Herren synchron über die Bühne, äußerst markant, bevor Alicia eine kurze Reprise ihres großen Solos vornimmt. Eine bezaubernde Idee von Scholz: Das ist wie bei einem Sommerspaziergang, wenn einem ein Blütenduft, der bereits Vergangenheit ist, nochmals in die Nase steigt. Weil die gleiche Pflanze erneut am Wegesrand wächst.

Jason Reilly darf sich indes erst mit drei Damen, dann mit dem ganzen Damen-Corps auf einmal vergnügen. Der Held! Hätte der Frühling ein männliches Gesicht, es wäre das dieses vor Freude strahlende von Jason.

Und während die Mädchenschar sich weiter vergnügt, rast eine Horde junger Männer mit großen Spagatsprüngen durch ihre Gruppe. Schnittig – und unterschwellig fast gefährlich, so funkelnd. Aggressiv und kraftvoll sind die Männer, umso zarter und holder die Mädchen.

Prompt ziehen die Herren die Damen dann im Spagat über den Boden. Sie schleifen sie von links nach rechts ins Wiesenbett, mutmaße ich mal. Sie sind eine so nette und leichte Beute, die verliebten jungen Frauen!

Aber es geht weiter, der nächste Satz beginnt. Alicia und Jason haben in der Premierenbesetzung auch hier allerhand miteinander zu tun. Ganz langsam hebt Alicia unter seiner Obhut ihren Fuß ins Passé, eine Bewegung, die später von zwei anderen Paaren variiert wird: Langsam, sehr langsam senken die Damen ihren gestreckten Fuß, aus dem Passé en pointe herab zum Boden. Diese simple Umkehrung einer bereits zelebrierten Bewegung bewirkt einen Aha-Effekt, macht nachdenklich und munter zugleich. Es ist offenbar wirklich Frühling!

Die Damen werden denn auch umworben und geschultert, flach gelegt und in bildschönen Posen gehalten. Christopher Wheeldon und auch Martin Schläpfer wurden offenbar angeregt von diesem Werk von Uwe Scholz.

Es sind Liebesspiele, die Uwe Scholz da kreiert hat, aber er präsentiert sie ohne Süßlichkeit, ohne Niedlichkeit, ohne allzu große Deutlichkeit. Und: In der neoklassizistisch-strengen Form sucht er eine Art von Ewigkeit, ähnlich, wie Beethoven sie in seinen klassischen Akkorden suchte.

Manche Ballettabende sind ein Antidepressivum in drei Phasen.

Und noch ein Riesenapplaus für das Stuttgarter Ballett, mit Maestro Kevin Rhodes, nach der „Siebten Sinfonie“ von Uwe Scholz. Foto: Gisela Sonnenburg

Insofern ist das eben eine perfekte Packung: Scholz-Beethoven!

Ein Lichtkreis, der im Laufe dieses Stücks zwei Mal auf der Bühne erscheint, gibt denn auch jedes Mal Anlass zur Andacht. Im Halbkreis, Hand in Hand, scharen sich Tänzer um ihn – abwartend und das Wunder des Lichts bestaunend. Das Frühlingsopfer ist zwar nicht mehr notwendig, es handelt sich ja um keine Urhorde hier. Aber die Anbetung des Lichts hat spirituelle, sakrale, bedächtige Momente.

Überhaupt regiert hier nicht nur der operettenhafte Frohsinn, wie man, eingedenk George Balanchines, meinen könnte. Vielmehr gibt es immer wieder Passagen von fast ratlos-trauriger Bodenlosigkeit, und Alicia Amatriain und Jason Reilly gelingt es fabelhaft, das Sich-Einschleichen des unaussprechlichen Unglücks in den Frühling des Lebens darzustellen.

Da hat eine Adagio-Passage auf einmal eine wunderlich-moderne Anmutung, denn all die selbstvergessene Sicherheit, die zuvor noch die Bühne beherrschte, scheint gewichen, um der fast verzweifelten Suche nach Glück Platz zu machen. Oder sollte man sagen: nach noch mehr Glück?

Uwe Scholz waren die Fallstricke von suchtartigen Verhaltensmustern nicht fremd. Er ruinierte sich mit obsessivem Alkoholkonsum, betäubte seine seelischen Konflikte, statt sie zu bewältigen, und er war zudem körperlich sehr zart konstituiert. Er hatte die Schönheit und das Glück des Tanzens in der John Cranko Schule und dann vor allem von Marcia Haydée erlernt, er wurde zügig als Choreograf von Marcia in ihrer Zeit als Stuttgarter Ballettdirektorin gefördert. Als 26-Jährigen machte man ihn dann zum Zürcher Ballettdirektor, bis er 1991 das Ballett der Oper in Leipzig übernahm. Es ist schwer zu sagen, ob ihn die Ämter zu stark drückten oder ob er die Verwaltungstätigkeiten spielerisch nebenbei zu bewältigen wusste. Fakt ist, dass er persönliche Probleme hatte, denen er allein nicht beikam.

In der „Siebten Sinfonie“ tauchen diese Schatten der Melancholie sinnvollerweise – und man muss auch sagen: ehrlicherweise – denn auch auf wie aus dem Nichts, sie werden nicht erklärt, nichts leitet zu ihnen hin, kein Anhaltspunkt ergibt sich für eine Interpretation. Vielmehr ist die Gefahr groß, dass man sie sogar übersieht, zumal, wenn man das Stück zum ersten Mal anschaut. Aber für den „doppelten Boden“ des Balletts sind sie unabdingbar.

Manche Ballettabende sind ein Antidepressivum in drei Phasen.

Blumen für die Ballerinen: Schlussapplaus nach der Premiere „Forsythe / Goecke / Scholz“ beim Stuttgarter Ballett. Foto: Gisela Sonnenburg

Denn sogar in der frühlingshaften Glücksromantik lauert in der Moderne der Schrecken, der alles zu lähmen vermag. Für Sekunden bricht er durch, zieht die Mundwinkel runter, lässt Arme und Beine fast hilflos ihre Virtuosität zelebrieren. Ganz still, ganz zart, ganz sachte wird dann der Tanz von Amatriain und Reilly. Und sei es nur der Gedanke an die eigene Vergänglichkeit, an die Sterblichkeit, an den Untergang – jedes blühende Wesen ist dem Welken geweiht, und jeder aufziehende Sturm kann als tödliches Drama enden.

Nichtsdestrotz beglücken bald wieder die Herrensoli mit der Erfüllung ihrer rasanten technischen Anforderungen, mit raffinierten Sprüngen und vielfachen Pirouetten, dass es eine Herzenslust ist.

Die sprungfreudigen Tänzer vom Stuttgarter Ballett geben da ihrem Affen Zucker, und auf die Bodenverbundenheit des Goecke-Balletts „Lucid Dream“ hin wirkt das umso tollkühner.

Ein Satz endet mit einem Kniefall der Jungs in eine repräsentierend-werbende Haltung. Die Arme in der dritten Position, also einen seitlich, einen oben gehalten, wirken sie jetzt fast wie in einem urklassischen Stück: Lauter Märchenprinzen sind auf einmal hier versammelt!

Dabei lässt die Ausstattung, die sich der Choreograf Uwe Scholz frei nach einem Gemälde von Morris Louis selbst besorgte, keinen Zweifel an der Modernität des ganzen Vorhabens. Absichtlich bunt gemacht wirken die zwei gestreiften Riesenzipfel, die wie Berggipfel ein Tal in der Mitte des Bühnenhintergrunds frei lassen. Die weißen Trikots des Ensembles sind passend mit einzelnen Farbbalken am Oberkörper versehen.

Offen gesagt, würde ich gern mal eine andere Ausstattung bei diesem Ballett sehen, etwa in hellen und dunklen Violett-Tönen mit lindgrünen und gelben Kontrasten, dazu mit Zipfeln an den Ärmeln und Hüften – und von mir aus auch mit etwas Tüll für die Damen. Und sogar auch etwas mit Schwarz und Purpur. Das dürfte nicht zuviel der Verzuckerung sein, und ein moderner Impetus muss selbstredend erhalten bleiben. Aber zuviel Strenge tut diesem Ballett meiner Meinung nach nicht gut – es geht ja gerade um die Ablösung vom Neoklassizismus als Diktat, auch wenn er weiterhin in Ehren gehalten werden darf.

Manche Ballettabende sind ein Antidepressivum in drei Phasen.

Grandios auch im Scholz-Stück: Alicia Amatriain und Jason Reilly beim Einzelapplaus nach der Premiere von „Forsythe / Goecke / Scholz“. Foto: Gisela Sonnenburg

Und immer wieder springen Alicia Amatriain und Jason Reilly synchron ihre Grand jetés auf der Diagonalen nach links vorn, in einem rasanten Tempo, ohne viel Anlauf, auch mal halbhoch – aber immer gemeinsam und im Takt. Eine Augenweide!

Dann spitzt sich die Sache langsam, aber sicher fürs Finale zu. Die zwölf Paare tanzen sich in eine regelrechte Euphorie – die schnellen, hoch geworfenen Beine der Damen und ihre superfixen, von den Herren manövrierten Pirouetten lassen alle auf der Bühne Anwesenden zu Gesegneten werden.

Manche Ballettabende sind ein Antidepressivum in drei Phasen.

Maestro Kevin Rhodes dirigierte die Premiere mozartianisch, gar nicht breit und flach. Bravo! Foto vom Schlussapplaus: Gisela Sonnenburg

Dirigent Kevin Rhodes unterstützt den Impetus dieses Tanzes, indem er den Beethoven gar nicht pompös-elegisch, sondern sehr ziseliert und ausformuliert spielen lässt. Vor allem die Oboen und die weiteren Bläser haben in diesem Teil des Abends zusammen mit den Tänzern ihren ganz großen Auftritt: voilà!
Gisela Sonnenburg

Termine: siehe „Spielplan“

 www.stuttgarter-ballett.de

 

 

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