Glück und Unglück in indischen Liebesspielen Aaron S. Watkin verhilft „La Bayadère“ zu neuer Bravour: beim Semperoper Ballett

La Bayadère ist immer ein Renner.

„La Bayadère“ von Aaron S. Watkin, nach Marius Petipa, verströmt den Glanz der klassischen Romantik beim Semperoper Ballett. Hier auf dem Foto noch mit Britt Juleen – und mit dem immer unendlich glanzvollen Jiri Bubenicek (der mittlerweile Choreograf wurde und gerade in Tokio ein Solo für den Pariser Étoile Hervé Moreau schuf und aktuell, im Februar 2016, in Hannover ein Stück erarbeitet). Foto: Costin Radu

Es ist ein Märchen und ein Anti-Märchen zugleich – denn in „La Bayadère“ („Die Tempeltänzerin“) wird die große Liebe versprochen und dennoch dafür bis ins Jenseits getanzt. Das Stück, 1877 in Sankt Petersburg uraufgeführt, spiegelt einerseits die Vernarrtheit der Romantiker in eine Art frühes Bollywood und andererseits die Sehnsucht nach einer niemals endenden – spirituell überhöhten, dabei aber sinnlichen – Liebe. Aaron S. Watkin hat die Choreografie von Marius Petipa fürs Semperoper Ballett ergänzt und in ein sinnfälliges Libretto eingebettet: ein Augenschmaus und eine Wohltat für jedes schwärmerische Gemüt. Als „Giselle des Orients“ bezeichnet man „La Bayadère“, sagt Watkin, und seine Inszenierung unterfüttert das mit einer sinnlichen Beweislegung. Es ist, als würden Orient und Okzident hier verschmelzen…

Im ersten Bild, in der ersten Szene, wird, wie es sich für eine „Bayadère“ gehört, das mysteriöse Flair des alten Indiens beschworen. Der oberste Fakir, also ein religiös inspirierter Asket, hütet das Feuer des Tempels. Dresdens Ballettchef Aaron S. Watkin suchte und fand für seine Inszenierung einen passenden Namen für diesen Schamanen: Madhavan bedeutet auf Sanskrit „süß“, wie ich recherchiert habe, und ist der indischen Lehre nach einer der tausend Namen des Hindugottes Krishna. Tatsächlich hat dieser Anführer der Fakire in der „Bayadère“ traditionell etwas Süßes, Niedliches, sogar etwas Gnom- und Koboldartiges. Houston Thomas tanzt diese pikante Figur mit theatralisch großer Geste. Dieser Oberfakir ist ja zumeist in „La Bayadère“ mit dunkler Körperfarbe geschminkt und mit einer Art Dreadlock-Frisur wie ein Wilder geschmückt; im knappen Lendenschurz hat er stets hohe Sprünge und verschwörerische Armgesten zu absolvieren. Thomas ist immerhin von Natur aus dunkelhäutig, sitzt aber sicher dennoch vor Stückbeginn ziemlich lang in der Maske. Dieser Fakir ist ja so etwas wie eine karnevaleske Amorette auf indisch, und wie ein Liebesbote darf er denn auch das heimliche Treffen zwischen Solor und Nikija arrangieren und bewachen.

La Bayadère ist immer ein Renner.

Der Dresdner Ballettchef Aaron S. Watkin hat auch als Choreograf ein sehr glückliches Händchen für die Entstaubung und Ergänzung von Klassikern. Hier bei einer Premierenfeier in 2015. Foto: Gisela Sonnenburg

Solor, der „edelste Krieger des Landes“, wie das Libretto im übrigens auch sehr gut gemachten Programmheft diskret verrät, ist eine orientalisch angehauchte Neuauflage des untreuen romantischen Helden der Marke Albrecht aus „Giselle“. Marius Petipa, der 1877 mit knapp 60 Jahren auf der Höhe seiner Zeit war, wollte von dem Erfolgsrezept des bedeutendsten romantischen Balletts profitieren – und schuf in „La Bayadère“ eine ähnliche psychologische Grundkonstellation wie in „Giselle“, mit im Kern ebenfalls ähnlichem Handlungsverlauf. Das Spielfeld Indien ist allerdings nur in „La Bayadère“ als exotische Zugabe vorherrschend: beim Stil der Dekorationen und der Kostüme sowie auch in der Choreografie. Für die herrlich aufwändigen Kostüme in Dresden zeichnet übrigens Erik Västhed verantwortlich, für das eher auf Wesentliches reduzierte Bühnenbild Arne Walther.

Unter die Lupe nehmen sollte man aber vor allem die Figuren dieser Geschichte.

So den Helden Solor. Sein Name leitet sich von einer indonesischen Insel ab, soweit ich herausfinden konnte, und damit ist er auf dem indischen Festland, auf dem die in der Stadt Golconda angesiedelte Story spielt, vermutlich ein Außenseiter. Ein Zugezogener. So etwas wie Othello bei Shakespeare: ein General, der aus der Fremde kam. Er ist aber als Krieger, also als Soldat, für das Sultanat oder auch Fürstentum Golconda sehr erfolgreich – und er ist im besten heiratsfähigen Alter. Verliebt ist er auch schon: in Nikija, die Tempeltänzerin.

Nikija! Kaum eine andere weibliche Rolle im Ballett vereint so viele Gegensätze in sich. Nikija („Scharfes“) ist sanftmütig und lyrisch, aber auch aufbrausend und unbeherrscht. Sie trägt ein Top zur Pumphose, dazwischen zeigt sie viel nackte Haut, aber sie hat dennoch die Keuschheit der reinsten Seele an sich. Als ihr Chef, der Hohe Brahmane, der hier Kanj heißt (Kanjri bedeutet „Vogel“), Nikija Avancen macht, lehnt sie ihn mit deutlicher Gestik ab, weist ihn keusch zurück: Ihre Handflächen legt sie dazu ungekreuzt auf ihre vorderen Schultern. „Ich bin für dich unantastbar“ soll das heißen – und übermittelt sich auch genauso.

Ob sie als Tempeltänzerin für Liebesdienste im Namen irgendeiner der zahlreichen hinduistischen Gottheiten zuständig ist?

La Bayadère ist immer ein Renner.

Erst ganz am Ende von allem vereint: Solor, getanzt von Dmitry Semionov, und Nikija, getanzt von Elena Vostrotina, nach „La Bayadère“ beim Semperoper Ballett. Schlussapplaus-Foto: Gisela Sonnenburg

Das Libretto lässt das offen, zitiert aber im Kostüm und im Gestus der indischen Frau an sich eine imaginierte gewisse Freizügigkeit. All die raffiniert flatternden Pumphosen der Tänzerinnen hier und all ihre knappen, glitzernden, Bikini-ähnlichen Oberteile hätten sonst womöglich eine anzügliche Bedeutung, wären sie nicht allgemein allen jungen Damen zugeschrieben.

Die indischen Liebesspiele, die wir sehen, haben denn auch mit dem Kamsutra nicht viel zu tun. Alles ist eindeutig den Ballettkonventionen des 19. Jahrhunderts zugeordnet, wenn auch Petipa das Genie seiner Zeit für diese Dinge war. So sind hier und da sehr wohl tänzerische Ingredenzien eingestreut, die auf indische Tänze und Rituale verweisen. Aber diese Hinweise sind überwiegend dezent gehalten, es ging den Zeitgenossen damals ja nicht um wissenschaftliche Exaktheit, sondern darum, von ihrem Publikum verstanden und geliebt zu werden. Da ist die Dresdner Inszenierung von heute wesentlich anspruchsvoller und sich im historischen Sinn ihrer Sache sehr bewusst.

So deutet denn auch der verliebte Pas de deux von Solor und Nikija auf keine überzogene Erotik hin, vielmehr erinnern die Hebungen und gemeinsamen Sprünge an einen äußerst respektvollen Umgang miteinander. Bemerkenswert der Beginn: Während sie mit ihrem Wasserkrug noch unsicher am verabredeten Ort in Tempelnähe auf der rechten Bühnenhälfte herumirrt, betritt er souverän und selbstsicher die Bühne von links, klatscht kurz laut in seine Hände, sie dreht sich daraufhin um, sieht ihn – und läuft nicht in seine Arme, sondern springt auf seine Arme zu: Er fängt sie auf, hält sie horizontal und hat also als erstes gleich eine Hebung mit ihr zu absolvieren, noch bevor sie sich tänzerisch überhaupt begrüßt haben. Man sieht an dieser Choreografie: Nikija hat ein stürmisches Temperament. Das soll ihr später noch zum Verhängnis werden.

Zunächst aber ist alles eitel Sonnenschein, das Paar genießt sein kurzes Glück.

Solor erstrahlt dabei in seiner traditionellen Farbe: Weiß. Unschuld bedeutet das hier aber nicht, vielmehr Festlichkeit und Besonderheit.

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Dmitry „Dima“ Semionov: der jüngere Bruder des Weltstars Polina Semionova geht seinen eigenen Weg – und brilliert gastweise als Solor ohne Fehl und Tadel beim Semperoper Ballett. Foto: Costin Radu

Dmitry Semionov tanzt (in der Besetzung der Wiederaufnahme) als Gast beim Semperoper Ballett einen Solor, wie er im Buche der Ballettstile steht: elegant und geschmeidig, in gewissem Sinn maskulin-bodenständig, dabei aber mit seelenvoll-poetischem Ausdruck.

Der Bruder des Weltstars Polina Semionova wurde wie seine Schwester in Moskau geboren, aber – anders als sie – in Sankt Petersburg auf der Vaganova-Ballettakademie ausgebildet. Seine ersten großen Sprünge als Solist machte er beim Staatsballett Berlin, in der Ära von Vladimir Malakhov.

Und wie es der Zufall so will, erinnere ich mich noch gut an Dmitrys Debüt als Solor in Malakhovs „Die Bajadere“ in Berlin: Er nahm die Herzen des Publikums im Sturm, becircte mit exzellenten hohen Sprüngen, vor allem seine Grands jetés in der Rotunde, also die im Kreis getanzten Spagatsprünge, waren eine helle Freude!

So auch in Dresden. Seine exzellenten doppelten Cabrioles und die Spagatsprünge wirken bei dem schlaksig-schlanken, hoch gewachsenen jungen Mann wie ganz natürliche Mittel der Fortbewegung, so sehr hat er das strenge Regime der Muskelkontrolle verinnerlicht. Kein Wunder, dass er Bravos und begeisterte Beifallsausrufe erntet!

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Elena Vostrotina beim Schlussapplaus, nach „la Bayadère“, deren entzüdckende Verkörperung der Titelrolle sie ist. Foto: Gisela Sonnenburg

Aber auch Nikija, in dieser Besetzung von Elena Vostrotina mit charmant-anmutiger Attitüde dargestellt, ist nicht ohne Potenzial. Die Erste Solistin, seit 2006 in Dresden tanzend, wurde, wie „Dima“ Semionov, bei Vaganova in Sankt Petersburg ausgebildet. Auch sie feierte schon mit einer anderen „Bayadère“-Inszenierung Triumphe, und zwar in der Einrichtung von Igor Zelensky, dem kommenden Münchner Ballettdirektor, in Novosibirsk.

Besonders berühmt ist das Solo, das Nikija bei der Verlobungsfeier ihres Geliebten mit der reichen und schönen Hamsatti tanzt. Es ist ein Adagio, das in ein Allegro, schließlich in ein tödliches Allegro, übergeht… aber dazu später.

Zunächst bleibt festzuhalten, dass Nikija vom Hohen Brahmanen – mit sehr schön klarer Gestik und fester Figur von Ralf Arndt verkörpert – nachgestellt wird, während sich ihr Solor seinen gesellschaftlichen Pflichten hingibt. Als da sind: Beim Radscha und der Rani, dem Fürstenpaar von Golconda, zu schleimen und sich deren Tochter Hamsatti als künftige Braut aufschwatzen zu lassen.

Es ist schon ein Kreuz mit diesen Dreiecksverhältnissen in den romantischen und klassischen Balletten: ob in „Giselle“, in „La Sylphide“, in „Schwanensee“ oder eben in „La Bayadère“: immer sieht sich der Mann zwischen zwei Frauen hin- und hergerissen.

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Sangeun Lee tanzt die Hamsatti mit kühlem Willen, aber großer Tanzlust. Schön! Hier beim Applaus fotografiert von Gisela Sonnenburg

Und wie so oft entscheidet er sich auch hier für die Falsche. Denn Hamsatti ist zwar bildschön, hat aber längst nicht das Herz und das Format für eine übernatürlich starke Liebe, wie Nikija sie zu geben vermag.

Als Solor in der prunkvollen Umgebung des Palastes aber auf die fein zurecht gemachte Hamsatti trifft, verfällt er ihrer Ausstrahlung des reichen, vornehmen Weibchens. Ohne Umschweife verlobt er sich mit ihr, auf Druck der künftigen Schwiegereltern und im Rausch der Sinne, den die glückliche hohe Tochter ausgelöst hat. Sangeun Lee als Hamsatti passt aber auch zu gut zu Dmitry Semionov! Auch sie ist schlaksig-schlank, wirkt sehr groß gewachsen, auch sie hat eine gleichmäßig-elegante Stilart am schönen Leib. Ein schönes Paar!

Sangeun Lee kommt aus Seoul, der Hauptstadt von Südkorea. In Dresden tanzt die derzeitige Solistin seit 2010, und ihr Repertoire umfasst Rollen wir Myrtha in David Dawsons „Giselle“ und die Fliederfee in Aaaron S. Watkins „Dornröschen“. Als Hamsatti gelingt ihr die Darstellung einer liebenden, vor allem aber repräsentierenden Frau, die mit Nikija eine wortwörtlich „scharfe“ Konkurrentin hat, gegen die sie sich zur Wehr setzen muss.

Vorher aber nimmt uns eine Sechsertruppe aus jungen Damen mit ins „echte“ alte Indien, indem sie einen authentischen, folkloristisch-sakralen Tempeltanz zeigt. Mit vielen geschmeidigen Handbewegungen, die direkt aus Indien zu kommen scheinen, und mit den typischen „schiebenden“ Fußbewegungen versetzt Aaron S. Watkin, dessen Einfall dieses Divertimento war, uns kurzzeitig tatsächlich in einen indischen Tempel.

La Bayadère ist immer ein Renner.

Sie können auch echt indisch: Die Mädchen vom Semperoper Ballett beherrschen Spitzentanz und das Ballet blanc ebenso wie authentischen indischen Tempeltanz. Alles zu sehen in „La Bayadère“! Foto: Costin Radu

Hamsatti (die in englischen Versionen oft Gamsatti heißt), tanzt in Rot und Lila mit farblichem Signalcharakter einher. Sie  hat in so einem gehobenen, ihr ausnahmslos freundlich gesonnenen Umfeld ja ein leichtes Spiel. Das verwöhnte Kind aus der Oberschicht, gehätschelt und getätschelt, nimmt sich denn auch mit fast unverfrorener Flirtanmache, was sie will: Solor. Da kann ihr auch Nikija keinen Strich durch die Rechnung machen.

Obwohl – dieses ungewöhnliche Mädchen natürlich für ihre Liebe kämpft. Doch als ruchbar wird, dass Solor außer seiner Verlobten noch ein anderes Mädchen trifft, wird diese unerlaubte Liebe gleich zweifach verdammt: vom Radscha, der sich betrogen fühlt und um seine Ehre gebracht sieht, und von seiner Tochter, die sofort handelt. Sie ruft Nikija zu sich, schaut der Rivalin ins wunderhübsche Antlitz – und versucht zunächst, ihr mit Schmeichelei und Geschmeide den Verzicht auf Solor abzuringen. Doch da kennt sie die temperamentvolle Tempeltänzerin schlecht! Vor dem Verlobungsbildnis von Solor zanken die jungen Frauen, was das Zeug hält, und im Eifer des Gefechts zückt Nikija einen Dolch.

Sie sticht zwar nicht zu, denn sie kommt wieder zu sich, als sie die Waffe ausholend in der erhobenen Hand hält – aber Hamsatti kauert da schon ängstlich vor Nikija, den Todesstoß erwartend und sozusagen zu Tode gedemütigt.

Für Hamsatti steht fest, dass sie ihre so entschlossene Widersacherin beseitigen will. Perfide plant sie deren Tod und bestellt die Tempeltänzerin für eine Show beim Verlobungsfest. Solor ahnt indes von allem nichts, er widmet sich seinem Vorankommen in der Gesellschaft und hat für andere Dinge keinen Sinn. Ein neuerliches Treffen mit Nikija ist nicht avisiert – er plant wohl, erst die eine zu heiraten, um dann die andere vielleicht als Mätresse zu haben. Oder hat er Nikija schon ganz vergessen?

Als sie auftritt und in festlichem Ornat eine starke tänzerische Darstellung ihrer Liebe zeigt, beeindruckt Nikija damit zwar das Publikum, nicht aber Solor, der sich von Hamsatti umgarnen und zärtlich streicheln lässt.

Vor dem Höhepunkt des Fests, dem Auftritt von Nikija, bezaubern aber ein Pas de dix und ein Pas de six, ein zehnköpfiger und ein sechsköpfiger Tanz von Mädchen und Jungen. Vor allem die Jungs – allen voran Václav Lamparter, Skyler Maxey-Wert, Joseph Hernandez, Jón Vallejo und Francesco Pio Ricci – zeigen in diesem „Ring-Divertissement“ (das anlässlich des Verlobungsringtauschs inszeniert ist), wie man Ballett auch ohne Handlung anschaulich und plastisch als Tanz im Tanz darstellen kann.

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Die liebliche Bayadère tanzt ihr großes Solo – bei Aaron S. Watkin in Dresden sinnigerweise zunächst mit einer Laute, als Zeichen für ihr musisches Fluidum. Hier im Bild: Natalia Sologub in der Rolle, die in der Nacht der Rezension von Elena Vostrotina getanzt wurde. Foto: Costin Radu

Und dann steigt die Spannung. Elena Vostrotina tanzt das Solo der Nikija, dieses wichtige Stück im Stück, diese Vorführung in der Vorführung, mit aller gebotenen Sorgfalt und zauberhaft-melancholischer Hingabe. Aaron S. Watkin ließ sich etwas Besonders für den Beginn einfallen: Er lässt seine heldische Tempeltänzerin mit einer Laute auftreten, zum Zeichen für ihr musisches Fluidum. Rund sieben Minuten dauert dann die Melange aus „indisch“ anmutenden und okzidentalen Posen: mit geschlossenen Händen hoch überm Kopf und weit gefächerten Ausfallschritten bei lang nach vorn gestrecktem Oberkörper. Es ist zugleich eine Anklage, die die Bayadère hier vornimmt, sie bittet und barmt für ihre Liebe, sie fragt, warum sie sie nicht bekommen kann – und statt das Glück des verlobten Paares zu preisen, streckt sie die Hand sehnsüchtig nach ihm aus.

Bis ihr ein Blumenkorb überreicht wird, vermeintlich schickt ihn Solor. Als Liebeszeichen ehrt Nikija die Blumen, tanzt mit ihnen, voll Hoffnung, voll Verwirrung auch. Und sie verfällt in ein temperamentvolles Allegro, von russisch-folkloristischen Rhythmen geprägt und Petipas Spätwerk „Raymonda“ antizipierend. Zöpfchenschritt, Chainés, ein fast akrobatisches, munteres Hantieren mit dem Blumenkorb…

Doch da fährt eine Schlange aus den Blumen – der Korb kam nicht von Solor, sondern von Hamsatti. Nikija, tödlich gebissen, sinkt zu Boden, der verliebte Kanj kommt sofort mit einem Gegengift (vermutlich weihte Hamsatti ihn als vermeintlichen Verbündeten ein) – aber weil Solor kein Interesse zeigt, die Sache nicht sonderlich ernst nimmt und, mit seiner Verlobten tändelnd, den Raum einfach verlässt, lehnt Nikija es ab, weiter zu leben. Sie stirbt. Vorhang.

Doch damit ist es nun noch lange nicht getan im Ballett. Man könnte sogar fast sagen: Dieser erste Akt ist nur das Vorspiel gewesen, und erst danach geht es so richtig los.

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Solisten und Ensemble müssen zusammen arbeiten: Schlussapplaus für alle in „La Bayadère“ beim Semperoper Ballett. Foto: Gisela Sonnenburg

Ursprünglich war „La Bayadère“ ein Vierakter, Natalia Makarova machte in ihrer 1980 beim American Ballet Theatre in New York und 1989 beim Royal Ballet in London gezeigter Version einen Dreiakter daraus, und Aaron S. Watkin dampfte das vielfältige Geschehen nunmehr auf zwei Akte ein, was sich als äußerst griffig bewährt. Szenen gehen dadurch nämlich nicht verloren, aber es entfallen aufwändige Umbaupausen, indem ein möglichst stringenter Handlungsfluss mit rasch herunterzulassenden, einzuziehenden und hochzuziehenden Kulissen angestrebt wird.

Nach der Pause erfolgt denn auch der eigentliche Kern dieses Balletts: der spektakuläre Einzug der Mädchen im „Königreich der Schatten“.

Es handelt sich fraglos um eine verklärte Vision des Jenseits, von Solor, der im Nachhinein den tatenlos hingenommenen Tod von Nikija heftig betrauert. Der Romanzenheld gibt sich der Wirkung einer Opiumpfeife hin – und halluziniert für uns, das davon begeisterte Publikum, das Schattenreich, in dem filigrane junge Mädchen in weißen Tellertutus und Schleiern an den Armen (statt Fügeln am Rücken) defilieren. 24 Tänzerinnen bilden beim Semperoper Ballett dieses sagenhaft schöne Corps de ballet, darunter sind einige Tanzstudentinnen sowie Gasttänzerinnen. Man hat ganz offensichtlich größten Wert auf diese so wichtige Szene der Ballettgeschichte gelegt und keine Mühe gescheut, die Einstudierung zu einem Fest für die Sinne werden zu lassen. Das Ergebnis ist denn auch: großartig!

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Schritt, Schritt, Schritt, Arabeske mit Plié! Einfach bezaubernd, wie die jungen Damen in der Semperoper das Königreich der Schatten tanzen… in „La Bayadère“! Foto: Costin Radu

Schritt für Schritt atmet hier das Damenensemble den Geist der Romantik. Dieser wurde von Marius Petipa, dem Gewieften, exakt in diesem Stück in die Klassik transponiert. Statt der wadenlangen romantischen Tutus tragen die Mädels darum knackig-kurze, abstehende Teller-Tutus, und statt der Sylphiden-Flügeln wabern ihnen an Schultern und Armen befestigte Schleier wie Ärmel aus Nebel am Körper. Ohne Gewackel, ohne Fehltritt gelingt ein Gesamtkunstwerk aus einfühlsamer Adagio-Musik (von Ludwig Minkus; von Maestro David Coleman hervorragend dirigiert), minimalistisch sich wiederholender Defilee-Choreografie und gruppenweise zart in die Arabeske ausgestreckten Beinen. Bon, très, très, très bon!

Mit der ersten Schattensilhouette, die noch schwarz erscheinen darf, bevor das Licht sie in Knallweiß (vor tiefblauem Grund) tauchen darf, beginnt solchermaßen ein Endlos-Mäander aus Frauenkörpern, der wahrhaftig einen Schönheitswert für die Ewigkeit hat.

Schritt, Schritt, Schritt – Arabeske mit einem kleinen Plié. Absetzen mit Cambré nebst Port de bras, und wieder: Schritt, Schritt, Schritt, Arabeske… Die Wiederholung des Immergleichen, mit synchron gelaufenen Schritten, aber jeweils abwechselnd gehobenen Spielbeinen, bewirkt durch die Anordnung der vielen Mädchen als bergab verlaufende Serpentinenschlange einen Sog, einen Rausch, der durch die blaulichterne Mondschein-Stimmung auf der Bühne verstärkt wird.

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Graziös und beim Tanzen völlig synchron: Die Damen aus dem Königreich der Schatten in „La Bayadère“, beim Schlussapplaus in der Semperoper in Dresden. Foto: Gisela Sonnenburg

Hier bildet ja auch kein See noch ein Wald die Kulisse, sondern eine bewucherte Berglandschaft lockt in die paradiesisch angelegten Gefilde der Seele. Neben „Schwanensee“ und „Giselle“ ist das hier das bedeutendste Ballet blanc („weißes Ballett“) der Tanzgeschichte, und wahrscheinlich ist es das auch auf lange Zukunftsaussicht hin einzige, das mit einem scheinbar so kleinen choreografischen Sprachvokabular auskommt. Petipa hat das einfach Geniale 1877 somit sinnfällig gemacht – ein für allemal.

Die im Dezember 2008 erstmals gezeigte Version von Aaron S. Watkin greift diesen Esprit ohne Änderung auf. Es wäre wohl auch ein Sakrileg, hier, in den Einzug der Mädchen, einzugreifen! Auch die feinen Développés und das zarte Getrippel, die beim dann fertig aufgestellten Damen-Corps folgen, sind unverändert der Originalchoreo entsprechend – und werden vom aktuellen, wie schon erzählt: hierfür um einige Jungtalente erweiterten Semperoper Ballett hinreißend dargeboten!

Und inmitten all der anderen, indisch-orientalisch geprägten Szenen ergibt sich somit mit dem „Königreich der Schatten“ eine Replik auf das Abendland an sich – sollte es eine hintergründige Spitze bedeuten, dass der Okzident hier als Totenreich einherkommt?

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Ein Traum in Weiß: Die Damen vom „Schatten-Ballett“ aus „La Bayadère“ in der Semperoper in Dresden beim Schlussapplaus. Foto. Gisela Sonnenburg

Jedenfalls beweist das Semperoper Ballett, dass diese große Ensembleszene mit 24 Tänzerinnen wunderbar gelingen kann, wenn diese ausreichend und richtig beprobt wurden. Ein inniger Dank an Aaron S. Watkin und ans Ballettmeisterteam unter Gamal Gouda, denn ohne die intensive und kompetente Fleißarbeit im Ballettsaal könnte eine solche Vorführung niemals gelingen!

Und auch, wenn Ensembles wie das Staatsballett Berlin in dieser Szene 36 Damen und das Corps vom Mariinsky Theater in Sankt Petersburg sogar 48 Mädchen auffahren – man vermisst diese Menge an Frauenbeinen überhaupt nicht, wenn man anschaut, mit welcher Lieblichkeit und Präzision die Dresdnerinnen ihre Bühne zu füllen vermögen. Schade nur, dass die Zeit unaufhaltbar verrinnt und man keine Möglichkeit hat, ein „da capo“ einzufordern. Zu gerne würde man diese Szene mit der schönsten optischen Vereinnahmung noch einmal sehen.

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Das Schatten-Corps mit den drei Schatten-Soli vorn (ganz vorn links: Melissa Hamilton) – beim Schlussapplaus in Dresden, nach „La Bayadère“. Foto: Gisela Sonnenburg

Aber dafür gibt es dann den großen Pas de deux, durchsetzt von den Divertimenti der drei Solo-Schatten zu sehen.

Bei den Schatten-Soli gab es in der genannten Besetzung sogar eine wunderbare Überraschung: nach der fantastisch-elastisch-kecken Chiara Scarrone und der sprungstark-geradlinig-anmutigen Kanako Fujimoto tanzt die delikat-elegant-hochbeinige Melissa Hamilton ein Solo! Melissa ist ein Weltstar, noch relativ neu in Dresden und allen, die up to date sind, als unüberbietbar hinreißende Titelfigur in Kenneth MacMillans „Manon“ in Erinnerung. Sie wird Ende Februar und im März die Nikija in „La Bayadère“ in Dresden tanzen. Aber als superbe Schattenfrau, mit sublimer Linie und hochkarätiger Grazie rundet sie das Solo-Schatten-Trio bereits mit so viel Würde ab, dass man sie bereits in allen nur möglichen lyrischen Rollen aufgehen sieht. Allen drei Mädels: ein herzliches Bravo!

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Dmitry Semionov beim Schlussapplaus in der Semperoper in Dresden – nach der umjubelten „La Bayadère“ von Aaron S. Watkin. Foto: Gisela Sonnenburg

Sie schaffen gerade die richtige Atmosphäre, um die schnittig-brillanten Chainés von Dmitry Semionov (einfach wow!) und die ultrafeinen Posen und langen, wunderbar gehaltenen Balancen von Elena Vostrotina im „Schattenakt“ zu genießen.

Da wirft Dmitry sich in die Brust, pirouettiert blitzschnell, liefert saubere, gar nicht gerissene oder gehetzte Sprünge ab – und ist bei aller Anstrengung doch ein Märchenprinz, der scheinbar auf den Wolken gehen kann.

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Man verbeugt sich gemeinsam, wie man gemeinsam getanzt hat. Das Semperoper Ballett nach „La Bayadère“. Foto: Gisela Sonnenburg

Semionov hatte, als er Berlin 2013 verließ, einige Unarten angenommen, wie ein zu weites Ausholen mit dem Oberkörper vor den Drehungen und ein zu heftiges Anreißen beim Drehungsbeginn. Wenn sich so etwas einschleift, ist es für den betreffenden Tänzer schwer, sich wieder davon frei zu machen. Das hat Dmitry aber geschafft, er hat sich voll Disziplin im Griff, er ist ein „schwebender“ Spitzensolist mit passender, wunderbar schmachtender Spielhaltung – und er wird, mit seinem noblen Port de bras, als Prinz wohl immer eine Klasse für sich sein. Es ist toll zu sehen, wie sich jemand, der es als kleiner Bruder einer scheinbar übermächtig erfolgreichen Schwester (die schöne Polina Semionova ist ein Hype!) sicher nicht ganz einfach hat, und der ganz sicher auch noch vom Neid verfolgt wird, so gut entwickelt!

Und er partnert vorzüglich! Elena Vostrotina scheint Wachs in seinen Händen; Semionov hält, führt, hebt, lenkt sie; mit Sicherheit gleichermaßen wie mit Zartgefühl. Und er lässt sie mit denselben Tugenden wieder landen, was schließlich auch wichtig ist: Die Ballerina möchte sich ja nicht den Fuß verstauchen und zudem ein höchst elegantes Erscheinungsbild auch bei Beendigung einer Figur abgeben. Mit Dima als Partner kein Problem!

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Tanz mit Turban: Solor (hier: Jiri Bubenicek) trägt auch die Feder an der Stirn, wenn er die Geliebte, die Titelheldin, in „La Bayadère“ (hier: Natalia Sologub) verehrt. Foto vom Semperoper Ballett: Costin Radu

Als angehender Schatten trägt Nikija übrigens nicht, wie die anderen weißen Schatten, einen Armschleier. Doch mit einem riesenhaft vergrößerten Schleierschal als Symbol für Sexualität tanzt sie ihren schönsten Paartanz mit Solor: Sie hält das zarte Stoffgebilde dabei über ihrem Kopf, er hält es, sie damit gewissermaßen anleinend, ganz lässig in den Händen.

Hierzu eine kleine Anmerkung: Rudolf Nurejew, der die Partie des Solor seit seinem 21. Lebensjahr immer wieder tanzte, im Osten wie im Westen, inszenierte „La Bayadère“ 1992 an der Pariser Oper, wenige Monate vor seinem Tod. Wie so oft in seinen Choreografien, ließ er sich Neues, auch Experimentelles einfallen. Und so trug die Bayadère bei Nurejew den Schleier zunächst überm Kopf, ähnlich wie die indischen Frauen bei ihrer Verheiratung das Schleiertuch tragen. Das ist natürlich eine Referenz von „Rudi“ an den Orient gewesen – bei Petipa finden wir dergleichen nicht. Petipa ging es vor allem um die Romantisierung der exotisch-folkloristischen Kulisse.

Und so jenseitig-entrückt das „Schatten-Bild“ auch ist, das Glücksgefühl, das es verströmt, entspricht voll und ganz den Erwartungen an romantisches Ballett und auch an die romantische Liebe: Es enthält Virtuosität und Innigkeit, basierend auf der Reue des Mannes und seiner Vergebung durch die Frau.

Ja, das ist ein Märchen, natürlich! Und doch ist es wiederum keines, denn all die Schönheit der Gefühle hier ist – ein Drogentraum, eine Halluzination, bestenfalls eine Vision.

Und so erwacht der Held, der wegen seiner Wahl der Reichen statt der wahrhaft Liebenden längst ein Anti-Held ist, auf seinem breiten Junggesellenbett allein – mit einem mächtigen Opium-Kater, mutmaßlich.

Aber wacht er wirklich auf?

Das Phantombild seiner Geliebten verfolgt ihn… immer wieder steht die im weißen Tutu trippelnde Nikija neben ihm, ruft ihn, lockt ihn, lässt ihn nicht zur Ruhe kommen…

Derweil laufen die Hochzeitsvorbereitungen. Es ist gewiss für viele Menschen (nicht nur für Männer) eine unterschwellige Angst dabei, die Freiheit der Person durch eine Eheschließung aufgeben zu müssen. Solor erlebt diese Furcht ganz heftig, möglicherweise ahnt er sogar, dass diese unselige Heirat ihn nicht nur von seiner Freiheit, sondern von seinem Leben trennen wird.

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Macht in Rot eine tolle Figur: Hamsatti alias Sangeun Lee beim Schlussapplaus. Foto: Gisela Sonnenburg

Aber glauben möchte der Held noch an sein in jeder Hinsicht reiches Glück. Seine Braut Hamsatti alias Sangeun Lee macht in leuchtendem Rot eine hervorragende Figur; nett sind auch die Schwiegereltern, der Radscha und die Rani (letztere führte Aaron S. Watkin ein: im Original ist der Radscha eher ein Pascha mit unausgesprochenem Harem). Und, auch das ein schöner, sinnstiftender Einfall: Hamsatti passt sich dem Geschmack von Solor an, sie imitiert in ihrem Braut-Solo ihre tote Nebenbuhlerin Nikija, biegt sich in ähnliche Posen, verheißt ein ähnlich von Herzen kommendes Liebesglück. Es ist halt wie im richtigen Leben… Dennoch besteht keine Verwechslungsgefahr: zu verschieden sind die beiden Frauen und auch ihre Choreografien. Ihre einzige Gemeinsamkeit: Sie lieben denselben Mann, Solor.

Als Krieger, also Soldat, hat Solor aber einen sehr riskanten Beruf, zumal wenn er, wenn man seinem indonesischen Namen folgt, als eine Art Fremdenlegionär nach Golconda kam. Da scheint es Sicherheit zu verheißen, von Beruf Schwiegersohn des Fürsten zu werden – und also Thronfolger.

Natürlich: eine solche blendende Karriere hätte ihm Nikija niemals bieten können. Und die meisten Sterblichen richten ihre Gefühle noch nach ganz anderen, viel kleineren materiellen Versprechungen aus, oder?

La Bayadère ist immer ein Renner.

Auch die Tänzer wissen die Musik unter dem Dirigat von Maestro David Coleman zu schätzen: Applaus beim Applaus in der Semperoper in Dresden. Foto: Gisela Sonnenburg

Die Hochzeitstänze, der Austausch von Blütenkränzen, das Umzingeln der angehenden Eheleute von seerosentragenden Tänzerinnen – all das ist so freundlich und anheimelnd, dass man mit Solor die Gefahr des Bösen, die natürlich voll Rachelust auf ihn lauert, verdrängen möchte.

Der sprungstarke Tanz des Goldenen Idols, eines Gotts, den Aaron S. Watkin hintergründig auf einer Sänfte hereintragen und nach seinem bekannt virtuosen Originaltanz auch wieder wegtragen lässt (statt dass diese lebendig werdende Gottheit einem Schrein entsteigen muss), hat ohnehin den ambivalenten Charakter des Rätselhaften. Es ist noch nie jemand klug daraus geworden, ob die zahlreichen Sprünge des Goldgottes nun Gutes oder Böses oder schlicht Fatalismus bedeuten. Zumal im Kontext der Geschichte… Fest steht aber: Jón Vallejo tanzt den Part markant und sicher, mit Spaß an dem hohen Schwierigkeitsgrad der Ein-Auftritt-Rolle.

La Bayadère ist immer ein Renner.

Das Goldene Idol bedeutet ein retardierendes Moment in der Handlung von „La Bayadère“ – sehr zur Freude des Publikums. Hier Denis Veginy in der sprungstarken Rolle, die zwar nur einen Auftritt hat – aber der macht mächtig Eindruck. Das Semperoper Ballett hat zudem so viele junge Tänzer im Ensemble, die für diese Partie hervorragend geeignet sind, von Václav Lamparter bis Jón Vallejo – man könnte sich da bei jeder Vorstellung ein neues Idol denken. Foto: Costin Radu

Man kann bei dieser Gelegenheit gern einmal mehr feststellen: Das Dresdner Semperoper Ballett ist diejenige deutsche Compagnie mit dem stärksten Nachwuchstalente-Pool, zumal, was große solistische Parts in klassischen Stücken angeht. Den güldenen Gott etwa könnte man hier, von Jón Vallejo bis zu Václav Lamparter, bestimmt ein gutes Dutzend Mal knalltoll besetzen. Das ist einfach klasse und keiner anderen mir bekannten Compagie zuzutrauen – und es ist schade, dass man nicht mehr und mehr Ballett-Vorstellungen in Dresden einfädeln kann, damit man möglichst alle vielversprechenden Jungs und Mädels in bedeutenden Parts oder in Hauptrollen sieht.

Zurück zu Solors Befindlichkeit, schießlich ist er die Hauptperson dieses Abends. Als er seinen Braut-Pas-de-deux mit Hamsatti, der schönen Killerin, tanzt – kann er da noch wirklich gute Gefühle haben? Dmitri Semionov tanzt den Zwiespalt dieses mitten im Glück zweifelnden und verzweifelnden Mannes par excellance!

Da taucht die geisthafte Nikija – jetzt gekleidet wie die Braut, nur in Weiß statt in Rot – mit dem Blumenkorb auf. Und sie erzählt, wie es wirklich war. Dass die Schlange im Korb kein Zufall war… und dass es auch kein Zufall war, dass es eine tödliche Schlange war. Solor muss nun erkennen, dass es Hamsattis Korb war, der Nikija absichtlich umbrachte, dass seine hehre Braut eine schnöde, heimtückische Mörderin ist.

Aaron S. Watkin gelingt es, in seiner Inszenierung hier die Psychologie und das entsprechend Symbolhafte des Stücks zu betonen. Und kaum erkennt Solor die Schuld seiner Braut, schlagen nicht nur seine Stimmung, sondern auch das Wetter um.

La Bayadère ist immer ein Renner.

Das Unwetter spiegelt die emotionale Befindlichkeit des Helden Solor: Der Untergang des Tempels in „La Bayadére“ beim Semperoper Ballett. Foto: Costin Radu

Das Wetter als Mitspieler, etwa als Spiegel des Innenlebens eines Helden, kennen wir in der Literatur und im Bühnengeschehen bereits seit Schiller und Goethe.

Übrigens ist es auch Goethe, dessen Gedicht „Der Gott und die Bajade“ von 1797 schon fast hundert Jahre vor der Uraufführung von Petipas „Bayaderka“ (1877, wie schon mehrfach erwähnt) den Trend der Sehnsucht nach dem exotischen Indien mit einläutete. Die Romantiker wiederum, etwa Novalis und Ludwig Tieck, wähnten in Indien den „Sitz der Seele“: Sie gingen davon aus, dass es eine menschheitsverbindende Geistesgeschichte geben würde, die im Verborgenen ihre Wirkung tue und die ihren Ursprung in, nun ja, Indien habe. Warum ausgerechnet Indien ihr selbst ernannter Urquell aller metaphysischen Kräfte wurde – ist nicht so ganz klar. Man sah Indien als Bindeglied zwischen Orient und Okzident und reimte sich darum zusammen, dass alle Kultur in diesem Schnittfeld der damals bekannten Zivilisationen ihre Wurzel haben müsse.

So gesehen, ist nicht nur das Wetter, sondern auch die Geografie ein Mitspieler. Hier, indem das Unwetter, das sich entlädt, dem Zorn der Hindu-Götter zuzurechnen ist: Sie sind über den Mord an Nikija so empört, dass sie niemanden, der an der Hochzeit ihrer Mörderin teilnehmen wollte, überleben lassen. Rauch und Gedonner, Regenrasseln und bröckelnde Tempelfassaden – ein mittlerer Tsunami ist sich vorzustellen.

La Bayadère ist immer ein Renner.

David Coleman, Dirigent, Arrangeur und am Ende auch Komponist des Abends, freut sich über den wohl verdienten, tosenden Applaus. Yeah! Foto vom Schlussapplaus: Gisela Sonnenburg

Solor aber hat, durch die Liebe, das große Glück, im Jenseits sofort auf seine Bayadère zu treffen. Und hier gelang Watkin, was sich vor ihm keiner traute: Er ließ sich von David Coleman ein passendes, stilistisch an Ludwig Minkus angelehntes Stück Musik komponieren, das mit feinen Melodiebögen zur Liebe aufruft – und Watkin kreierte dazu einen wundervoll-fluffigen, leichtlebig-eleganten Paartanz für Solor und Nikija, damit dieses der Ewigkeit übereignete Paar nicht, wie sonst, einfach nur dumm rumsteht, mit Schleierschal und Würde, aber ohne Zeit und Raum zu tanzen. Ein einfach prima Einfall!

Dmitry Semionov und Elena Vostrotina drehen hier langsam auf, finden von Zärtlichkeit zu Vehemenz, von Vergeistigung zu einer starken Sinnenfreude. Warum auch sollte das Nirvana, das klugerweise in Watkins Libretto erwähnt wird (es geht nicht um den christlichen Himmelsbegriff!), ganz fleischlos sein? In superben Hebungen – mal liegt Nikija auf Solors Schulter, mal hält er sie als, typisch für Watkin, hoch angelegten „Fisch“ – formuliert sich diese Liebe, die zwar auf Erden keine Chance hatte, die aber dafür in unserer Vision und somit im glamourösen Nichts eines spirituell aufgeladenen Jenseits ganz fantastisch funktioniert.

La Bayadère ist immer ein Renner.

Wäre „La Bayadère“ eine Soap, so wäre das hier das vermeintlich glückliche Schlussbild: Die Hochzeit von Hamsatti (links auf dem Foto: Britt Juleen) und Solor (Jiri Bubenicek, in Weiß). Aber Ballett ist nicht „Dallas“ – hier geht es weiter! Foto: Costin Radu

Das Schlussbild ist eine Replik auf die original russische Beendigung der Happy-End-Version von „Schwanensee“: Im „Schwanensee“, der erst mit glücklichem Ende großen Erfolg im ausgehenden 19. Jahrhundert hatte, kreiselte die Prinzessin in den Armen des Prinzen auf dem Platz, „Fleckerl“ nennt man das in der Folklore, im Ballett hat die Dame dabei ein Bein zur Attitude erhoben. Watkin lässt seine „Bayadère“ ebenfalls mit einer Drehung auf dem Platz, einer scheinbaren Endlos-Drehung, enden, wobei die Titelfigur hoch über den Kopf ihres Partners erhoben ist und im Cambré für ihn eine Art Bedachung bildet. Da bewährt es sich, dass Semionov einer der besten Tänzer für solche Hebungen ist und die zarte Elena Vostrotina sich wie ein junger Zweig im Wind biegen kann.

Welch filigranes, dennoch majestätisches Ende für ein Liebesspiel, das nicht nur in Indien den Glauben an das nicht Erklärliche, nämlich an das Schicksal, braucht!
Gisela Sonnenburg

Termine: siehe Spielplan

www.semperoper.de

 

 

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