Der König ist eine tragische Figur. Sein erster Auftritt, im stummem Vorspiel, zeigt einen zermürbten Mann in einem Karnevalswams. Er ist drauf und dran, seine Macht zu verlieren. Dunkelmänner aus dem Staatsapparat umzingeln ihn, und auch sein bester Freund – in einem zuckersüßen Rosengewand mit Federbuschen auf dem Kopf wie eine Figur aus einem Theaterstück für Kinder aufgemacht – kann nicht mehr helfen. Ein König wird hier wortlos entrechtet, enmündigt, zum Narren gemacht. Als Vorbild diente dem genialen Choreografen John Neumeier bei der Schöpfung seines Werks 1976 der bayerische König Ludwig II., der „Märchenkönig“. Der schenkte seinem Land bis heute unübertroffene, fantastische Schlösser, die die Staatskasse indes schwer belasteten. Im Ballett träumt der König von „Illusionen – wie Schwanensee“, und nicht nur vom Leben als Künstler ohne Kunst. Er ist ja auch – statt der Opernmusik von Richard Wagner, wie der reale Ludwig – der Magie des klassischen Tanzes verfallen, dem weißen Rausch, den das Ballet blanc der tanzenden Schönheiten auslöst. In der Top-Besetzung mit Lucia Lacarra als Prinzessin Odette und Tigran Mikayelyan als König sowie sechs weiteren Stars in Hauptrollen tanzt das Bayerische Staatsballett Neumeiers „Schwanensee“-Version in München – fraglos ein internationaler Höhepunkt.
In der ersten Szene sehen wir einen entrückt-frustrierten König, der in seinem Schwanenritter-Outfit schon längst nicht mehr von dieser Welt zu sein scheint. Als die Musik von Peter I. Tschaikowsky einsetzt, ist der König allein in einem fast leeren Saal – er flüchtet sich ins Gebet; eine in den Königsfarben Blau und Gold bemalte Gebetsbank steht bereit.
Der unglückliche Herrscher wird von Tigran Mikayelyan mit dramatischer Eleganz, aber auch mit vornehmer Melancholie getanzt. Er bleibt nicht lange allein. Der Mann im Schatten taucht auf, in dieser Besetzung von dem starken, aber auch diabolisch-leichtfüßigen Marlon Dino verkörpert.
Damit steht das Leitmotiv der Inszenierung fest. Der König kämpft gegen etwas, das sich wie ein zweiter Mensch anfühlt. Aber ist er das?
Dieser Schattenmann ist eine Ausgeburt der Fantasie des Königs, er steht für dessen Angst ebenso wie für dessen heimliches homosexuelles Verlangen. Und er steht für die dunkelsten Seiten eines Trieblebens, für Wahnsinn, für Kontrollverlust, für Tod.
Bei der Uraufführung in Hamburg im Mai 1976 war es ein ungeheures Sakrileg, den ehrwürdigen „Schwanensee“ und den kultisch verehrten Ludwig II. solchermaßen zusammenzuzwingen. Dennoch ging das Konzept auf, von der ersten Aufführung an.
Der spätere Frankfurter Ballettdirektor und Chefchoreograf Fred Howald tanzte zuerst die Partie des Schattenmanns, der zugleich drei andere, kleinere Rollen im Stück verkörpert. Später tanzte dann der heutige, zum Ende der Saison scheidende Münchner Ballettdirektor Ivan Liška den Mann im Schatten: als Erster Solist des Hamburger Balletts, wie Neumeier seine Truppe damals nannte. Howald, der die Rolle kreierte, erinnert sich noch heute sehr gern und gut an die Kooperation mit Neumeier und mit Max Midinet als König: Sie gehört, wie er sagt, zu seinen tiefsten, intensivsten, am meisten beglückenden Aufführungsmomenten. Was den Zuschauern nicht verborgen blieb!
Liška Pas de deux mit Max Midinet sind zudem ebenfalls unvergesslich: Unbarmherzig, aber keineswegs kalt, trieb Liškas Schwarzer Mann den verwirrten König immer tiefer in die innere Schattenwelt.
Wer hat Angst vorm Schwarzen Mann? Dieses Kinderspiel kommt einem in den Sinn, denkt man über die klassische Bedeutung des Dunklen, Bösen, Tragischen nach. Diffus ist es manchmal und unberechenbar, es taucht auf und verschwindet, ohne, dass man es beherrschen könnte. Die Guerilla-Taktik des Bösen wird auch der Wiederkehr des Verdrängten – vulgo: dem Wahn – zugeschrieben. Zwar nicht auf Knopfdruck, aber nicht selten auf bestimmte Schlüsselreize hin explodieren aufgestaute negative Gefühle; bei Charakteren wie dem König hier spalten sich Ängste und tabuisierte Gelüste ab, führen zu hitzigen Halluzinationen oder zu scheinbar rationaler Gefühlslosigkeit.
Ludwig II. (er starb 1886) war homosexuell, was zu seiner Zeit strikt tabuisiert war. Heute weiß man, dass er sich heimlich junge Männer zuführen ließ, und auch seine „Affenliebe“ zum Komponisten Richard Wagner trug Züge stark erotisch gefärbter Schwärmerei.
Am 21. November 1867 schrieb Ludwig an Wagner einen Brief, der zur Inspiration für die Eingangsszene des Balletts „Illusionen – wie Schwanensee“ taugen würde:
„Ich schreibe diese Zeilen in meinem trauten gotischen Erker… so anregend wirkt diese Stille, während im lauten Weltgetümmel ich mich fürchterlich unglücklich fühle.“ Der König sah sich als Impresario, als Macher und Muse, als Visionär und Apostel einer Lebensart à la Boheme, aber nicht als Inhaber eines Amtes.
Weiter heißt es denn auch in dem Brief: „… dieses Abhetzen und doch nichts tun, wie es bei Audienzen, Bällen, Festlichkeiten aller Art der Fall ist, ist mir bis in den Tod verhasst.“
Ludwig war in einer Phase, in der er es genoss, Wagner rückhaltlos sein Innerstes zu offenbaren. Kurz zuvor hatte er seine Verlobung gelöst, und die arme Sophie, die er zuerst mit Beachtung beglückt hatte, dann aber kurzerhand sitzen ließ, erschien ihm rückblickend wie eine Falle, der er nur knapp entgangen war. An Wagner schrieb er, er fühle sich „genesen wie von einer lebensgefährlichen Krankheit“.
Tatsächlich hätte die Verbindung für ihn gewissermaßen gefährlich sein können, denn seine Neigungen, die nicht dem konventionellen Verhalten eines bayerischen „Vorbilds“ entsprachen, wären womöglich gerade durch eine offenkundig schlechte Ehe umso stärker in den Fokus gerückt. Die Ehe als Tarnung – diese Idee hätte auch nach hinten losgehen können, zumal, weil der König keineswegs ein Könner in der Kunst der Heuchelei war.
Und auch im Ballett sieht sich der Monarch gezwungen, seine eigentlichen Freuden allein und mit sich auszumachen und zu genießen. Die Freiräume der Heimlichkeit dulden indes keine neugierige Ehefrau. Unsicherheit als Lebensgefühl bleibt dem König dennoch als steter Begleiter – nicht um finanzielle, aber um existenzielle Freiheit geht es da.
In der ersten, schon erwähnten Szene beruhigt sich der König denn auch nach dem eher vergeblichen Gebet bei einem Modell seines Schlosses „Neuschwanstein“: Innig wie an ein Kuscheltier presst sich der König an die Kulissenskulptur. Seine Architektur ist sein Trost, sie entsprechen seinen Vorstellungen einer erneuerten, verschönerten Welt, und zugleich fungieren sie als Existenzbeweis für den König, dessen künstlerisch empfindendes Ich sich im rauen Regierungsalltag allzu oft unterdrückt sieht. Manchen genügt eine Schrebergartenhütte, um dem Ego eine steinerne Behausung zu verleihen; dieser König hier braucht ganze Schlösser von gigantischer Pracht.
Er erinnert sich. An das Richtfest auf Neuschwanstein, auf dem Heiterkeit und Frohsinn herrschten.
Und da ist auch gleich wieder der gut aussehende Graf Alexander, sein bester Freund, vielleicht sogar sein einziger echter Freund, der ihn auch hier umsorgt und ihn unmerklich beschützt. Das Volk jedoch ist ohnehin hier ganz auf Seiten des Bauherrns, also des Königs. Handwerker und junge Bäuerinnen im Dirndl, fein gemachte Kinder und fleißige Bedienstete wuseln umher, und erste Soli, voll von übersprudelnder Festtagsstimmung, bieten tänzerische Highlights.
Unter Applaus wird der Richtkranz empor gezogen – und der König, im eleganten dunkelblauen Samtfrack, beginnt das Entrée.
Es ist ein Solo, gewebt aus Hoffnung und Melancholie, aus Bewunderung für das entstehende Bauwerk und auch aus Dank den Händen, die es schaffen, gegenüber. Aber es zeugt auch von der Bemühung des Königs, sich bei seinen Untertanen verständlich zu machen: Dieser Mann hier will wie ein Künstler verehrt werden, möchte für seine ästhetischen Ideen geliebt werden, nicht für politische Taten.
Mit rasant hohen Sprüngen verschafft er seinen Träumen Raum.
Und gibt dann den Handwerkern einzeln die Hand, sie ermunternd, ihnen mehr wie ein Demokrat denn wie ein König ins Gesicht schauend.
John Neumeier ließ es sich also nicht nehmen, aus diesem König einen frühen Demokraten zu machen – eine Fiktion, die so überraschend wie sinnvoll ist. Sie erleichtert den Politikern im Publikum die Identifikation – und sie weckt generell das Interesse an Menschen, die auch die Leistungen von untergebenen Personen anerkennen und die ihre hohe soziale Stellung nicht für ständige Selbstbeweihräucherung missbrauchen.
Ein Paar aber schmückt das bunte Treiben auf dem Richtfest ganz besonders: Es sind Graf Alexander und seine Verlobte Prinzessin Claire.
Die zierliche Katherina Markowskaja und der geschmeidige Javier Amo tanzen dieses Paar, und sie stehen für all das blühende Glück, das dem König für immer fremd sein wird.
Zärtlich und gegenseitig fürsorglich, lyrisch, dennoch auch sich neckend – so tanzen die beiden miteinander, während vor allem Claire in ihren Soli eine unbändige Freude auf die Zukunft formuliert. Wie Ponyhufe in der spanischen Dressur bewegt sie die Vorderfüße in einer ausscherenden Vorwärtsbewegung auf dem Platz, dabei mit glückseligem Lächeln hinsehend. Kann Liebe einen mehr erfreuen?
Alexander darf seine Verlobte denn auch keck auf seinen Schultern platzieren, nachdem in einer Quadrille, also einem Tanz mit vier Paaren, auch mal munter die Partner gewechselt wurden. Übrigens kam Kevin Haigen, heutiger Erster Ballettmeister von John Neumeier, 1976 von Stuttgart nach Hamburg, um die Rolle des Grafen Alexander zu tanzen, nachdem sich Truman Finney, damals Tänzer und später auch Ballettmeister, verletzt hatte. Die Karriere des damaligen jungen Ensembletänzers Haigen nahm von da an einen rasanten Verlauf…
Tatsächlich hat die Rolle viel zu bieten, ihr Tänzer kann eine ganze Palette an Ausdrucksmöglichkeiten zeigen – und auch seine Bühnenpräsenz wirken lassen.
Javier Amo wird dieser „Prinzenrolle“ in seiner Interpretation viel Charme verleihen. Und dass Alexander die hübschesten Herrenkostüme der ganzen Inszenierung trägt, wird der Sache ganz sicher keinen Abbruch tun – er ist sozusagen everybody’s darling.
Claire wiederum hat die huldvolle Leichtigkeit einer frühsommerlichen Mittagsstunde an sich. Die große blaue Schleife ihres Kleides betont die bezaubernde Mädchenhaftigkeit dieser Person; die indes wird von der exquisiten Ballerina Katherina Markowskaja ohnehin zur Gänze verkörpert.
Die Pas de deux von Alexander und Claire auf dem Richtfest – und später auch als russische Folklore auf einem Maskenball – sind delikate, klassisch-moderne Paartänze, die Fröhlichkeit und Zuversicht ausdrücken, aber auch Innerlichkeit und Loyalität. Und zwar ohne auch nur den geringsten Anflug von Kitschigkeit! So etwas ist vielleicht schwieriger zu gestalten als die meisten tragisch-dramatischen Duette…
Auf der DVD von „Illusionen – wie Schwanensee“, die im Handel ist, tanzt das Hamburg Ballett das Stück. In der Hauptrolle brilliert ein fabelhafter Jiří Bubeníček, und das Paar Alexander-Claire wird von Alexandre Riabko und Silvia Azzoni getanzt – mit viel Herzlichkeit bei hoher technischer Präzision.
Es gibt aber noch jemanden, der auf diesem Richtfest in „Illusionen – wie Schwanensee“ eine besondere Rolle spielt: Cyril Pierre als Prinz Leopold.
Dieser wurde von Neumeier zum Führer und Tanzpartner der Königinmutter (mit Hoheit in jedem Blick: Zuzana Zahradníková) bestimmt. Mit seinen glänzenden militärischen Abzeichen zeigt Leopold ostentativ seinen hohen Platz in der Gesellschaft. Und er ist kein wirklicher Anhänger des Königs. Er klüngelt mit den Dunkelmännern aus dem Staatsapparat, und er steht für eine soldatische Haltung, in der die Etikette alles und die Freiheit nichts ist. Faktisch ist Leopold ein Feind des Königs, er steht auf der anderen Seite, menschlich wie politisch.
Aber er sieht dem Pas de trois, den der König mit der Königinmutter und der Prinzessin Natalia tanzt, mit gekünsteltem Wohlwollen zu. Leopold ist nämlich ein guter Heuchler.
Natalia hingegen ist ganz das Gegenteil. Sie ist aufrichtig verliebt in den König, und sie „ersetzt“ im Ballett „Illusionen – wie Schwanensee“ Ludwigs Verlobte Sophie mit einem Übermaß an Sensibilität und Fürsorge. Ekaterina Petina tänzelt dazu graziös, wenn es darum geht, dem König Mut zu machen, und sie steht auch wörtlich stark zu ihm, wenn er szenisch in Schwierigkeiten gerät. Das Repräsentieren liegt dieser Natalia zudem so sehr im Blut, dass man sagen muss: Sie wäre eine optimale Partnerin für den schrägen, manchmal menschenscheuen König.
In einem mittelblauen, seidig schimmernden Kleid mit einem Volant am Ausschnitt und großem Glockenrock praktiziert Natalia denn auch ihre Vorstellung von Monarchie. Die ist auf jeden Fall gut gekleidet! Und sie hat viel zu bieten: einladende, große Gesten mit den Armen, dazu spielerische und doch sehr beherrschte Bewegungen mit den Beinen…
Jeden anderen Mann könnte das überzeugen. Aber der König ist halt nicht wie jedermann. Die sonst soghafte Wirkung der Balancen und Posen, die Ekaterina mit schneidiger Präzision zeigt, prallt an diesem Egozentriker zweifelsfrei ab.
Dabei vergisst man hier angesichts der Spielfreude auch des hervorragend beschäftigten Corps de ballets – für das sich etliche Soloparts ergeben –dass der Gebieter all der Festlichkeiten im Grunde ein solcher Festmuffel ist wie dieser König.
Und prompt lässt der Lakai, der galant auf einem Tablett den Sekt bringt, des Königs gute Stimmung kippen. Denn dieser Diener sieht aus wie, nein, er ist es selbst: der Mann im Schatten. Der König hat Mühe, die Fassung zu wahren.
Die Durchdringung der Realität mit den solchermaßen personifizierten Ängsten gehört zum Konzept der Inszenierung. Sogar in den Erinnerungen des Königs – das gesamte Richtfest ist ja als Erinnerungsepisode angelegt – taucht der schwarze Mann auf, vor dem der König Todesangst hat.
Man kann natürlich spekulieren, ob eine solche Angstfantasie nicht auch in einem Trauma der Kindheit wurzelt. Und natürlich kommt hier sexueller Missbrauch – etwa durch einen katholisch-mönchischen Erzieher – in Frage. Nur weil man im 19. Jahrhundert nicht über solche Dinge sprach, fanden sie ja nicht nicht statt. Im Gegenteil: Noch bis in die Weimarer Republik hinein gab es auf der Bordellebene sanktionierte Prostitution mit dazu gezwungenen Kindern und Jugendlichen. Die Theaterfigur der „Lulu“ von Frank Wedekind ist da ein erster deutlicher kultureller Beleg.
Im Stück wird die Kindheit des Königs allerdings nicht direkt thematisiert. Nur, wenn er mit seinen Boxhandschuhen – die es damals tatsächlich schon gab – herum tollt, kann man sich denken, dass er Nachholbedarf hat und die hoheitliche Kindheit gewiss nicht schön war.
Umso wichtiger ist ihm die gute Verbindung zu Graf Alexander, in der viel Kindheit mit vertrauensvollem Umgang miteinander nachgeholt wird. Prinzessin Natalia erringt allerdings nicht in solchem Umfang seine Zuneigung – zu sehr ist deren Position vom Höfischen geprägt.
Ein Pas de deux mit Natalia verhilft dem König dennoch einerseits zu neuer Stabilität, überfordert ihn andererseits aber auch, und er fällt rückwärts in die Arme nicht etwa von Natalia, sondern von seinem Freundfeind, dem Mann im Schatten.
Es ist auffallend: Bei allen emotionalen Wendepunkten taucht dieser mysteriöse Schatten auf, der König kann sich dann seinen eigenen Ängsten nicht mehr entziehen. Und manchmal scheint er fast ein liebevoller Bruder zu sein.
Bruder Schlaf, Bruder Tod: Sachte legt er den König schlafen. Das Fest fand ein jähes Ende.
Diese Szene weist weit voraus, auf den Schluss, wenn die Beziehung des Königs zu seinem Schatten ihren traurig-tragischen Höhepunkt erreicht.
Zur Partie des Königs ist Einiges zu sagen. Vor allem ist sie: allerhand. Ein konventioneller Siegfried hat dagegen fast wenig zu tun.
Und schon zum Ende des Richtfests hat Tigran Mikayelyan als König ein Pensum hinter sich, dass man erschöpfend nennen könnte. Die schauspielerischen und technischen Anforderungen sind schweißtreibend hoch; der ständige Wechsel der Stimmungen und Szenen, der Tanztempi und Expressionen kennt kaum eine Unterbrechung…
Auch die nächste Szene hält große Emotion bereit. Es ist sogar die Schlüsselszene für das ganze Stück, in der klar wird, welcher Welt die Sehnsüchte des Königs wirklich gelten. Es ist der weiße Rausch!
Denn der König wohnt einer so genannten „Separatvorstellung“, also einer Privatvorstellung bei. Und es wird nicht etwa eine Oper von Richard Wagner gegeben, wie sie sich der „echte“ Ludwig II. manchmal vorführen ließ, sondern, natürlich: das Ballett „Schwanensee“ steht auf dem Spielplan. Die Illusionen aus dem Titel „Illusionen – wie Schwanensee“ beziehen sich in erster Linie auf all die Wünsche und Sehnsüchte, die sich im „weißen Rausch“ des Schwanenballetts versammeln.
Auftritt Lucia Lacarra! Die zarte Primadonna assoluta des zeitgenössischen Balletts, der nach meiner Beobachtung einfach niemand das Wasser reichen kann, kommt als junge Prinzessin Odette auf die Bühne, die beim Blumenpflücken von einer dunklen Macht, vom hier maskierten Zauberer Rotbart, entführt und in einen Schwan verwandelt wird.
Das blaue Licht zeigt dann die Nacht an, in der die verzauberten Schwäne wieder zu Mädchen werden dürfen. Odette tanzt ein lyrisch-trauriges Solo, das die Essenzen des „Schwanentanzens“ in sich vereint. Da ist das streng-erhabene Element aus der Originalchoreografie (1877) von Lew Iwanow, da ist aber auch das flatternd-leidende Vergehen des „Sterbenden Schwans“, den Mikhail Fokine 1905 für Anna Pavlova schuf.
Für Lucia Lacarra und ihre phänomenalen Spitzenschuh-Füße, für ihre schön geformten Beinmuskeln und ihre anmutigen Arme, für ihre feingliedrigen Finger und ihren zarten, aber eigensinnigen Schwanenhals und auch für ihr edles, sanftmütiges Köpfchen ist diese Partie wie gemacht. Sie ist in dieser Rolle wie ein feines, kunstvolles Gebilde aus vielen Lyrizismen mit einem Hauch Federwerk darin. Tatsächlich besteht ihr Schwanen-Tutu nicht nur aus Tüll, sondern aus Federn. Und sie scheint mehr zu fliegen als zu tanzen… Kein Wunder, dass der Künstler, der Lucia Lacarra im Auftrag des Bayerischen Staatsballetts portraitierte, ihre Interpretation dieser Rolle als Bildmotiv wählte.
Mit suggestiv-poetischer Kraft macht Lacarra das Drama der entführten Jungfrau Odette mit wenigen choreografischen Mitteln deutlich.
Vor allem aber schafft sie es, den doppelten Boden des raffinierten Neumeier’schen Librettos zu zeigen: Sie tanzt hier ja nicht die Schwanenprinzessin an sich, sondern sie stellt sie in einem Ballett im Ballett dar.
Der Trick des Theater-imTheater findet sich bei Neumeier häufig und ist immer ein Hinweis auf eine zusätzliche Ebene der Handlung. Umso pikanter die Situation während des laufenden Spiels.
Und Lucia Lacarra weiß das genau: „Diese Bühnensituation ist so speziell, denn ich tanze ja nicht nur Odette, sondern ich tanze die Ballerina, die Odette tanzt.“ Das verlangt höchste darstellerische Kunst und ist besonders schwierig deshalb, weil jede klassisch ausgebildete Tänzerin ein mehr oder weniger festes Bild dieser Partie bereits in der Ausbildung entwickelt. Wenn sie dann die Neumeier-Version vom „Schwanensee“ tanzt, muss sie davon abrücken, muss umschalten und etwas ganz Neues hinzufügen:
Sie muss tanzen, dass sie tanzt. So gesehen, ist Odette hier auch eine hoch philosophische Rolle.
Besondere Bedeutung erhält das in jenem Moment, in dem der König seinen Zuschauerstuhl auf der Bühne verlässt, um den Tänzer des Siegfried – der bezeichnenderweise in München derselbe Tänzer wie Prinz Leopold ist – zur Seite zu drängen und selbst die Heldenrolle einzunehmen.
Was für ein Moment!
Odette ruht in der Pose des soeben verstorbenen Schwans, als der König zum Künstler wird. Er wird zum Tänzer, indem er ihre Arme hochhebt und sie anstelle von Siegfried zum Paartanz auffordert.
Nun ist das vielleicht ein Wunschtraum, den viele Ballettfreunde heimlich hegen: einfach eingreifen zu können ins Bühnengeschehen – und sogar selbst mitzutanzen.
Ein Zuschauer, der sich das einfach mal eben so erlaubt, muss entweder besonders machtbewusst sein oder ziemlich durchgeknallt. Der König kann es sich erlauben, weil er König und Privatkunde des Balletts ist. Was indes nicht heißt, dass wir künftig Sponsoren auf der Bühne sehen wollen!
Der Choreograf Ohad Naharin hat in seinem 1999 für die Jugendcompany des Nederlands Dans Theaters entwickelten Stück „Minus 16“ am Ende die Tänzerinnen und Tänzer sich Tanzpartner aus dem überraschten Publikum holen lassen. Solche Versöhnungsgesten am Schluss eines Programms – symbolisch über den Orchestergraben hinweg – sind gar nicht mal so selten, haben vor allem im Kindertheater oder im Cabaret ihre Traditionen.
Dass aber in ein klassisches Ballettstück ohne Einwilligung der Künstler solchermaßen „eingebrochen“ wird, kommt einem Tabubruch gleich.
Lucia Lacarra: „Ich bin dann als Darstellerin der Odette in der Rolle natürlich sehr erstaunt. Aber ich muss auch zusehen, dass die Vorstellung weiter läuft. Und da gibt es ein paar sehr schöne Momente zwischen mir und dem König. Denn ich bin diejenige, die weiß, wie der Tanz weiter geht, und ich nehme ihn mit in meine Welt, die ihn so fasziniert.“
Die Primaballerina hat sich auch Gedanken darüber gemacht, was in ihrem Tanzpartner vorgeht: „Der König ist verliebt in diese Bühnenfigur Odette. Er sieht sie, und er kann nicht widerstehen.“ Obwohl sie keine reale Frau ist, sondern eine Bühnenfigur, zudem noch ein weißes Zauberwesen, ein Schwan. Lucia Lacarra: „Die reale Frau, die ihn liebt, übersieht der König. Das ist seine Verlobte Natalia. Sie ist bereit, alles für ihn zu geben! Aber er kann oder will sie nicht für sich akzeptieren.“
Dennoch verleiht der „Kunstgriff“, den König auf die Bühne-auf-der-Bühne zu schicken, dem Stück seine neue Tiefe: Odette tanzt hier nicht nur mit Siegfried bzw. ihrem Kollegen, der den Siegfried tanzt, sondern auch mit einem Teil des Publikums. Und der König steht somit zugleich für das Zuschauersein wie auch für das Herrschersein, denn nur er kann es sich leisten, ohne vorher dazu aufgefordert zu sein, auf die Bühne zu kommen.
Lucia Lacarra, die Vielseitige, kennt aber auch die andere weibliche Perspektive des Stücks, denn sie hat auch schon oft die Rolle der Prinzessin Natalia getanzt. Seit April 2011 tanzte sie diesen gefühlvollen Part der Verliebten, die sich immer wieder um den König und um sein Wohl bemüht, in München. Die Partie der Odette kam dann Ende des Jahres 2011 dazu: Lucia musste für eine Kollegin einspringen und die Partie an einem einzigen Nachmittag lernen. Furios!
Und Lacarra setzte sich auch inhaltlich mit der Szene auseinander: „Der König wird in dieser Szene zum Teil seiner Zauberwelt“, sagt sie, um die Brisanz dieser Szene zu betonen, und sie hat im Erklären des Stücks eine solche Kompetenz, dass jeder Dramaturg von ihr noch lernen könnte.
Hält sie den König im Ballett für verrückt? Oder hält Odette ihn für verrückt? „Nein“, sagt Lucia Lacarra, „er ist nicht wahnsinnig, er ist aber anders als die meisten Menschen.“
So verhielt es sich wohl auch mit Ludwig II., der mit Falschbegutachtungen und ziemlich primitiven Denunziationen für paranoid erklärt wurde. Dass er kein unkomplizierter Typ war, steht außer Frage. Aber man machte ihn nicht um seiner selbst willen, sondern um ihn als Monarch loszuwerden, auf dem Papier zum Geisteskranken.
Im Ballett spielen indes die Gefühle des Königs die tragende Rolle. Wie es ist, wenn man bemerken muss, dass man ständig argwöhnisch beobachtet wird. Wie es ist, wenn man nicht mehr weiß, wem man trauen kann und wem nicht. Prinz Leopold zum Beispiel müsste dem König schon auf dem Richtfest geradezu Angst einflößen, wüsste der König nur, was Leopold gegen ihn plant.
Dass der König, statt die konkrete Gefahr der Entmündigung zu erkennen, nur allgemein-diffus in Panik gerät, passt weniger zu einem Krankheitsbild als vielmehr zu einem funktionierenden, fast animalischen Instinkt. Der König weiß nicht, was vor sich geht, er kann es auch nicht wissen, aber er spürt es. Für die tänzerische Kunst ist diese innere Handlung zum Verständnis des Königs wichtiger als die Rolle des Psychiaters, den es in Ludwigs Leben „in echt“ gegeben hat und der im Ballett nicht existiert.
John Neumeier entfernt sich denn auch immer wieder deutlich von der historischen Vorlage des Bayernkönigs ebenso wie von der „Schwanensee“-Vorlage, sofern man von „Vorlagen“ überhaupt sprechen kann. Da sind zwar Momente wie die Enthüllung eines Gemäldes, das den König zeigt, und auch seine Kleidung und seine Frisur zielen auf Ähnlichkeit mit Ludwig ab. Und der „Schwanensee“-Teil zitiert selbstredend die Inszenierung von Marius Petipa und Lew Iwanow von 1877.
Aber in den entscheidenden Situationen triumphiert hier die künstlerische Freiheit – und lässt Szenen und Vorgänge stattfinden, die theaterwirksamer sind als Ludwigs Schicksal es war. Neumeier selbst formulierte es in einem der alten Programmhefte der Hamburgischen Staatsoper so:
„Für mich als einen Choreografen, der nicht unbedingt revolutionär sein will, ist es unsinnig, das, was bisher geschaffen wurde und sich erhalten hat, zu verneinen. Andererseits erscheint es mir ebenso sinnlos, manieristisch nachzuahmen, ohne den Geist der Choreografie und der sie prägenden Tanzkunst zu erfassen.“ Und weiter: „Es gilt für mich deswegen, eine Alternative zu finden, um ihn in einer modernen Kompanie wie der unseren bewahren zu können.“
So tanzt der König mit Odette streckenweise die klassische Iwanow-Choreografie, als sei er ein Primoballerino aus der Zarenzeit. Während sein Widersacher im Leben, der Prinz Leopold, als Siegfried abseits stehen muss – bis sich die Gelegenheit zu einem Pas de trois ergibt. Des Königs Traum ist eben auch ein Traum von der großen Versöhnung.
Cyril Pierre tanzt hier beide Partien, den Leopold und den Siegfried, was sicher auch dem hohen Aufgebot an solistischen Rollen geschuldet ist. Aber es liegt eben auch eine interpretationswürdige Nuance darin.
Aber auch, wenn zwei verschiedene Tänzer die Rollen tanzen, ergibt sich eine gewisse Konkurrenzsituation zwischen dem König und Siegfried – um die Gunst und die Partnerschaft von Odette zu erringen.
Auf der wirklich sehr empfehlenswerten DVD „Illusionen – wie Schwanensee“, die seit 2001 im Handel erhältlich ist, tanzen die lyrisch-empfindsame Anna Polikarpova, der grandiose Jiří Bubeníček und der spitzbübische Jacek Bres dieses Trio, das vor allem dann einen tiefsinnigen Hintergrund hat, wenn man bedenkt, dass hierin ein König den Schritt zum kurzzeitig akzeptierten Künstlersein vollzieht.
Und es handelt sich zwar um eine Erinnerungsszene, aber nicht um einen Tagtraum. Das heißt: Es besteht kein Zweifel daran, dass der König in dieser Privatvorstellung, der er bis dahin Partitur lesend folgte, seinen Zuschauersitz verließ und begann zu tanzen.
Das die verschiedenen Welten verbindende Element aber ist Odette: im Sinnbild des zum Schwan verzauberten Mädchens liegt der Schlüssel für alles, und das gilt sowohl für den klassischen „Schwanensee“ wie auch für die „Illusionen – wie Schwanensee“.
Etwa vierzig Minuten dauert bei Neumeier der „weiße Akt“, die zur Theatererinnerung umgemünzte Szene, die für die Hauptperson, den König, das höchste Glück anbietet, das er sich vorstellen kann.
Dabei spricht die Überidentifikation des Königs mit der Theaterwelt Bände über seine Befindlichkeit bei Hofe. So unglücklich und unfrei, so uninspiriert und unsicher er sich in seiner „Berufswelt“ fühlt, so gelöst und locker, so selig und freiheitlich gebärdet er sich auf der Bühne. An diesem König ist in der Tat ein Künstler verloren gegangen!
Natürlich ist das Neumeiers Fantasie und hat mit dem „echten“ Bayernkönig nicht mehr viel zu tun. Der reale Ludwig II hatte zwar zweifelsohne einen hervorragenden Geschmack, zumal, was die den Zeitgeist spiegelnde Architektur und die Musik betraf. Er förderte auch, sogar mit sehr hartnäckigem Wohlwollen, Richard Wagner, den zu Lebzeiten noch oft verkannten Komponisten und Neuerfinder von Oper als Gesamtkunstwerk – aber ein Künstler im Sinne von auch handwerklicher Ausführung einer Konzeption war Ludwig eigentlich nicht.
Als Mäzen verdiente sich Ludwig II. allerdings mehr Meriten, als allgemein angenommen wird. So ist der weitere Werdegang des damals hoch verschuldeten und zeitweise sogar steckbrieflich gesuchten Wagners, der ohne einen gewissen Luxusaufwand um sich herum nicht musisch arbeiten konnte, ohne die segensreiche Wirkung der königlichen Förderung überhaupt nicht mehr vorstellbar.
Kreativität braucht schließlich auch zu Lebzeiten des Künstlers Auftrieb, nicht erst den postumen Ruhm! Hierin lag Ludwigs eigentliche Berufung, sein eigentlicher Verdienst. Wagner hätte ohne in womöglich niemals den „Ring“ oder andere Weltopern fertig gestellt.
Und auch Ludwigs Schlösser sind keineswegs lediglich bombastische Zeugnisse für den Größenwahn eines Irren.
Sie zeugen von einer mitreißenden Fantasie, die mit Schloss Neuschwanstein im Walt-Disney-Zeitalter sogar zum weltweit in allen sozialen Schichten verbreiteten Inbegriff eines Schlosses, einer Burg wurde. Das gilt für die Zinnen, aber auch für Details der Inneneinrichtung.
Feinsinn trifft dabei auf „Schöner-Wohnen“-reife Ideen, die für Ludwig entwickelt wurden.
Das legendäre „Tischlein-deck-dich“ etwa, eine Versenkeinrichtung, die es erlaubt, den ganzen Esstisch eine Etage tiefer zu ziehen, dort abzuräumen, neu einzudecken und für den nächsten Gang wieder hoch zu hieven, zeigt derweil auch die gewählte Einsamkeit und das Fremdeln des Monarchen: Ludwig II. war nicht glücklich, wenn seine Lakaien um ihn herum schwirrten und er annehmen musste, dass sie ihn zugleich gegen seine Interessen bespitzelten. Das „Tischlein-deck-dich“ ließ er nämlich nur deshalb installieren, um keine Domestiken beim Mahl dabei zu haben.
Märchenhafte Symbole finden sich derweil auf Neuschwanstein zuhauf. Darunter natürlich auch Schwäne.
Schwäne, als romantische Wappentiere und märchenhafte Fabelwesen, atmen den romantisierenden Zeitgeist. Man suchte im Mittelalter und in einem bestimmten Naturverständnis so etwas wie die Seele des Humanismus. Der Schwan als Symbol für das Reine, Unschuldige, Schöne, Gute verband im romantischen Kosmos die Werte der Zivilisation mit der angestrebten Ursprünglichkeit.
Für Ludwig verbanden sie sich zudem mit dem „Lohengrin“-Mythos, den Richard Wagner in seiner gleichnamigen Oper auffuhr. Und wenn im Ballett „Illusionen – wie Schwanensee“ später ein Maskenball erinnert wird, dann trägt der König, natürlich, nicht nur ein Siegfried-Kostüm, sondern, gleichermaßen gesteigert, ein Schwanenritter-Wams.
Wieder sind die königlichen Farben: Gold und Blau. Die Stimmung des Herrschers ist allerdings weniger majestätisch. Und tatsächlich ist auch wieder der Herrscher der dunklen Welten anwesend, wenn auch gut getarnt. Marlon Dino tanzt, wie übrigens alle Besetzungen vom Mann im Schatten, den schwarzen Clown, der mit einer Horde weißer Clowns dekadent-folkloristisch herum tollt und dann versucht, den kunterbunten, feminin-klassisch tanzenden Schmetterling mit einem Riesennetz einzufangen.
Umsonst, die Freiheit der Gedanken, die der Schmetterling hier verkörpert, ist für den bösen Clown, den zynischen Spötter, dem alle Romantizismen kindisch sind, nicht zu haben! – John Neumeier gelang mit dieser kleinen Szene mal wieder ein philosophisches Statement seiner Weltanschauung.
Aber auch all die Folkorismen, die „Schwanensee“ stets traditionellerweise zu bieten hat, finden sich hier auf dem Maskenball ebenfalls: der spanische Tanz („Bolero“), der ungarische „Salon-Czardas“ – und eine vornehm-edle Variante des russisch-slawischen „Khorovod“, der von Claire und Alexander angeführt wird und der einen temperamentvoll-neckischen Einblick in die Welt höfisch assimilierter Folklore bietet.
Das Fest findet seinen Höhepunkt mit einem Violinensolo-seligen Pas de deux, den der König mit seiner Verlobten Natalia tanzt. Für einige Minuten scheint hier mal die Welt des Bayernkönigs in Ordnung zu sein – zumal Natalia, die des Königs Liebe zu Odette, dem Bühnenschwan, bemerkte, im Schwanenkostüm erscheint.
Ekaterina Petina hat hier auch jene Virtuositätsprüfungen zu absolvieren, die normalerweise Odile, dem „Schwarzen Schwan“, obliegen. Also unter anderem die seriellen Fouettés, an die sich die À-la-Seconde-Pirouetten des Königs anschließen. Allerdings ist der Ausdruck von Natalia ein ganz anderer als der der Rotbart-Tochter Odile. Warmherzigkeit und Herzensgüte statt coole Verführung und boshafte Täuschung sind angesagt! Und siehe da, die klassisch überlieferte Choreografie macht das mit, insoweit sie hier übernommen wurde.
Auf die langsame Steigerung dieses Paartanzes, vom Adagio bis hin zu den furiosen Spagat-Rotunden des Königs und eben den Fouettés, sollte man hier achten – es ist eine Spezialität von Neumeier, solche Bögen so spannend zu gestalten.
Überhaupt becirct das Stück mit seinem hervorragend getimeten Set, das im Einklang mit der Choreografie und mit der neu zusammen gestellten sowie um weitere Tschaikowsky-Stücke erweiterten Musik ein insgesamt doch ganz neues Werk ergibt – und eben keinen oberflächlich „aufpolierten“ oder mal gegen den Strich gebürsteten „Schwanensee“.
Die Steigerung im Sinne von steigender Spannung bis zur letzten Sekunde begeistert zudem auch nach vielfachem Ansehen – darum nochmal auch der Hinweis auf die DVD.
Alles strebt dann auf die Katastrophe am Schluss zu. Aber kein See droht da über die Ufer zu treten und das Paar mit sich zu reißen, sondern das Böse in Gestalt der beamteten Dunkelmänner tritt in Aktion.
Der König, der eben noch bestens gelaunt seine brillanten Sprünge und Pirouetten absolvierte und sich dann dem allgemeinen Walzer-Vergnügen hingab, sieht sich plötzlich wieder mit dem Mann im Schatten konfrontiert: Der schwarze Clown zeigte ihm sein Gesicht unter der Maske.
Der König flippt aus. Und er wird von den nur drauf lauernden Beamten, die Leopold um sich schart, ergriffen: als handle es sich um eine Polizei in Zivil. Wie ein Opfer staatlicher Gewalt landet der König in seinen „gotischen Erker“. Als handle es sich um eine Art Gummizelle oder Ausnüchterungszelle oder auch Untersuchungshaft.
Natalia erscheint. Sie hat noch nicht aufgegeben, will sich um den König kümmern. Er erschrickt, als er ihr Schwanenkostüm erkennt. Sie bezieht das auf ihre weibliche Figur. Es ist grotesk, aber genau so laufen manche psychologische Momente ja ab. Missverständnisse bilden Barrikaden – und prägen den weiteren Kommunikationsverlauf.
Ein dennoch ergreifender Pas de deux entspinnt sich. Er ist deshalb so ergreifend, weil diese Frau, Natalia, alles tut, um den König zu verstehen und ihm gute Gefühle zu vermitteln. Es ist fast ein Wunder, dass sie ihm nicht ganz offen anbietet, einen guten Blowjob zu erledigen. Ob ihm das gefallen würde?
Sie versucht, ihn mit allen Mitteln zum Lebenswillen zu bringen, sie offenbart ihm letztlich auch ihre tiefen Gefühle für ihn, sie fällt dafür vor ihm zu Boden, was ihn in der Tat nicht kalt lässt. Er hebt sie empor, er trägt sie, sie genießt es schon fast – aber da lässt er von ihr ab, immer wieder lässt er sie stehen. Dann tanzen sie wieder, vergessen wieder scheinbar Zeit und Raum – bis er sich abrupt erneut in sein Unglück fügt, sich von Ablehnung und Furcht übermannen lässt.
Sie stellt ihn zur Rede, nicht hart und ruppig, sondern zart vor ihm auftrippelnd, anfragend, einfühlsam. Sie erreicht einen Paartanz erlesener Güte – aber immer, wenn sie vertraut und intim werden will, bricht er ab. Er traut ihr nicht – sie ist eine Frau, und er, nun ja, ist ein Schwuler. Dennoch ist sie eine Verführung, zumal in diesem Kostüm, aber wie weit wird sein verstörtes Gemüt es verkraften, dass eine Frau statt eines begehrten Mannes vor ihm steht?
Als er traurig seinen Kopf in ihren Schoß bettet – nach einer atemberaubenden, weil himmelhochjauchzenden, aber auch abgrundtief traurigen Hebefigur – glaubt man fast an aufkeimende gegenseitige Liebe zwischen den beiden. Aber es hilft nichts: Als sie nebeneinander knien und es beinahe zum innigen Kuss zwischen ihnen kommt, lässt er sie wieder sitzen. Flugs ist er auf und davon – und sucht Halt an seiner Gebetsbank, in einer ziemlich verqueren Position, die seine vielfältige Konfliktsituation deutlich macht.
Natalia geht. Sie muss einsehen: Es hat keinen Sinn, weiter um ihn zu werben. Er will sie nicht. Er ist der Einsamkeit geweiht.
Der König träumt sich jetzt noch einmal zurück in die Kunstwelt der Bühne mit all den zauberhaften Schwänen. Noch einmal flattern um ihn die weißen Zaubermädchen.
Doch das hier ist auch die Stunde des Schicksals, denn der Mann im Schatten erscheint. Und der König? Er läuft nicht davon. Er sucht sogar seine Nähe. Er bettet den Kopf an die Brust des dunklen Mannes. Er nimmt den schwarzen Mann als Fatum an.
Der finale Paartanz, ein dramatisches Duett, das zugleich ein subtiler Kampf ist, beginnt…
Weltberühmt ist dieser Männer-Pas-de-deux, der zum Besten dessen gehört, was je für Tänzer kreiert wurde.
Noch inmitten der Schwäne – die, das Ende des Stücks antizipierend, in der Todes-Position des „Sterbenden Schwans“ ausharren, bis eine Oboen-Melodie sie zum tänzerischen Laufen auffordert – winden und drehen sich die beiden Männer: Sie sind jetzt der Tod und sein Opfer. Die Schwäne fliehen vor der dunklen Macht. Aber der König ist dazu schon viel zu tief verwickelt in die Illusion seines zweiten Ichs.
Abwechselnd heben sie sich empor, aber immer wieder gewinnt der Mann im Schatten die Oberhand.
Wenn sie synchron tanzen, sieht es fast wie ein Wettkampf aus.
Doch dann liegt der König auf Knien, sein Kontrahent ergreift seine Hand und zieht und wirbelt und manövriert ihn über die Bühne, die plötzlich das Nichts ist.
Weitere Hebefiguren folgen – der König liegt am Boden. Von nun an hat der Mann im Schatten ein leichtes Spiel. Aus der Sicht der Zuschauer zumindest, nicht aus Sicht des Tänzers! Denn er hebt den König noch einmal kraftvoll kopfüber hoch, trägt ihn solchermaßen ins kühle Grab – bis ein bühnengroßes, blaues Seidentuch aus dem Schnürhimmel fällt… das Wasser des Starnberger Sees, in dem Ludwig II. unter ungeklärten Umständen ertrank, ist gemeint.
In der Dunkelheit blitzt jetzt noch einmal das mondblaue Profil des Schattenmannes auf. Noch einmal ergreift er den jetzt reglos unter dem Tuch wie unter einem Leichentuch liegenden König. Der Mann im Schatten trägt den König jetzt auf Händen, jetzt, da er nicht mehr lebt.
Und der rollende Schlussakkord der Musik, dieser berühmte Akkord vom „Schwanensee“, bekommt eine neue, zusätzliche Bedeutung. Denn auch die innere Verwandtschaft von Ludwig II. zum Komponisten Peter I. Tschaikowsky, der nach dem Genuss eines bazillenverseuchten Glases Wasser an der Cholera starb (und das womöglich so wollte), wird jetzt nochmals deutlich. Auch Tschaikowsky war homosexuell und auch er litt unter seiner gesellschaftlichen Situation. Tschaikowsky hatte, so der Literaturwissenschaftler Hans Mayer, zeit seines Lebens starke Todesahnungen, die er in seinen Tagebüchern stets schlicht „das Gefühl“ nannte.
Dem kurzen Aufflammen des weißen Rauschs, des Ballet blanc, folgt der Tod.
Der Tod, der alle Schrecken und alle romantischen Gruselei letztlich doch noch verliert, der nur noch eine Erlösung darstellt, ein wohl verdientes Zur-Ruhe-Kommen – in den Armen eines Stärkeren, der einen schlafen legt wie eine Mutter ihr kleines Kind. Eine Illusion, und auch sie könnte im vieldeutigen Titel gemeint sein: „Illusionen – wie Schwanensee“.
Gisela Sonnenburg
Wegen einer Verletzung bei Tigran Mikayelyan sprang sein Kollege Matej Urban als König ein – ein Rollendebüt!
Termine: siehe „Spielplan“
Die DVD „Illusionen – wie Schwanensee“ erschien bei ZYX.