Die Musik ist der Urgrund von allem Das ist erstens nachweislich und zweitens wunderschön beim Staatsballett Berlin im Abend „Vielfältigkeit. Formen von Stille und Leere“ von Nacho Duato zu sehen

Nacho Duato ist ein Meister des Subtilen.

Beglückt jubelt das Publikum dem Staatsballett Berlin zu: nach einer Vorstellung von „Vielfältigkeit. Formen von Stille und Leere“ in der Komischen Oper Berlin, am 22. Januar 2016. Foto: Gisela Sonnenburg

Ohne Rhythmik läuft gar nichts. Kein Strom fände seinen Weg aus der Höhe ins Tal, kein Baum würde das Rauschen mit den Blättern lernen. Kein Herz würde schlagen, kein Kreislauf pulsieren. Ohne Rhythmen gäbe es keine Melodien, und ohne Melodien keine Harmonie. Die Verbindungen unserer Alltagswelt zu musikalischen Kleinsteinheiten sind sowieso vielfältig – und reichen hinein bis in jene therapeutische Kraft, die man Leben nennt. „Vielfältigkeit. Formen von Stille und Leere“ heißt denn auch das Ballett von Nacho Duato, das der Beziehung des „absoluten“ Musikers Johann Sebastian Bach (1685 – 1750) zu seiner im Barockzeitalter entstandenen Kunst gewidmet ist.

Das 1999 kreierte Stück ist bereits ein Klassiker der Moderne, und im Jahr 2000 wurde es passenderweise mit dem „Benois de la danse“ in Moskau ausgezeichnet, dem wichtigsten Preis in der Ballettwelt. Das Staatsballett Berlin tanzt das abendfüllende Themenballett seines Intendanten mit Verve, bis ins kleinste Detail gearbeitet, ohne dabei routiniert oder versteift zu wirken – dazu mit besonderer Musikalität.

Und das, nebenbei bemerkt, auch fast ein Jahr nach der Premiere: Es kennzeichnet die hohe Qualität dieser Compagnie, dass sie Vorstellung für Vorstellung besondere Arbeit leistet.

Dass Nacho Duato zusammen mit Ismael Aznar auch die fantasievollen Kostüme für „Vielfältigkeit. Formen von Stille und Leere“ entwarf, verleiht der Inszenierung außerdem eine zeitlose Anmutung von sinnlich-modisch interpretiertem Barock: skulptural und tänzerfreundlich zugleich.

Wenn der Vorhang sich hebt, steht da ein einzelner modischer Hocker, ein Designerstück aus der Hand des Bühnenbildners Jaffar Chalabi. Glenn Gould spielt, vom Tonband eingespielt, am Klavier die „Aria da capo“ aus Bachs Goldberg-Variationen. Ein Tänzer (Arshak Ghalumyan) gleitet geschmeidig von rechts in den Bühnenguckkasten, dreht sich behände, findet den im linken Drittel stehenden Hocker als Dreh- und Angelpunkt, als Partner des Tanzes – und dieses Motiv wird von anderen Tänzerinnen und Tänzern aufgenommen.

Da wird ein Triller am Piano zu einem Trippeln auf dem Platz, während man sich am Hocker rücklings festhält.

Der Komponist Bach (Alexej Orlenco) erscheint auf der Bühne, im sanften Abendlicht, anmutig und würdevoll schaut er unter vornehmer Barockperücke auf die Tänzer, und sofort wird klar: Diese verkörpern seine Kreationen, seine Melodien, seine Harmonien, seine Ideen – seine Genialität.

Nacho Duato ist ein Meister des Subtilen.

Alexej Orlenco alias Bach verbeugt sich – das Publikum dankt ihm und dem Staatsballett Berlin mit johlendem Schlussapplaus in der Komischen Oper Berlin. Foto: Gisela Sonnenburg

Alexej Orlenco tanzt den Bach seit Ende letzter Spielzeit, er ist weniger dramatisch als der die barocken Frackschöße wirbelnde Michael Banzhaf, der die Berliner Premiere im März 2015 tanzte. Aber Orlenco hat eine charmant-sanfte, dennoch auch von natürlicher Autorität geprägte Interpretation verinnerlicht, die mit Kontinuität und Verlässlichkeit besticht. Stolz und neugierig schaut sein Bach auf die Tänzerschar, die sich neben ihm seiner Musik hingibt – und die mit fast pantomimischen Gesten ein Credo von Konzentration und Leidenschaft tanzt, die Blicke geradeaus, ins Publikum gerichtet. Wenn die Komposition der Ursprung der Musik ist, so ist das hier eine Impression dessen, in Tanz umgesetzt: Aus einer „zugeflogenen“ Idee entwickelt sich ein Tanzstück.

Als sich der Vorhang wieder senkt, steht Bach abwartend davor, kehrt uns den Rücken zu, bereitet sich und uns solchermaßen auf einen weiteren Akt vor: auf das Musizieren vor Publikum.

Und der Vorhang hebt sich, für den Eröffnungschor „Zerreißet, zersprenget, zertrümmert die Gruft!“ Doch was so religiös-christlich und nach österlicher Auferstehung klingt, wird tänzerisch in pure Lebenskraft umgemünzt: Wie ein Orchester ist das achtzehnköpfige Ensemble gruppiert, jeder be-sitzt jetzt so einen schicken Hocker, und darauf und daran wird körperlich musiziert, also getanzt, dass es eine Freude ist.

Nacho Duato ist ein Meister des Subtilen.

Bach dirigiert! Hier das Staatsballett Berlin mit Nacho Duatos Stück „Vielfältigkeit. Formen von Stille und Leere“ in der Komischen Oper Berlin. Foto: Fernando Marcos

Bach dirigiert! Im Schwung der Melodiebögen steigen und fallen die Hände, die Arme, die Beine modulieren Tatkraft und Poesie im Wechsel. Orlencos Bach als Körper-Dirigent macht eine gute Figur – sein Orchester und der Meister im Einklang.

Und wieder wird auf dem Platz getrippelt, während man sich rückwärts am Hocker Halt holt. Aber kein Tirilieren spendiert die Musik dieses Mal, sondern eine lang gehaltene Note am Taktende. Kleine Hüpfer folgen, lang ausgestreckte Armbewegungen – ein Anfang ist gemacht, und es ist viel mehr als ein Auftakt. Das eigentliche Ballett kann beginnen.

Prompt kommt gleich der berühmte Pas de deux, der Bach und sein Instrument zeigt. Giuliana Bottino tanzte die Partie des lebendigen Cellos schon 2009 in München, beim Bayerischen Staatsballett, mit Marlon Dino als Bach. Jetzt, in Berlin, kann sie, die ins Staatsballett Berlin wechselte, zeigen, wie sehr ihr diese Rolle zum ureigenen Ausdruck wurde. Und natürlich hat sie keinerlei Probleme, mit wechselnden Partnern zu tanzen – sie hat die Schnelligkeit und die Anmut, die Androgynität und die Schönheit, die es braucht, um ein Cello aus der Fantasie von Nacho Duato zu verkörpern.

Nacho Duato ist ein Meister des Subtilen.

Guiliana Bottino tanzte diese Partie, das lebendige Cello, schon in München, beim Bayerischen Staatsballett. Seit der Berliner Premiere 2015 verkörpert sie diesen berühmten Part in Berlin. Foto: Fernando Marcos

Betrachtet man die spanische Kultur als grundlegend für das Werk Duatos, so zeigt sich gerade in diesem Stück, wie maliziös einzelne maurisch-spanische Tanzelemente sich in die Ballettsprache übersetzen ließen. Das lebendige Cello ist gleichsam ein Multikulti-Wunder, ein Instrument, das viel mehr als nur den abendländischen Barock beherrscht.

Alexej Orlenco platziert dieses Wunderwesen auf seinem Schoß, schwingt den Cellobogen, um das Musizieren szenisch deutlich zu machen, und während sich Bachs Suite für Violincello solo G-Dur in satte Höhen schraubt (Anner Bylsma liefert die akustische Interpretation), entspinnt sich ein körperlicher Dialog zwischen Musiker und Cello, der in metaphorischer Hinsicht nicht nur die Liebe zwischen zwei Menschen meint, sondern auch das Selbstgespräch des Komponisten mit seiner Komposition.

Denn es ist undenkbar, dass der volle Klang des Instruments – also die runden, weichen, weiblichen Bewegungen der zierlichen Guiliana Bottino – den Mann und den Künstler Bach alias Alexej Orlenco nicht inspirieren würden!

Mit höchst elegantem Bewegungsfluss absolvieren die beiden diesen Paartanz, sodass man, als er endet, nur darum betrübt ist, dass man ihn nicht gleich noch einmal sehen kann.

Aber der Mini-Paartanz, der dann folgt, hat es auch in sich, er ist aber auch optimal besetzt, seit der Premiere wurde daran richtigerweise nichts geändert: Xenia Wiest und Alexander Shpak tanzen sich unmerklich von rechts nach links, einmal quer über die Bühne, und zeigen dabei eine Beziehung, die fast gar nicht und dann doch immer mal wieder sehr gut klappt. Apropos Klappen: Am Ende des kleinen Stücks zur Passage „Per motum contrarium“ aus dem „Musikalischen Opfer“, in dem sich die Flöte und zwei Violinen um die Vorherrschaft zu streiten scheinen, klappt Shpak seine Partnerin kurzerhand zusammen wie ein Kleinmöbel und trägt sie, als feine Beute sozusagen, lächelnd davon.

Nacho Duato ist ein Meister des Subtilen.

Ein Stück Bach in Noten: Das „Musikalische Opfer“, eine Sammlung von Stücken, die vorwiegend kontrapunktisch angelegt sind, enthält diese Passage im Teilstück „Per motum contrarium“, also in der „Gegenbewegung“. Nacho Duato kreierte dazu einen entzückenden Pas de deux. Faksimile: Gisela Sonnenburg

Das evoziert natürlich immer viele Lacher, es ist, als künde die „Gegenbewegung“, die der Titel des kleinen Musikstücks bezeichnet, auch von einer neuen, selbstironischen Art, mit Ballett umzugehen. Die hehren Gesten, das Pathos, die Theater!-Aussagen, sie werden gebrochen und aufgelockert, ohne, dass man stilistisch krass aus dem Rahmen fallen muss. Bravourös gemacht!

Nacho Duato ist ein Meister des Subtilen.

Bravos nach getaner Arbeit: Xenia Wiest und Alexander Shpak beim Schlussapplaus. Nach „Vielfältigkeit. Formen von Stille und Leere“ von Nacho Duato in der Komischen Oper Berlin. Foto: Gisela Sonnenburg

Auch das folgende Stück ist ein Paartanz, also der dritte in Folge, und wieder zeigt er ganz neue Facetten menschlicher Beziehungen.

Kévin Pouzou und Federico Spallitta, auch sie seit der Premiere hier wörtlich goldrichtig besetzt, liefern eine virtuose Pretiose ab, indem sie in äußerst kapriziös-erotischen Kostümen, nämlich in kurzen, goldenen barocken Reifröcken, synchron und als Paar die Liebe zum Körper und zum nackten Dasein zelebrieren. Die Polonaise der Suite Nur. 2 h-moll konterkariert das, indem sie mit stark monoton angeschlagenem Takt den ersten Teil bestreitet. Erst dann erfolgen ziselierte Piccolo-Flötentöne, die sich wie eine Schar Vöglein, die durch den Frühling ziehen, hier und da mit dem Cembalo und dem Cello einlassen. Ein wunderbares Stück, hintergründig und subtil, musikalisch wie in der Choreografie!

Und noch ein Pas de deux folgt, von zwei Mädchen getanzt: von Ilenia Montagnoli und Elena Pris. Hohe Töne, hohe Beine, die „Violini in unisono“ aus dem „Musikalischen Opfer“ sagen es ja schon im Titel!

Das Allegro aus dem 3. Konzert G-Dur vereint dann fünf Paare mit frisch-freudiger Anmutung. Mal furios, mal verhalten-keck, schleudern sie sich durch die musikalische Fülle, bilden Paare, tanzen Soli, bilden eine Gruppe.

Auf dieses temperamentvolle Zwischenstück folgt ein ebenfalls lebhaftes Stück mit Krasina Pavlova (die die Partie von Polina Semionova aus der Premiere übernahm), die ein furioses Solo mit dem Cellobogen hinlegt. Sie trägt dazu eine weiße Maske, die die oberen zwei Drittel des Gesichts bedeckt und der ganzen Figur etwas Mysteriös-Schelmisches verleiht. Der geschlitzte schwarz-bauschige Rock hingegen vermittelt barocke Sinnlichkeit.

Nacho Duato ist ein Meister des Subtilen.

Ein gutes Gefühl während der Vorstellung und auch beim Schlussapplaus vermittelt das Staatsballett Berlin, hier nach „Vielfältigkeit. Formen von Stille und Leere“ in der Komischen Oper. Foto: Gisela Sonnenburg

Das anschließende Adagio gehört in dieser Besetzung Aurora Dickie und Rishat Yulbarisov, die fast wie ein abstrahierendes Pendant zu Bach und seinem lebenden Cello wirken. Sachte hält Yulbarisov seine Partnerin, gibt ihr Raum, die starken Beine zu strecken, um sie dann zielsicher empor zu heben, dabei immer eine souveräne Figur abgebend. Ein Sinnbild für elegische Schönheit, diese zwei!

Bei der Premiere tanzte diese Frauenpartie Elisa Carrilla Cabrera, deren Stil im Modernen kühler, dafür weicher ist. Es ist faszinierend, wie unterschiedlich und wie schön in dieser Unterschiedlichkeit beide Interpretationen sind.

Mari Kawanishi sorgt dann im folgenden Pas de six der Damen zum ersten Satz des Konzerts für vier Cembali in a-moll für eine große Überraschung: Sie hat den Duato-Stil mit seiner Fließkraft und Präzision genau begriffen – und vollendet umgesetzt. Fantastisch, wie sie hier ihre Bewegungen vollführt, als sei sie eine wie aus einem Guss gefertigte, höchst bewegliche Statue. Da wird die Musik zum fernen Begleiter, denn der Tanz würde auch zum Rhythmus pur, also zum Metronom, passen, um zu begeistern. So viel anmutige Muskelkontrolle ist einfach immer hinreißend!

Mit Aeri Kim, Ilenia Montagnoli, Danielle Muir, Elena Pris und Pauline Voisard ergibt sich zudem ein „Mädchenrudel“, das für sich einzunehmen weiß.

Nacho Duato ist ein Meister des Subtilen.

Die jungen Frauen verkörpern Gedanken und Gefühle des Musikmeisters Bach – und ganz sicher auch des Choreografen Nacho Duato. Hier das Staatsballett Berlin in „Vielfältigkeit. Formen von Stille und Leere“ in der Komischen Oper Berlin. Foto: Fernando Marcos

Nur die Liebe kann da noch mithalten, etwa die von Bach zu seiner zweiten Frau, Anna Magdalena: Sie unterstützte ihn bei seiner Arbeit, bot ihm aber auch zugleich Erdung und Festigung an.

Im ersten Pas de deux mit ihr in der „Vielfältigkeit“ – getanzt von Alexej Orlenco mit Krasina Pavlova im „bürgerlich“-barocken Kostüm – erklingt der rekonstruierte zweite Satz aus dem Konzert für Violine und Orchester d-moll mit Sanftheit, aber auch wie eine Ermahnung, den Boden unter den Füßen nicht zu vergessen.

Sechs Jungs reißen einen dann wieder tief in die Fantasiewelt: Taras Bilenko, Nikolay Korypaev, Kévin Pouzou, Alexander Shpak, Federico Spallitta und Lucio Vidal würzen zum Allegro (3. Satz) aus dem Konzert für zwei Violinen und Orchester d-moll ihren Tanz mit spielerischer Ausdauer und quicklebendiger Power. Die tänzelnden Rhythmen und lang ausgestrichenen betonten Taktschläge liefern hier die entsprechende Klangkulisse, und fast meint man, das Stück sei für den Tanz und nicht umgekehrt kreiert worden.

Vor allem Lucio Vidal nimmt hier mit hinein in seine Welt, eine männlich-erhabene, die keineswegs aggressiv, aber doch stürmisch-passioniert ist. Auch Alexander Shpak passt hier sehr schön dazu: mit hingebungsvollen, kecken Bewegungen, die zu Bachs anheimelnd-getragener Raffinesse einen feinen Gegensatz bilden.

Nacho Duato ist ein Meister des Subtilen.

Bach muss sich seinen Visionen stellen: so einem Schattentanz zur hubernden Melodie aus dem „Notenbüchlein für Anna Magdalena Bach“. So zu sehen beim Staatsballett Berlin mit Nacho Duatos „Vielfältigkeit. Formen von Stille und Leere“. Foto: Fernando Marcos

Der Schattentanz, der zum Menuett G-Dur aus dem „Notenbüchlein für Anna Magdalena Bach“ erscheint (diesem „Ohrwurm“ aus wohl jedermanns Klavierunterricht), hat dann die Aura einer geisterhaften Vision, zugleich das Flair von Kinderzimmerwelt, in der die Schatten bei nächtlicher Beleuchtung Wunschwelt und Gruselkabinett in eins sind.

Bach, also Alexej Orlenco, stellt sich dem, ohne Angst und ohne Feigheit – bis er zum Tanzen aufgefordert wird. Und um ihn herum wuseln auf einmal wieder seine Ideen, seine Gestalten – seine Genialität ist erneut erwacht.

Ein zweiter Paartanz von Bach mit seiner Gattin zeigt dann die Nähe und Intimität des Paares, aber auch die abgeklärten Rituale einer Ehe.

Aufgestaute Energie entlädt sich sanft und Stück für Stück im Adagio des dritten Satzes der Sonate für Violine und Cembalo Nr. 5 in f-moll – das Ensemble umgarnt seinen Meister Bach, und die vielseitige Harmonie zwischen ihnen steigt – der Komponist ist auf der Höhe seiner Kräfte, als der erste Teil des Abends, die „Vielfältigkeit“ endet.

Der zweite Teil, die „Formen von Stille und Leere“, ist vor allem der Kunst der Fuge gewidmet, die Bach bis zur höchsten Perfektion betrieb.

Nacho Duato ist ein Meister des Subtilen.

Lucio Vidal und Cécile Kaltenbach beim Schlussapplaus in der Komischen Oper Berlin, nach „Vielfältigkeit. Formen von Stille und Leere“ von Nacho Duato. Foto: Gisela Sonnenburg

Cécile Kaltenbach und Lucio Vidal eröffnen mit einem gedankenvollen Stück zu zweit, dem „Contrapunctus 3“ aus Bachs „Kunst der Fuge“, das sie voll Wehmut und dennoch auch Dynamik tanzen.

Arshak Ghalumyan steht dazu links am Bühnenrand, im Profil zu uns, und er schaut, wie wir, zu – gleichermaßen auf die Achsen der Bühne durch seinen Standpunkt aufmerksam machend. Tatsächlich wird die Diagonale, die von rechts hinten bis links vorne (zu Ghalumyans Standort) führt, im Laufe des Abends noch eine wichtige Rolle spielen.

Als die Orgel mit der Toccata d-moll einsetzt, füllt sich die Bühne wieder mit rein männlicher Kraft. In langen dunklen Mantelkleidern, mit Schlitz und leuchtend buntem Futter, sind diese Jungs fast futuristische Wesen, sie verkörpern das Edle und das Schöne, aber auch die Beharrlichkeit und Strenge, mit der sie ihre Tänze vollführen.

Manchmal knien sie auf originelle Art in einer Art Ausfallschritt, während die Musik weiter läuft. Oft aber drehen und wenden sie sich auf den Taktschlag genau, beugen und heben die Oberkörper, die Arme, die Beine nachgerade musikmalerisch.

Nacho Duato ist ein Meister des Subtilen.

Applaus! Das Staatsballett Berlin nach „Vielfältigkeit. Formen von Stille und Leere“ am 22. Januar 2016 in der Komischen Oper Berlin. Foto: Gisela Sonnenburg

Es ist ja kein Zufall, dass Duato als besonders musikalisch unter allen Choreografen gilt, sagt er doch selbst von sich: „Alle meine Inspirationen kommen aus der Musik.“ Das ist ein Bekenntnis, das gerade in diesem Ballett immer wieder bewiesen und untermauert wird.

Einmal bilden die Tänzer der Toccata denn auch eine Sänfte, sie tragen den im Liegen sich sträubenden Arshak Ghalumyan über eine Bühnenlänge und sanft gleitet er herab. Spätestens jetzt stellt er eine Art spirituelles Ego von Bach dar – darum schaute er zuvor auch vom Seitenrand aus zu.

Es ist ein Strom aus Energie, der die Gruppe verbindet, und erst, als sie eine Reihe bilden, erhält das etwas leicht Mechanisches, Militärisches, etwas, das in Bachs Musik mitunter vorkommt und an das Räderwerk von Spieluhren erinnert. Und genau so löst sich die Reihe auch zu zwei Reihen auf, während einzelne sich lossagen und solistisch agieren – spielerisch, selbst wenn die Form etwas anders nahelegt.

Der rauschenden Toccata folgt die zarte Sechste Sonate für Orgel (2. Satz): Sie ist den Damen zugeeignet. Zuerst sind es nur zwei, die neben- und miteinander tanzen, dann vier, dann schließlich sind es sieben schöne junge Frauen, die ihre Hände vor sich zur Gebetshaltung schließen, die Oberkörper senkend, die sich drehen und scheinbar wie in einem Experiment solchermaßen meditieren.

Nacho Duato ist ein Meister des Subtilen.

Die jungen Frauen spielen mit ihrem Kostüm, dienen aber vor allem auch der Musik: Das Staatsballett Berlin in „Vielfältigkeit. Formen von Stille und Leere“ von Nacho Duato. Foto: Fernando Marcos

Vorher spielten sie mit ihren durchsichtigen Röcken, hielten sie sich wie einen Schleier vors Gesicht, und dann ragte da auch noch ein zuckendes Bein vom Boden auf, wie ein einsamer Tanzpartner, der sein Pendant sucht.

Eine andere Tänzerin griff diese Energie auf, beide Frauen kamen zum Stehen beieinander – und begannen das Gebetsspiel.

All das hat so viel feminine Atmosphäre, dass man fast auf eine weibliche Choreografin tippen würde. Aber das ist ja eine Eigenart von Tanz als Kunstsparte: Die Geschlechter lassen sich besser wechseln darin als irgendwo sonst.

Alexej Orlenco als Bach kommt jetzt wieder auf die Bühne, tanzt erneut mit Guiliana Bottino, die jetzt aber nicht sein Cello ist, sondern als Tänzerin seine Gedanken verkörpert. Und während sie den raschen Läufen der Musik, des Choral-Vorspiels „Mach’s mit mir Gott, nach deiner Güt“ (von Joseph Payne an der Orgel wunderbar filigran gespielt), nachfolgt, bleibt er, Bach, wie ein Fels in der Brandung: ruhig und sicher. Immer wieder fängt er seinen imaginierten Wildfang ein, wie man eine Idee festhält, bevor sie sich verflüchtigt. Wunderschön anzusehen!

Nacho Duato ist ein Meister des Subtilen.

Johann Sebastian Bach im Ballett, mit Muse. Hier die Berliner Premierenbesetzung mit Michael Banzhaf und Polina Semionova in „Vielfältigkeit. Formen von Stille und Leere“ von Nacho Duato. Foto: Fernando Marcos

Mit Krasina Pavolva und ihrem Masken-Outfit ergibt sich dann ein Pas de trois, zum Adagio assai aus der Kantate BWV 21. Bach und die beiden Frauen, seine beiden Musen, so vereint zu sehen, beglückt – es ist ein fast demokratischer Ringelreih’. Bis Bach seine Cello-Muse, Guiliana Bottino, zur Ruhe legt, die Maskenträgerin sich aber partout nicht beruhigen lässt. Sie wird, das klingt hier schon an, bald Bachs Todesengel sein.

So sitzt der Meister hinten rechts, trauernd, den Kopf auf die Hand gestützt, ratlos, alternd, erblindend. Ein sich drehendes schwarzes Banner symbolisiert seine schwindende Vitalität.

Die Arie „Seufzen, Tränen“ untermalt dann einen Paartanz von Aurora Dickie und Rishat Yulbarisov, der auf ihren großen Pas de deux im ersten Teil geheimnisvollen Bezug nimmt. Bei der Premiere tanzte Elisa Carrillo Cabrera mit Rishat, da gab es weniger dunkle Töne als vielmehr eingängige Harmonie. Jetzt mischt sich, dank Dickies Androgynität, etwas Widerspenstiges mit dazu, das der melancholischen Stimmung einen Hauch Revoluzzertum verleiht. Das zarte Adagio von einst wandelt sich hier zu einer mysteriös-traurigen Grundhaltung, der Hoffnung entspringt, solange Menschen nur tanzen.

Es ist ja wissenschaftlich bewiesen, dass schon die Hominiden tanzten, um das Glücksgefühl beim Einklang mit der Musik zu genießen und daraus Kraft zu schöpfen. Der Stresshormon-Pegel im Blut sinkt, Endorphine fluten das Gehirn – Ruhe und Erhabenheit, aber auch Ausgelassenheit und Stolz teilen sich durch Tanz en passant mit.

„Die Kunst der Fuge“ in „Formen von Stille und Leere“ zeigt das noch einmal, wenn zum „Contrapunctus 1“ das Ensemble sich langsam in den Serpentinenwegen am Bühnenhorizont bergauf bewegt.

Nacho Duato ist ein Meister des Subtilen.

In Serpentinen bewegen sie sich aufwärts – symbolhaft das Staatsballett Berlin in Nacho Duatos „Formen von Stille und Leere“ in der Komischen Oper Berlin. Foto: Fernando Marcos

Dort wird dann auch kollektiv gelitten, gezappelt, getrotzt – und mit einem Schlag in einer Frozen position verharrt. Um wieder körperlich zu stammeln – und dann schlagartig zu verstummen. Kontrollverlust liegt in der Luft.

Am Ende kommt, unvermeidlich, der Todesengel mit Maske, Krasina Pavlova.

Mit einem Ruck holt Pavlova die schwarze, sich drehende Flagge ein wie ein Lebensbanner – Bach ist tot. Aufgebahrt auf der Liege, auf der er zuvor so traurig-gedankenverloren saß.

Die Totenwache hält seine Muse, die Frau mit Maske, sachte, magisch, unaufdringlich, ganz ohne Heuchelei: eine Todesbotin der Postmoderne.

Schlussendlich schreitet sie die Bühnendiagonale ab, von hinten rechts nach vorne links. Tod und Leben sind ihr Terrain, und auf einmal verkörpert sie nicht nur die Muse von Bach, sondern auch die Musik oder die Kunst an sich. O musica – nur du bist unsterblich!

Dazu ertönt noch einmal, wie schon zu Beginn des Stücks, Glenn Goulds Interpretation der „Aria da capo“. Das Klavier bleibt im Gedächtnis. Denn ohne Rhythmus ist nichts in dieser Welt.
Gisela Sonnenburg

Zum Premierenbericht geht es bitte hier:

www.ballett-journal.de/staatsballett-berlin-vielfaeltigkeit/

www.staatsballett-berlin.de

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